Tödliche Kugeln
Chiles Präsident Gabriel Boric verhängte nach nicht allzu langem Zögern den Ausnahmezustand in der Konflikt-Region Araukanien.
Unser reichlicher Genuss von Hustenbonbons hat seinen Preis. In Chile werden zum Zweck der kommerziellen Ausbeutung hektarweise gesunde Ökosysteme abgebaut und durch Eukalyptus- oder auch Fichten-Monokulturen ersetzt. Die indigenen Ureinwohner begehren dagegen auf. Sie sehen nicht nur ihre Lebensgrundlagen bedroht, ihr traditionelles Selbstverständnis ist auch, dass sie sich als Hüter des Waldes und aller seiner Lebewesen fühlen. Gegen die Ausbeuter des Waldes gingen manche der Mapuche auch mit Gewalt und Sabotageakten vor. Nun schlug der chilenische Staat zurück und verhängte den Ausnahmezustand, was mit drastischen Einschränkungen der Bürgerrechte verbunden ist.
Am 24. Mai 2022 um 16:08 Uhr starb im Hospital von Temuco der Forstarbeiter Juan Segundo Catril Neculqueo, Angehöriger der indigenen Minderheit der Mapuche in der chilenischen Region Araukanien, mit 66 Jahren durch einen Kopfschuss. Ermordet von einer Bande von Vermummten, die einem Autobus von Waldarbeitern aufgelauert hatten.
Die Tat wurde frühmorgens an einem Dienstag verübt, als eine Gruppe von Arbeitern des Forstbetriebes Mininco — überwiegend indigener Abkunft, Nachbarn aus Dörfern der Umgebung — in einem Autobus im Sektor Los Laureles nahe der Ortschaft Relún unterwegs waren. Das Fahrzeug wurde plötzlich von einer Gruppe Unbekannter angegriffen und beschossen.
Neben dem bereits erwähnten Todesopfer gab es noch zwei weitere Personen mit Schussverletzungen. Alle Verwundeten wurden mit einem Helikopter in das Spital von Temuo verbracht. Die Munition, mit der „Don Segundo“ niedergestreckt wurde, stammte aus einer Kriegswaffe. Zur gleichen Zeit hatte in der benachbarten Region BíoBío, etwa 98 Kilometer in nördlicher Richtung davon entfernt, eine Gruppe von rund 70 Vermummten einen Polizeiposten angegriffen.
Die Staatsanwaltschaft der „Hohen Komplexität von Araukanien“ leitete umgehend eine Untersuchung des Verbrechens ein, eine Spezialbrigade der Kriminalpolizei, die Spurensicherung des kriminalistischen Labors, führten erste Ermittlungen durch, um die unbekannten Täter zu fassen, denen die Regierung am selben Nachmittag einen Kriminalprozess ankündigte.
Chile ist eben ein Land, wo man mit 66 Jahren noch arbeiten muss, solange man durchhält, weil die durchschnittlichen Renten der privaten Pensionsversicherung AFP so miserabel sind, dass sie nicht annähernd zum Leben ausreichen.
Mit einem geringen Eigenkapital von 8 Prozent spekuliert die AFP auf internationalen Aktienmärkten, die Börsenverluste jedoch tragen die Versicherten.
Juan Catril Neculqueo war einer von fünfundzwanzig Arbeitern aus umliegenden Gemeinden der Mapuche, deren Aufgabe darin bestand, junge Bäume für das Forstunternehmen zu pflanzen. Er war verheiratet und hinterließ vier Kinder. Beschäftigt wurden die Anwohner von der Leiharbeiter-Firma Santos Reinao Millahual SpA für das Forstunternehmen Mininco, einer Holding (CMPC), die 1920 gegründet wurde, im Eigentum von Eliodoro Matte, der allerdings die Leitung des Unternehmens aufgrund einer Anklage wegen Preisabsprachen im Jahr 2016 zurückgelegt hatte. Mattes Vermögen beläuft sich offiziell auf 2,5 Milliarden US-Dollar.
Monokulturen statt Urwald
Nur zwei Familien, Angelini und Matte, besitzen nahezu den gesamten Waldbestand in Chile. Seit dem neunzehnten Jahrhundert verwandeln diese zwei Familien schier unaufhaltsam Urwälder in Monokulturen teils aus Fichtenholz oder aromatischem Eukalyptus. Extrakte des chilenischen Eukalyptus stecken heutzutage in fast jedem Hustenbonbon in Europa und in Nordamerika.
Die letzten 15 Prozent Urwaldes befinden sich auf dem angestammten Siedlungsgebiet der indigenen Minderheit der Mapuche, die ihrerseits von Forstunternehmen Gebiete zurückfordern, die ihnen im neunzehnten Jahrhundert vom chilenischen Staat entrissen wurden. Wir befinden uns hier im sogenannten Mapuche-Konflikt, von dem ich in meinem letzten Bericht erzählte.
Zugleich betrachten sich Mapuche als rechtmäßige Beschützer der von kapitalistischer Ausbeutung bedrohten Urwaldbestände im Interesse der gesamten Menschheitsfamilie. Ihre Aktivisten leisten massiven Widerstand dagegen, schlagen sich mit der Militärpolizei herum, sabotieren Maschinen der Forstunternehmen und verteidigen ihren Lebensraum mit kühner Entschlossenheit.
Nun hatte Héctor Llaitul, der Anführer der „Coordinadora Arauco Malleco“ (CAM), der örtlichen Bewegung von Mapuche-Aktivisten, am 16. Mai 2022 zum bewaffneten Widerstand aufgerufen, worauf ihm die links-sozialistische Regierung ein Strafverfahren angedroht hatte.
Der Häuptling (Lonko) Llaitul sagte damals:
„Es kommt der Staat dazwischen, der nichts anderes ist als ein neuer Ausnahmestand. Das heißt, die Sbirren des Militärs neuerlich ausgebreitet in Wallmapu [dem Land der Mapuche], die Interessen des Kapitals zu schützen. Unter dem Ausdruck inmitten der Militärdiktatur haben die Mapuche immer gelitten, eine Diktatur, die heute von der Lakaienregierung Boric ausgeübt wird. Auf, dass wir unsere Kräfte vorbereiten, um den bewaffneten Widerstand für die Autonomie zu organisieren.“
Diese Worte kamen in der Hauptstadt Santiago nicht gut an, sie brachten ihm eine Anzeige seitens der Sozial- und Familienministerin ein.
Zugleich forderten die rechts-konservativen Interessensvertreter der Forstbetriebe tatsächlich die neuerliche Verhängung des Ausnahmezustands in der Region Araukanien, und zur Bekräftigung dessen hatten sie einen Lastwagenfahrerstreik organisiert, wie ich schon berichtete.
Da der Einsatz des Militärs in dieser Zone noch in jüngster Vergangenheit zu einem regelrechten Willkür-Regime geführt hatte, war es die erste Regierungshandlung des Präsidenten Gabriel Boric gewesen, den von der Vorgänger-Regierung verhängten Ausnahmezustand aufzuheben. Endlich, am 17. Mai 2022, wenige Tage vor dem jüngsten Anschlag, war Präsident Boric eingeknickt und verhängte neuerlich den Ausnahmezustand in Araukanien. Aufgehoben sind auf dieser Basis wesentliche Freiheiten wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht.
Das oberste Kommando über diese Region obliegt nunmehr den Militärbehörden. Für diesen Schritt wurde der links-sozialistische Präsident Boric nur von wenigen Abgeordneten kritisiert.
Der Senator Francisco Huenchumilla merkte dazu an:
„Niemand leugnet die Akte der Gewalt, aber zu denken, dass nur wieder die Gewalt eine Lösung bringe, ist dasselbe, was die Rechten predigten.“
Im Fernsehen zeigte man Bilder einer Panzerkolonne, die in der sogenannten „Makro-Zone Süd“ einrückte. Mit forschen Gesichtern ragten Soldaten aus den Einstiegsluken empor oder sie stapften neben ihren Panzern umher und führten Fahrzeugkontrollen an einer Landstraße durch.
Der ermordete Forstarbeiter Juan Segundo Catril war schon das siebte Opfer des Mapuche-Konflikts allein im laufenden Jahr. Erst am 6. Mai war ein Forstarbeiter, Manuel Huenupil Antileo, ebenfalls Mapuche, ums Leben gekommen. Auf dem gemeinsamen Heimweg mit anderen Kollegen erhielt er auf dem Gelände einer Hacienda einen tödlichen Schuss in den Rücken.
Nach Angaben seitens der Familie und Freunden wird eine umherziehende Bande der Tat beschuldigt, die als terroristisch eingestuft wird und den indigenen Namen „Weichan Auka Mapu“ (WAM) trägt. Das bedeutet aus der Mapudungún-Sprache übersetzt „Kampf des Rebellen-Territoriums“. Ihnen wird eine groß angelegte Reihe von Brandanschlägen in der Zone zur Last gelegt. Angeblich ein radikaler Ableger der erwähnten „Coordinadora Arauco Malleco“ unter der Führung von Héctor Llaitul.
Aus der Sicht der Extremisten müssen die bei Forstbetrieben angestellten Mapuche wohl als Verräter an der Sache erscheinen. Eine solche Motivation wird den mutmaßlichen Tätern unterstellt. Doch nichts ist bewiesen, da die Anschläge stets von Vermummten ausgeführt werden.
Hintergründe der Anschläge
Es stellt sich nämlich unwillkürlich die Frage, wie eine solch hohe Anzahl von Brandanschlägen und anderen Delikten in einer ohnehin schon militarisierten Region geschehen können, ohne dass jemals auch nur einer der Beteiligten identifiziert werden konnte? Da könnte man schon eine stille Übereinkunft von Polizeibehörden und kriminellen Banden mutmaßen.
Es ist aber in hohem Maße unwahrscheinlich, dass Mapuche ihre eigenen Landsleute angegriffen haben sollen. Eher noch wird man die Attentäter im rechtsextremen Milieu suchen müssen.
In ähnlicher Weise äußerte sich auch die indigene Abgeordnete Ericka Ñanco zu dem jüngsten Anschlag auf einen Bus mit Waldarbeitern:
„Unsere Forderungen sind territorial, historisch und kulturell, es sind Klagen, die auf verschiedenste Weise vorgebracht werden, aber nicht so. Deshalb haben sich Organisationen aus der Welt der Mapuche von diesem unsinnigen Akt distanziert, der einen Mordanschlag darstellt, noch dazu an gewöhnlichen Arbeitern, welche dieser Beschäftigung nachgehen, weil sie keine andere Möglichkeit haben, um ihren Haushalt zu erhalten.“
Zwar vertraut die Abgeordnete der Ermittlungsarbeit des öffentlichen Ministeriums, fügte aber hinzu:
„Es würde mich nicht überraschen, wenn innerhalb der kriminellen Gruppen nicht auch Mitglieder der rassistischen Ultra-Rechten zu finden wären, die neben anderen Dingen in jedem Moment versucht haben, die Verhandlungen wie auch den Verfassungskonvent zu boykottieren.“