Toxischer Spott

Übereinander zu lästern ist ein gefährlicheres Virus als Corona, denn es erschüttert die Grundvoraussetzungen für ein respektvolles Miteinander.

Wer sich nicht traut, mit jemandem zu reden, redet über ihn. Es gibt eine weit verbreitete Art der Kommunikation, die das gesellschaftliche Zusammensein infizieren und auf lange Sicht erheblich schädigen kann. Sie ist gefährlicher als Long Covid und war bereits vor Corona ein fester Bestandteil des Alltags. Vielen Menschen ist jedoch nicht klar, wie toxisch sie ist. Sie untergräbt Vertrauen, schürt Misstrauen und führt langfristig den Zerfall einer Gemeinschaft herbei. Sie verbreitet sich schnell, und nur wenige Menschen besitzen eine robuste Grundimmunität gegen dieses Virus. Genauso wie SARS-CoV-2 wird sie fast immer symptomatisch übertragen: Die Rede ist vom Lästern.

Wie fast alle gesellschaftlichen Missstände wurde auch die Angewohnheit über andere zu reden in den vergangenen 18 Monaten schonungslos offengelegt. Egal ob am Arbeitsplatz, auf der Familienfeier oder im Freundeskreis, es wird überall und ständig über andere geredet. Dank der sozialen Netzwerke und teilweise tendenziöser Pressearbeit passiert das nicht nur hinterm Rücken der anderen Person, sondern teilweise öffentlich. Beim klassischen Lästern bekommt der Betroffene nicht mit, dass über ihn gesprochen wird. Beim medialen Lästern wird ganz öffentlich schlecht über andere geredet, ohne diese zu befragen oder das Gespräch mit ihnen zu suchen. So wird das über andere Reden salonfähig und normal. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Dialogverweigerung erschüttern die Grundvoraussetzungen für ein respektvolles und würdevolles Miteinander.

Begeben wir uns auf eine Spurensuche nach den Gründen und Konsequenzen des Lästerns und beginnen mit einer Geschichte, die aufzeigt, wie weitreichend die Auswirkungen des Lästerns sein können.

„Vor langer, langer Zeit lebte ein Paar etwas abseits von einem Dorf an einem Fluss. Sie waren glücklich und es dauerte nicht lange, bis sie sich dazu entschieden ein Kind zu zeugen. In froher Erwartung auf den Nachwuchs lebten sie ein gutes Leben. Sie sammelten Beeren, Kräuter und Wurzeln, fischten im Bach und stellten Körbe und Kleidung her. Dann eines Tages war es so weit und sie durften ihren Sohn in dieser Welt empfangen. Sie lebten zu dritt in ihrer Hütte, am Rande des Dorfes. Der Sohn wuchs heran und fing bald an zu laufen. Eines Tages bekamen die drei überraschenden Besuch. Eine Gruppe von Leuten eines anderen ‚Clans‘. kam und überbrachte die Botschaft, dass einer ihrer Jäger gestorben sei und seine Frau eine entfernte Verwandte der neu gebackenen Mutter ist. Die Witwe bat darum, von nun am mit der Familie leben zu können. Das Paar beriet sich und lud die Witwe ein, mit ihnen zusammen die ‚Hütte zu teilen‘.

Sie lebten vorerst glücklich zusammen und es gab nun mehr Hände, um das Kind zu betreuen und den Lebensunterhalt zu besorgen. Ganz langsam jedoch spürte die Witwe ein Gefühl in ihr aufsteigen, wenn sie die glückliche Familie manchmal dabei beobachtete, wie sie allein am Fluss saß oder wenn sie gemeinsam im Bett beieinander schliefen. Immer wenn sie nicht dabei sein konnte, spürte sie dieses Gefühl.

Hin und wieder ging die Witwe ins Dorf und traf andere Leute. Dabei trug sie von nun an das angerührte Gefühl mit sich und hin und wieder fing sie an schlecht über die Familie zu sprechen. Der Mann sei manchmal zu faul und die Frau nicht sehr ordentlich. Hier und da ließ sie ihren Ärger raus, in dem sie Dinge erzählte, die ein schlechtes Licht auf das Paar warfen. Manchmal lästerte sie auch mit dem Mann oder der Frau, wenn einer von beiden abwesend war. Es gab auch andere Menschen im Dorf, die emotionalen Ballast mit sich herum trugen und diesen loswerden wollten, und so kamen sie zur Witwe und redeten mit ihr über andere Leute im Dorf.“

Oftmals sind angerührte Gefühle der Beginn des Lästerns. Unangenehme und tabuisierte Gefühle wie Wut, Neid, Ärger, Hass oder Traurigkeit werden gerne unterdrückt. Besonders tabuisiert ist der Ausdruck der Gefühle im Beisein der Person, die es betrifft. Da die Gefühle jedoch nicht einfach verschwinden und ausgedrückt werden wollen, ist es leichter, diese mit anderen zu besprechen. Hier nun beginnt die Pandemie des Lästerns bei Patient 0 und verbreitet sich schnell im Dorf. Zurück zur Geschichte:

„Es vergingen Wochen und Monate und das Gefühl kam und ging. Stück für Stück erhöhte sich der emotionale Druck in ihr. Wellenartig verlief die Lästerepidemie und in Hochzeiten wurde das Lästern stärker. Eines Tages dann ging das Paar spazieren und die Witwe betreute den Sohn. Dieser war immer noch dabei, das Laufen zu lernen. Sie spielten am schnell strömenden Fluss und erkundeten die nassen Steine.

Dann ganz plötzlich rutschte das kleine Kind aus und fiel in den Fluss. Nur für einen Bruchteil einer Sekunde war die Witwe innerlich befangen und vernebelt, da sie voll emotionalem Ballast war. Dieser Bruchteil reichte aus, sodass sie den Sohn nicht mehr zu greifen bekam und er im Fluss ertrank. Es folgten tiefe Trauer und unendliche Traurigkeit der Eltern und der Witwe. Die Witwe erkannte, dass ihre aufgestauten Gefühle sie benebelt hatten und sie deshalb nicht schnell genug handeln konnte. Sie suchte Rat bei einem Ältesten und besucht diesen auf einem nahe gelegenen Hügel. Der Älteste lauschte der Geschichte der Witwe und brachte ihr Verständnis entgegen. Er riet ihr, einen Korb voll Federn zu sammeln und morgen mit diesem wieder zu ihm zu kommen.“

Bevor die Geschichte endet und die verheerenden gesellschaftlichen Konsequenzen des Lästerns verdeutlicht werden, möchte ich ein wenig mehr auf das Lästern zu sprechen kommen. Wir kotzen uns gerne bei anderen über andere aus, weil es unerträglich ist, die aufgestauten Gefühle in uns zu behalten. Eigentlich eine Art Psychohygiene, die uns guttut. Aufgestaute Gefühle machen langfristig krank und da wir darum wissen, wollen wir diese zum Ausdruck bringen.

Problematisch ist dabei, dass wir uns mit unseren Gefühlen, unserem Ärger oder unserer Meinung nicht direkt der Person zuwenden, die es betrifft.

Weil wir Konflikte vermeiden wollen und es beängstigend ist, den eigenen Frust ganz direkt mit der Person zur Sprache zu bringen, um die es geht, nehmen wir eine Umleitung und wenden uns dem Lästern zu.

Mögliche Gründe für diese indirekte Kommunikation sind vielfältig. Vielleicht fällt es uns schwer, Ärger oder Frust respektvoll gegenüber den vermeintlichen Verursachern dieses Gefühls auszudrücken und es besteht die Gefahr den anderen deshalb zu verletzen. Möglicherweise haben wir bereits so viel Argwohn aufgebaut, dass wir die andere Person nicht mehr als Mensch wahrnehmen können und eine direkte Kommunikation bereits unmöglich erscheint. Möglicherweise scheuen wir einfach die Auseinandersetzung mit dem anderen, da auch er oder sie aufgestauten Ärger gegenüber uns haben könnte. Und es könnte sein, dass sich die andere Person von dieser direkten Art der Kommunikation verletzt fühlt.

Lästern hat neben der Funktion des Dampfablassens noch einige andere Vorteile. Es schafft kurzfristige emotionale Nähe mit der Person, mit der gelästert wird. Es entsteht ein kurzer Augenblick der Zugehörigkeit im gemeinsamen schlecht über andere reden. Außerdem ist es leichter, über andere zu reden, als über sich. Ein weitverbreitetes Phänomen ist sich frivol über die Unzulänglichkeiten und Fehler anderer Menschen zu beklagen, um von eigenen Missständen abzulenken.

Oftmals findet Lästern auch dann statt, wenn ein Augenblick der Leere in einem Gespräch entsteht und diese unangenehm ist. Frei nach dem Motto: Wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt, reden wir halt über andere!

Über andere zu reden scheint unverfänglich und doch bezahlen alle Involvierten einen hohen Preis dafür. Wie oben beschrieben, verbreitet sich ein Feld des Misstrauens und der Angst in einer Gemeinschaft, in der hinterm Rücken über andere geredet wird.

Es ist respektlos gegenüber der Person, über die gesprochen wird, und untergräbt eine Kultur der respektvollen Kommunikation. Wenn zwei Personen über eine dritte Person gelästert haben, erschafft das für einen kurzen Augenblick Nähe und Vertrauen. Gleichzeitig wissen jedoch beide, dass die andere Person höchst wahrscheinlich mit anderen ebenfalls lästert. So entstehen tiefes Misstrauen und eine starke Unsicherheit.

Zurück zu unserer Geschichte.

„Die Witwe sammelt, wie vom Ältesten empfohlen, einen Korb voller Federn und kommt am nächsten Tag zurück zu ihm auf den Hügel. Der Älteste stellt ihr folgende Aufgabe: ‚Stelle dich mit deinem Korb in den Wind auf die Spitze des Hügels und lasse den Wind die Federn ins Land tragen. Dann gehe los und sammle alle Federn wieder ein. Wenn du das geschafft hast, kommst du zurück zu mir.‘ Nach vielen Tagen und mit blutigen Füßen kommt sie verzweifelt wieder. Sie hat nur einen kleinen Teil der Federn finden können und erkannt, dass der Virus des Lästerns sich wie die Federn im Wind unwiederbringlich ausbreitet. Genauso wie ein Virus sich nicht eindämmen lässt, so lassen sich die giftigen Federn des Lästerns nie wieder ganz zurückbringen.“

Der PCR-Test des Lästerns?

Das ist keine Analyse der „Anderen”, sondern jeder hat mehr oder weniger die Tendenz über andere zu reden. Wenn wir uns der schädigenden Wirkung des Lästerns bewusst geworden sind und erkannt haben, dass wir selber lästern, um Frust loszuwerden, können wir bei uns selber anfangen, Lästern zu erkennen. Hier folgt der PCR-Test für das Lästervirus. Er enthält folgende Primer (1):

  • Die Person, über die gesprochen wird. ist nicht anwesend.
  • Das Thema, über das gesprochen wird, wurde mit der Person noch nicht besprochen.
  • Die Diskussion ist unnötig.
  • Es handelt sich um ein Urteil oder Hörensagen.
  • Es ist verletzend oder abwertend.

Ab wann der Eindruck entsteht, etwas wäre ein Urteil oder unnötig, kann nur ganz persönlich entschieden werden. Jedoch gibt es ein weiteres Symptom, mit dem sich Lästern erkennen lässt: das Bauchgefühl. Normalerweise meldet sich unser Bauchgefühl, wenn wir lästern oder wenn mit uns über andere gelästert wird. Es ist spürbar, dass etwas mit dieser Art der Kommunikation nicht ganz stimmt. Unser Empathiezentrum weiß oftmals ziemlich genau, wann gelästert wird. Meistens wird das Gefühl jedoch übergangen. Deshalb ist empfehlenswert, in Gesprächen immer wieder auf das Bauchgefühl zu hören und den Mut zu haben, diesem zu trauen. Es kann und wird Mut brauchen daraufhin Gespräche zu unterbrechen oder das Unwohlsein auszusprechen. Das ist aber der erste Schritt, um eine gesunde Immunabwehr zu entwickeln.

Direkte Kommunikation

Das Lästern lässt sich nicht ausrotten oder wegimpfen. Ein gangbarer Weg ist die Entwicklung eines Immunsystems, welches Lästern schnell erkennt und dann adäquat reagiert. Auf der einen Seite bedeutet es, sich verantwortungsvoll um den eigenen emotionalen Haushalt zu kümmern und diesen aufzuräumen, in dem Konflikte, Frust, Ärger und Meinungen direkt mit den betroffenen Personen angesprochen werden. Diese scheinbar so einfache Immunantwort ist denkbar schwer und höchst ungewohnt. Das direkte und ehrliche Gespräch schafft jedoch Vertrauen und würdigt und respektiert das Gegenüber in hohem Maße. Es schafft ein Beispiel für vertrauensvollen Umgang und inspiriert andere, auch so zu handeln. Ein direkt gelöster Konflikt hinterlässt ein wunderbares Gefühl der Freiheit und Verbundenheit.

Auf der anderen Seite braucht es den Mut nicht als Lästerpartner zur Verfügung zu stehen. Wenn jemand seinen emotionalen Ballast per Lästervirus verbreiten will, ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass das zwar verständlich ist, aber nicht sehr vertrauensfördernd.

Eine Möglichkeit besteht darin, dem Gegenüber mitzuteilen, lieber nicht über andere zu sprechen. Manchmal kann es auch helfen, wenn der Lästernde sich äußern darf unter der Voraussetzung, dass er sein Anliegen danach direkt zur betreffenden Person bringt. Erkennungsmerkmale von direkter Kommunikation sind (2):

  • Die Person, über die gesprochen wird, ist anwesend.
  • Das Thema wurde mit der Person schon gesprochen.
  • Die Diskussion ist notwendig.
  • Es ist ein Fakt.
  • Es ist hilfreich.

Es erscheint mir von großem Wert für ein friedvolles und respektvolles Miteinander, wenn wir es schaffen, uns gegenseitig direkt mitzuteilen, was uns bewegt. Die eigene Wahrheit gegenüber anderen auszusprechen, ist ein Geschenk und ein Zeichen des Vertrauens. Es ist der Versuch, wahrhaftig miteinander in Beziehung zu sein. Manchmal ist die Wahrheit schwer auszuhalten, und es scheint leichter sie zurückzuhalten oder den Umweg des Lästerns zu gehen. Meiner Erfahrung nach sind die Kosten für den Umweg um ein Vielfaches höher. Deshalb schlage ich vor, mit den Menschen, mit denen sie wahrhaftig in Beziehung sein wollen, ein Angebot zu machen. Einigen sich doch darauf den ihnen bestmöglichen Versuch zu starten Dinge direkt miteinander zu besprechen. Mithilfe einer solchen Vereinbarung fällt es leichter, diese Herausforderung anzunehmen, denn:

„Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat.” ― Rosa Luxemburg.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Tamarack Song: Sacred speech ― The way of truthspeaking, Snow Wolf Publishing, 2004. Link: https://ecovillage.org/wp-content/uploads/woocommerce_uploads/2015/09/Tamarack-Song-Sacred-Speech-The-Way-of-Truthspeaking.pdf.
(2) Tamarack Song: Sacred speech ― The way of truthspeaking, Snow Wolf Publishing, 2004.