Technokratischer Frontalangriff

In der Coronakrise wurde die Menschenwürde zur Verfügungsmasse für machtpolitische Gesellschaftsexperimente. Exklusivabdruck aus „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit“.

Wie konnte es dazu kommen? Wie bereits gesagt: Bis zum Jahr 2019 war es Stand der Wissenschaft, Pandemien mit rein medizinischen Mitteln zu bekämpfen. Im Frühjahr 2020 fand ein Paradigmenwechsel statt hin zu einer politischen Bekämpfung des Virusausbruchs durch gesamtgesellschaftliche Zwangsmaßnahmen. Rein wissenschaftshistorisch betrachtet — ohne danach zu fragen, wer recht hat —, wissen wir, dass ein Paradigmenwechsel normalerweise nie über Nacht geschieht. Es findet immer eine innerwissenschaftliche Diskussion statt, in der sich dann schließlich eine Gruppe durchsetzen mag, sodass ein bisheriges Paradigma durch ein neues abgelöst wird. Das ist aber ein Prozess, der Zeit braucht und in dem immer ein intensiver Austausch von verschiedenen Standpunkten und Argumenten stattfindet. Wenn so etwas auf einen Schlag und ohne Diskussion abläuft, dann wissen wir von vornherein, dass es sich um einen politischen und nicht um einen wissenschaftlichen Vorgang handelt. Exklusivabdruck aus „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit: Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können“.

So ist es tatsächlich geschehen: Viele derjenigen, die bis 2019 Koryphäen ihres Faches waren, wurden plötzlich als Scharlatane hingestellt. So erging es zum Beispiel John Ioannidis sowie Jayanta Bhattacharya, Sunetra Gupta und Martin Kulldorff — den Autoren der Great Barrington Declaration — und vielen anderen, die die bisherige, rein medizinische Vorgehensweise fokussiert auf die gefährdeten Personen vertraten. Es gab in der Vergangenheit einzelne Wissenschaftler, die bereits bei früheren Virenausbrüchen wie der Schweinegrippe 2009 Pandemien bisher ungeahnter Größenordnung prognostizierten und politische Maßnahmen forderten. Dazu gehören zum Beispiel Christian Drosten in Deutschland und Neil Ferguson in England. Dass diese Wissenschaftler plötzlich in den Medien als die Vertreter DER Wissenschaft dargestellt wurden, ist kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Vorgang.

Aus politischen Gründen wurden die einzelnen Wissenschaftler, die diesen Strategiewechsel antrieben, von Medien und Politikern so dargestellt, als ob sie den Stand der Wissenschaft repräsentierten und ihre radikalen Vorschläge alternativlos wären. Anderslautende Stimmen wurden durch eine gezielte mediale und politische Kampagne unterdrückt. Ein politisch inszenierter Strategiewechsel innerhalb der Wissenschaft untergräbt offensichtlich die Wissenschaftsfreiheit in massiver Weise, weil er den innerwissenschaftlichen Diskussionsprozess unterdrückt — der durchaus zu einem Strategiewechsel führen kann, aber eben nur als Folge einer intensiven innerwissenschaftlichen Debatte.

Für das, was geschehen ist, gibt es eine naheliegende Erklärung: Prognosen von Katastrophen-Szenarien erregen mehr Aufmerksamkeit als beruhigende Prognosen. Mediale Aufmerksamkeit ist Wissenschaftlern mit ersteren gesichert, aber nicht mit letzteren. In Katastrophen — ob echten oder vermeintlichen — schlägt die Stunde von Politikern, die ihre Macht und ihre Popularität steigern können, indem sie sich als Beschützer der Bevölkerung in Szene setzen können.

Es gibt wirtschaftliche Interessen, die von den — echten oder vermeintlichen — Katastrophen profitieren.

Dieses und Weiteres sind Faktoren, die in — kontingenter, nicht im Voraus geplanter — Weise zu einer Entwicklung führen können, wie wir sie seit dem Frühjahr 2020 erlebt haben. In einer solchen Entwicklung wird dann Wissenschaft politisch instrumentalisiert, um Zwangsmaßnahmen zu legitimieren, die auf dem normalen rechtsstaatlichen Weg nicht legitimiert werden können. Wir haben seit Frühjahr 2020 in den westlichen Demokratien die weitreichendsten Grundrechtseinschränkungen erlebt, die es jemals in Friedenszeiten gegeben hat.

Gehen wir einen Schritt weiter in die philosophische Analyse hinein: Man kann die wissenschaftliche Legitimation politischer Machtansprüche, die durch nichts anderes als die angebliche Wissenschaft selbst begrenzt sind — also zum Beispiel nicht durch Menschenrechte begrenzt sind, die der betreffenden Wissenschaft vorrangig sind —, bis zu Platon zurückverfolgen. In seinem Hauptwerk „Der Staat“ (Politeia) vertritt Platon die Auffassung, dass es eine Erkenntnis gibt, welche die Steuerung der Gesellschaft bis hin zum Leben der einzelnen Menschen ermöglicht und legitimiert. So ist es für Platon auch eine Frage wissenschaftlicher Erkenntnis, wer wen heiraten soll, damit die Gesellschaft optimal fortbesteht; das ist Eugenik. Allgemein gilt für Platon: Diejenigen, welche die Erkenntnis der Ideen haben, sollen im Staat herrschen beziehungsweise die Politik vorgeben.

Für Platon sind die Philosophen diejenigen, welche diese Erkenntnis haben. Gemeint sind damit aber Experten generell. Das können Philosophen, aber auch Theologen oder Wissenschaftler sein. Die Erkenntnis ist die der Idee des Guten. Es handelt sich also um einen Wissensanspruch, der zum einen technisch-naturwissenschaftlicher Art ist, zum anderen moralisch- normativer Art: Er bezieht sich darauf, was das Gute ist. Die platonischen Ideen, die den Dingen Begriffe zuordnen, sind zugleich normativ: Die Idee des Pferdes zum Beispiel ist die Idee eines idealen Pferdes, welche das Pferdsein perfekt darstellt. Die einzelnen Pferde in Fleisch und Blut haben mehr oder weniger an dieser Idee teil. Die Klassifikation von Tatsachen erfolgt also automatisch im Hinblick auf Normen.

Ganz anders verhält es sich mit den neuzeitlichen Naturwissenschaften. Sie geben uns Faktenwissen. Sie sind objektiv: Sie sehen von den Subjekten, welche die Theorie formulieren, und ihren Bewertungen, soweit es geht, ab. Darin liegt ihr Erfolg: Sie geben uns Wissen darüber, wie die Dinge einschließlich unseres Körpers beschaffen sind unabhängig davon, welche Bewertungen wir vornehmen. Damit geben sie uns Wissen an die Hand, das wir dann einsetzen können, um unsere Vorstellungen dessen, was wir verwirklichen wollen, in die Tat umzusetzen. Der technische Fortschritt einschließlich des medizinischen Fortschrittes und mit ihm der wirtschaftliche Fortschritt einschließlich der gewaltigen Verbesserung der Lebensqualität und Lebenserwartung in den letzten zwei Jahrhunderten beruhen auf der Objektivität der Naturwissenschaften, darauf, dass sie Faktenwissen liefern und nicht durch Normen gefilterte Fakten wie in Platons Ideenlehre. Kurz, dieser Fortschritt beruht auf der Freiheit der Wissenschaft — Freiheit von politischer Einflussnahme, moralischen Bewertungen und so weiter.

Mit dem Erfolg der neuzeitlichen Naturwissenschaften in der Aufdeckung von Fakten und mathematischen Naturgesetzen, denen diese Fakten unterliegen, stellt sich die Frage, inwieweit diese Naturwissenschaften auch den Menschen erfassen können und ihre Methoden auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften anwendbar sind. Einerseits unterliegt unser Körper einschließlich unseres Gehirns den physikalischen und den biologischen Naturgesetzen und der Geist ist nicht vom Körper getrennt. Andererseits sind wir in unserem Denken und Handeln frei. Man kommt in den Geistes- und Sozialwissenschaften keinen Schritt weit, wenn man nicht berücksichtigt, wie Personen jeweils die Tatsachen bewerten.

Denn Freiheit ist die „condition humaine“. Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen — und nur für diese — Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Vernunft und Freiheit gehen daher zusammen.

Der Gebrauch von Vernunft besteht darin, sich auf der Grundlage biologischer Gegebenheiten wie Sinneseindrücke, Begierden und Bedürfnisse ein Urteil und einen Willen zu bilden. Wenn man Vernunft gebraucht, ist man frei, weil die biologischen Gegebenheiten das Denken und Handeln nicht vorgeben. Kant drückt dieses so aus:

„Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei, wie wir die Sache daraus beurteilen wollen.“ (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik 1783, § 13, Anmerkung III)

Frei sind wir, weil die Spezies Mensch sich in der Evolution von dem Zwang befreit hat, einer bloßen Reaktion auf Reize unterworfen zu sein. Diese Freiheit, selbst über unser Leben bestimmen zu können, macht unsere Würde aus. Die Ausübung von Freiheit ist die Ausübung von Vernunft, weil sie darin besteht, nach Gründen zu suchen, die gute Gründe für ein Urteil oder eine Handlung sein können.

Über diese Freiheit und die Menschenwürde setzt man sich hinweg, wenn man meint, über ein Wissen, ein Können und eine Berechtigung zu verfügen, das Leben der Menschen technokratisch auf einen Inhalt hin zu steuern.

Das Leben von Menschen ist keine Bahn physikalischer Objekte, die man in Laborexperimenten gemäß bestimmten Parametern steuern kann — zum Beispiel so steuern kann, dass weniger Begegnungen zwischen diesen Objekten stattfinden und damit die Ausbreitung von Viren unter diesen Objekten im Voraus so gesteuert werden kann, dass diese Objekte nicht durch Infektionen zu Schaden kommen.

So ein Unterfangen ist schon naturwissenschaftlich unsinnig, weil wir es nicht mit einem begrenzten Laborexperiment mit physikalischen Objekten unter idealen Bedingungen und wenigen, kontrollierbaren Parametern zu tun haben. Wir haben es vielmehr mit einer Realität zu tun, in welcher der Verlauf einer Virenwelle von vielen, nicht kontrollierbaren Faktoren beeinflusst wird. Das Verhindern von Schäden hängt vor allem davon ab, wie die Menschen ihr Verhalten spontan anpassen gemäß den verfügbaren Informationen. Diese spontane Verhaltensanpassung kann nicht im Voraus geplant werden. Sie hängt davon ab, welchen Lebensinhalt die Menschen haben, wie sie Risiken im Hinblick auf diesen Lebensinhalt abwägen und welche neuen Strategien sie entwickeln.

Es gibt keinen Lebensinhalt, der für alle verbindlich ist und auf den hin Experten unser Leben steuern könnten. Wir haben alle verschiedene Lebensziele und -inhalte und wir wägen die Risiken in unterschiedlicher Weise ab, die wir für unseren Lebensinhalt einzugehen bereit sind. Die neuzeitliche Naturwissenschaft gibt uns Tatsachen, aber keine Normen, wie wir unser Leben gestalten sollen. Wenn man diese Wissenschaft einsetzen will, um das Leben der Menschen technokratisch zu steuern, dann muss man jeweils willkürlich einen Wert absolut setzen, in Hinblick auf den diese Steuerung stattfinden soll.

Es gibt allerdings ein Handlungsmuster:

Gesundheitsschutz und das Schüren von Panik vor großen Übeln waren immer die Mittel, welche die vermeintlich Wissenden eingesetzt haben — die Philosophen, Theologen und Wissenschaftler, die von der Idee besessen waren und sind, dass sie ein Wissen besitzen, mit dem sie die Gesellschaft technokratisch steuern können.

Vorgeblicher Gesundheitsschutz ist in der Tat ein probates Mittel für dieses Blendwerk. Denn um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, braucht man gewisse körperliche Fähigkeiten. Aber niemand lebt für das Leben selbst. Wir leben für das, was unserem Leben einen Sinn gibt. Dafür gibt es keine allgemeinverbindlichen Vorgaben, die irgendwelche Experten setzen könnten.

Konkret: Wenn jemand in der jetzigen Situation der Auffassung ist, dass diejenigen, die ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in Anspruch nehmen und sich nicht einer Corona-Impfung unterziehen wollen (aus welchen Gründen auch immer), der Gesellschaft schaden, dann gilt dieses genauso für Raucher, die mit Lungenleiden ins Krankenhaus kommen, für Übergewichtige, die durch ihre Ernährungsweise Bluthochdruck, Diabetes, Herz- und Kreislaufbeschwerden provozieren, mit denen sie dann der Allgemeinheit zur Last fallen und so weiter. Das ist das Gefährliche an der gegenwärtigen Corona-Politik, die völlig willkürlich ein Element herausgreift und absolut setzt. Mit der Logik dieser Politik könnte man beliebig umfassende Reglementierungen des gesamten Lebens mit sozialen Pässen und Zertifikaten im Namen von angeblichem Gesundheitsschutz durchsetzen.

Man würde dadurch alle Lebensqualität zerstören. Wie oben bereits erwähnt wurde, ist schon jetzt ersichtlich, dass die Corona-Politik gesamtgesundheitlich schadet, weil sie die Grundlagen dessen untergräbt, wodurch wir in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte an Lebensqualität und Verlängerung der Lebenszeit für die Allgemeinheit erreicht haben. So war es historisch immer: Die Gesellschaften, die den selbst ernannten Experten und ihren technokratischen Vorgaben gefolgt sind, haben sich selbst zerstört, und zwar gerade auch im Hinblick auf das Ziel, auf das hin diese Experten sie steuern wollten.

Den selbst ernannten Experten gelingt es immer wieder, Macht zur Steuerung der Gesellschaft zu erlangen, weil sie eine Karte ausspielen, die unser Zusammenleben ins Mark trifft, nämlich die Karte negativer Externalitäten. Damit ist Folgendes gemeint: Weil wir in Gesellschaften leben, haben unsere Handlungen Auswirkungen auf Dritte, die unerwünscht sein können. In diesem Falle spricht man von negativen Externalitäten. Externalitäten sind aber nicht unbedingt negativ. Sie können auch positiv sein. Beide Aspekte treten häufig zusammen auf.

Wenn zum Beispiel eine Autobahn gebaut wird, um zwei große Städte miteinander zu verbinden — und, nehmen wir an, die Bevölkerung der beiden Städte wünscht diese Autobahn und finanziert ihren Bau —, dann ergibt sich für die Orte, die an der Autobahn liegen und die deren Bau nicht mitfinanzieren (die also in dieser Annahme nicht Partei des entsprechenden Vertrags sind), eine positive Externalität: Auch ihre Einwohner bekommen die Möglichkeit, schneller in die beiden Großstädte zu gelangen. Es ergibt sich aber auch eine negative Externalität durch mehr Lärmbelastung und Luftverschmutzung infolge des Autoverkehrs. Durch diese negative Externalität geht Lebensqualität verloren, ebenso wie durch die bessere Anbindung an die Großstädte Lebensqualität gewonnen wird.

Schon an diesem Beispiel wird deutlich, dass nicht unbedingt von vornherein klar ist, wann negative Externalitäten überwiegen. Externalitäten sind in der Regel eine Frage dessen, jeweils pragmatisch einen Ausgleich der verschiedenen Interessen zu finden. Generell gesagt: Die Grenze, jenseits der die freie Lebensgestaltung eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen der freien Lebensgestaltung anderer einen Schaden zufügt, ist nicht von vornherein eindeutig festgelegt. Man kann sie eher weit oder eher eng fassen.

Für unsere selbst ernannten Vormünder in Wissenschaft und Politik war die Ausbreitung des Coronavirus ein willkommener Anlass, in der Weise Angst und Panik zu schüren, dass de facto kein Spielraum mehr für die freie Lebensgestaltung bleibt: Mit dem Verbreiten von Panik gelingt es, jede freie Lebensgestaltung eines Menschen so darzustellen, dass mit ihr negative Externalitäten einhergehen, die potenziell eine Bedrohung für die freie Lebensgestaltung anderer sind.

Denn natürlich kann jede Form physischen Kontaktes möglicherweise zur Ausbreitung des Coronavirus beitragen. Generell gilt: Soziale Kontakte bereichern unser Leben und geben ihm einen Sinn (positive Externalität), aber sie können auch zur Verbreitung von Bakterien, Viren und Krankheiten beitragen (negative Externalität). Wenn man Menschen nur noch als Träger von Viren ansieht, dann setzt man diese mögliche negative Externalität absolut.

Damit erhalten bestimmte Wissenschaftler und Politiker eine unglaubliche Machtfülle: Sie können sich auf diese Weise eine Legitimation basteln, unser gesamtes Leben zu regeln. Die Lösung für das Problem dieser absolut gesetzten negativen Externalität besteht darin, die sozialen Kontakte umfassend zu regeln, um die Ausbreitung des Coronavirus zu steuern. Sogar der moralische Wert der Solidarität wird umgedeutet: Solidarität mit denen, die nur noch wenig Zeit zum Leben haben, soll nun plötzlich bedeuten, sie zu isolieren und von sozialen Kontakten abzuschneiden. Solidarität soll nicht mehr bedeuten, diese Menschen so gut es geht darin zu unterstützen, die ihnen verbleibende Lebenszeit frei zu gestalten.

Wie gesagt, niemand lebt für das Leben selbst. Man lebt für einen Inhalt, der dem Leben einen Sinn gibt. Damit setzt man notwendigerweise sein biologisches Leben für diesen Sinn ein, indem man im Hinblick auf den Lebensinhalt unvermeidlich gewisse Risiken eingeht und diese Risiken selbst abwägen muss. Wie es nicht einen Lebensinhalt für alle gibt, so gibt es auch nicht eine Risikoabwägung für alle. Statt positive und negative Externalitäten — soziale Kontakte versus Gefahr von Infektionen — in der jeweiligen konkreten Situation pragmatisch abzuwägen und spezifische Schutzkonzepte zu entwickeln, die so weit wie möglich die Interessen aller Betroffenen berücksichtigen, wurden und werden alle Menschen dem Generalverdacht unterstellt, mit allen ihren sozialen Kontakten andere zu schädigen.

Die Masken sind der augenfälligste Ausdruck dieses Generalverdachts: Sie machen offensichtlich, wie jedem unterstellt wird, durch seine bloße physische Präsenz andere zu gefährden. Damit verhindern die Masken aber zugleich die emotionale Nähe, die der Gesundheit und insbesondere auch dem Aufbau des Immunsystems förderlich ist. All das geschieht, obwohl es keinerlei stichhaltige wissenschaftliche Evidenz dafür gibt, dass generelles Maskentragen der gesamten Bevölkerung in einer signifikanten Weise verhindert, dass Viren sich verbreiten. Jedenfalls konnten weder frühere Studien zu Grippewellen noch die Studien zum generellen Maskentragen in der Corona-Pandemie (siehe zum Beispiel Bundgaard et al. 2021) einen statistisch signifikanten Nutzen des generellen Maskentragens belegen.

Von dem Generalverdacht, andere zu schädigen, soll man sich befreien, indem man sich mit einem Covid-Zertifikat (3G: geimpft, genesen oder getestet, oder sogar nur 2G) reinwäscht. Mit Wissenschaft hat dieses allerdings ebenso wenig zu tun, wie der Ablasshandel im Mittelalter etwas mit christlicher Religion zu tun hatte.

In beiden Fällen sind die Bedingungen für das Reinwaschen willkürlich definiert: Was wissenschaftliche Erkenntnisse und das Covid-Zertifikat betrifft, ist es vollkommen willkürlich, natürliche Immunität durch einen positiven PCR-Test zu definieren; die Impfung verhindert nicht, das Virus übertragen zu können. Juristisch verstößt das Covid-Zertifikat ebenfalls gegen fundamentale Rechtsprinzipen, weil es die Beweislast umkehrt: Es muss nicht mehr der konkrete Nachweis geführt werden, dass jemand durch sein Verhalten andere schädigt. Vielmehr soll jeder von vornherein nachweisen, andere nicht zu schädigen.

Und auch ethisch lässt sich das Covid-Zertifikat nicht rechtfertigen, weil es dem Rechtsstaat und den Menschenrechten zuwiderläuft: Jeder hat von Natur aus das Recht auf freie Lebensgestaltung (sofern sie oder er andere nicht in ihrer freien Lebensgestaltung konkret bedroht). Menschenrechte werden nicht von staatlichen Autoritäten verliehen unter Auflagen, die von diesen Autoritäten festgesetzt werden. Von niemandem darf verlangt werden, sich die Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung durch ein Zertifikat kaufen zu müssen, dessen Bedingungen von Wissenschaftlern und Politikern formuliert werden, die sich ein Wissen, ein Können und eine Befugnis anmaßen, das gesellschaftliche Leben zu steuern. Eine angebliche wissenschaftliche Legimitation für so etwas einzusetzen, untergräbt das Vertrauen in die Wissenschaft massiv.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit: Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können“ von Harald Schulze-Eisentraut, Alexander Ulfig (Herausgeber).