Traumatisches Erbe

Solange wir die Augen gegenüber dem erfahrenen Leid unserer Vorfahren verschließen, tragen wir dieses Päckchen mit uns herum.

Wir Menschen erben nicht nur Habseligkeiten und Vermögenswerte. Auch die Erfahrungen, die unsere Vorfahren durchgemacht haben, leben epigenetisch in uns weiter — wenn auch unterbewusst. Zur Bewusstwerdung bedarf es eines transgenerationalen Dialogs über das erfahrene Leid. Mit wachsender Klarheit über die Tragödien der Vorfahren vermögen es die Nachfolge-Generationen immer besser, aus den Traumamustern auszubrechen. Insbesondere die deutsche Bevölkerung hat diesen Bewusstwerdungsprozess dringend nötig. Ein Beitrag zum „Alt und Jung“-Spezial.

Für das Verständnis der eigenen Herkunft und Existenz sind die von Eltern und Großeltern überlieferten Geschichten logischerweise von großer Wichtigkeit. Leider versiegt diese Informationsquelle heutzutage zunehmend in den digitalen Informationswüsten. Viele Ältere sind zu bequem, von ihren Erfahrungen zu berichten, und die meisten Jüngeren finden die „Insta-Stories“ professioneller Social Media-Aufmerksamkeitsdiebe unterhaltsamer. Umso lobenswerter der Versuch, sich eine Geschichte aus der Familiensaga vorzunehmen.

Je älter der Zuhörer, desto ernsthafter darf der vorgetragene Inhalt sein. Vielleicht dreht es sich dabei dann um einen folgenschweren Autounfall, eine brutale körperliche Auseinandersetzung, Geschichten aus der surrealen Coronazeit, eine psychische Krise oder aber den leichtsinnigen Einbruch in eine Schnapsfabrik als Jugendlicher.

Es können natürlich auch die Geschichten der eigenen Eltern oder Großeltern sein. Aus heutiger Sicht unbegreiflich, wie sie in letzter Sekunde im eisigen Winter 1944/45 in Planwagenkutschen vor der russischen Armee flohen. Eine sich vorübergehend außer Haus befindliche, hochschwangere Familienangehörige fand bei ihrer Rückkehr den Hof verlassen vor und musste alleine fliehen. Ihr Ehemann fiel zeitgleich an der zusammenbrechenden Ostfront als junger Soldat, konnte nie beerdigt werden und lernte den im März 1945 geborenen Sohn nie kennen. Der sechs Jahre jüngere Halbbruder dieses Sohnes wurde klammheimlich zur Adoption freigegeben, wie sich über fünfzig Jahre später herausstellte. Die Tante kehrte ein halbes Jahr nach Kriegsende psychisch und physisch schwer erkrankt zur Familie zurück, wo sie kurz darauf verstarb. Ob durch Typhus oder doch Selbstmord blieb ein familiäres Tabu. Dem Sohn dieser Tante wiederum wurde in der sozialistischen DDR ein Studium untersagt, obwohl Kompetenz und Wille bei ihm mehr als ausreichend vorhanden waren.

Neben Diktatur- und Kriegsleid ging es in den Berichten der betroffenen Generationen auch um die schockierende Erfahrung, im Zuge einer Währungsreform alle Ersparnisse zu verlieren und finanziell wieder ganz bei null anfangen zu müssen.

Was machen diese — typisch deutschen — Geschichten mit Erzähler und Zuhörer gleichermaßen? Sie erzeugen in beiden den unauslöschlichen Wunsch, vergleichbare Schrecken in Zukunft nicht erleben zu müssen, sondern weiter ein Leben in Frieden, Freiheit und sicherem Wohlstand verbringen zu wollen.

Hierfür sind Fleiß, Talent, Kompetenz und Disziplin entscheidende Voraussetzungen; ebenso wie gesellschaftliche Teilhabe und mutiger Widerstand gegen Machtbesessenheit, Kriegssucht und Planwirtschaftsideologie eines immerfort zu bürgerfeindlicher Übergriffigkeit neigenden Staates.

Die Älteren in der Familie sollten es also stets als eine unbedingte Bringschuld verstehen, den eigenen Nachkommen die traumatischen Geschichten und Erfahrungen der Familie mit auf ihren hoffentlich unbeschwerten Lebensweg zu geben.

Letztlich bringt es der Journalist Sven-Felix Kellerhoff, der laut aktuellen Forschungen 55 Millionen Verstorbene im Zweiten Weltkrieg für wahrscheinlich hält und dabei viele Ungenauigkeiten aufzeigt (1), auf den Punkt:

„Grauen bleibt unverständlich, wenn es um Hunderttausende, gar um Millionen Tote geht. Konkret, ja greifbar sind ausschließlich Einzelschicksale, zumal alle Summen stets nur Annäherungswerte sind.“