Taten statt warten!

Gewaltloser ziviler Ungehorsam ist vielleicht die letzte Chance, die Öko-Katastrophe noch abzuwenden — auf die Erlaubnis der Mächtigen hierfür dürfen wir weder hoffen noch warten.

Trotz jahrzehntelanger Aktionen von Umweltgruppen, NGOs und Aktivisten rast die Menschheit weiter auf den Abgrund zu — und noch immer unternehmen unsere Regierungen so gut wie nichts, um der kapitalgetriebenen Zerstörung unseres Lebensraums Einhalt zu gebieten. Roger Hallam, Mitbegründer von Extinction Rebellion, ruft daher zum zivilen Ungehorsam als letzter Möglichkeit der Einflussnahme auf — gewaltlos und respektvoll, zugleich jedoch entschieden und unerbittlich.

Wenn Sie dieses Jahr nur ein einziges Buch lesen, sollte dies Roger Hallams „Common Sense for the 21st Century: Only Nonviolent Rebellion Can Now Stop Climate Breakdown and Social Collapse“ (deutscher Titel: „Common Sense: Die gewaltfreie Rebellion gegen die Klimakatastrophe und für das Überleben der Menschheit“) sein.

In seinem klaren und knappen Buch, ein Echo von Thomas Paines „Common Sense“ spricht Hallam aus, was viele von uns als wahr erkannt haben, aber nicht sagen: Wenn wir die herrschenden Eliten nicht bald ersetzen, sind wir als Spezies am Ende.

Das Buch ist ein überzeugendes, gut begründetes Plädoyer für eine globale Rebellion — die einzige Art des Widerstands, die uns vor einem Zusammenbruch der Ökosysteme und einem vom Menschen verursachten Genozid bewahren kann.

Es analysiert genau, wie Umweltaktivisten in Gruppen wie 350.org es nicht vermocht haben, die Konzernmacht zu durchschauen und ihr entgegenzutreten und damit etwas zu bewirken, während wir in den Ökozid rasen. „Common Sense for the 21st Century“ ist ein Überlebenshandbuch für die menschliche Spezies.

Schonungslos warnt Hallam, ein Mitbegründer von Extinction Rebellion:

„Das korrupte System wird uns alle umbringen, wenn wir uns nicht auflehnen.“

Braver Aktivismus? Zeitverschwendung!

Parallel zum Aktivismus, den Protesten, dem Lobbying, den Petitionen, den Appellen an die Vereinten Nationen, dem fehlgeleiteten Vertrauen in „liberale“ Politiker wie Barack Obama und Al Gore und parallel zur Arbeit unzähliger NGOs stiegen die Kohlendioxid-Emissionen seit 1990 um 60 Prozent an.

Die UN geht davon aus, dass die CO2-Emissionen in den nächsten 10 Jahren um weitere 40 Prozent ansteigen werden. Hallam, schon lange Teil der Umweltbewegung, beurteilt seinen früheren Aktivismus folgendermaßen:

„Damit habe ich meine Zeit verschwendet.“

Wir müssen unsere Kohlenstoff-Emissionen in den nächsten 12 Jahren um 40 Prozent vermindern, wenn wir eine 50-prozentige Chance haben möchten, eine Katastrophe zu verhindern — so ein Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, im Deutschen als „Weltklimarat“ bezeichnet) vom letzten Jahr.

Wie zu erwarten war, ignorierten die herrschenden Eliten diese Warnung oder gaben leere Plattitüden von sich. 2017 stiegen die CO2-Emissionen um 1,6 Prozent, während sie 2018 um 2,7 Prozent zunahmen.

Die Kohlendioxid-Werte stiegen letztes Jahr um 3,5 ppm auf 415 ppm an. Hallam warnt davor, dass wir nur ein Jahrzehnt von 450 ppm entfernt sind — ein Niveau, das einem durchschnittlichen Temperaturanstieg von 2 °C entspricht.

Die Auslöschung von Milliarden von Menschen

„Lassen Sie uns deutlich aussprechen, was ‚Katastrophe‘ in diesem Zusammenhang tatsächlich bedeutet“, schreibt Hallam.

„Es geht hier um das langsame und qualvolle Leiden und Sterben von Milliarden von Menschen. Eine moralische Analyse könnte folgendermaßen aussehen: einer neueren wissenschaftlichen Einschätzung zufolge bedeuten 5 °C über der vorindustriellen Durchschnittstemperatur, dass das Ökosystem nur eine Milliarde Menschen am Leben erhalten kann. Das bedeutet, dass 6 bis 7 Milliarden Menschen während der nächsten oder der beiden nächsten Generationen gestorben sein werden. Selbst wenn diese Einschätzung um 90 Prozent falsch ist, würde dies noch immer bedeuten, dass in den nächsten 40 Jahren 600 Millionen Menschen verhungern und sterben werden.“

Vorsätzliche und systematische Vernichtung

Das ist eine 12 Mal höhere Todesrate als die des Zweiten Weltkriegs (Soldaten und Zivilbevölkerung) und das Mehrfache jedes bekannten Genozids in der Geschichte. Sie ist 12 Mal schlimmer als die Schrecken der Nazizeit und des Faschismus im 20. Jahrhundert.

Genau dies lassen unsere völkermordenden Regierungen weltweit willentlich zu. Der Begriff „Genozid“ mag hier aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen, wird er doch häufig mit ethnischen Säuberungen oder kapitalen Ungeheuerlichkeiten wie dem Holocaust assoziiert. Die Definition des Merriam-Webster-Lexikon lautet jedoch:

„Die vorsätzliche und systematische Vernichtung einer rassischen, politischen oder kulturellen Gruppe.“

„Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden und die Welt so zu sehen, wie sie ist“, schreibt Hallam. „Es gibt Dinge, die unleugbar wahr sind, Dinge, die wir nicht verändern können, und eines davon sind die Gesetze der Physik.“

„Eis schmilzt, wenn die Temperatur steigt. Ernten gehen in Dürrezeiten zugrunde. Bäume verbrennen in Waldbränden. Weil diese Dinge wahr sind, können wir uns dessen gewiss sein, was die Zukunft bringen wird. Wir steuern gerade auf eine Periode extremen ökologischen Zusammenbruchs zu. Ob dieser zur Vernichtung der menschlichen Spezies führen wird oder nicht, hängt vor allem davon ab, ob innerhalb unserer Gesellschaften im nächsten Jahrzehnt revolutionäre Veränderungen stattfinden werden.“

Keine Frage der Ideologie

„Hier geht es nicht um Ideologie, sondern um schlichte Mathematik und Physik.“ Hallam weist darauf hin, dass sich die meisten Vorhersagen von Klimawissenschaftlern als überaus optimistisch erwiesen haben.

„Neuere Erkenntnisse zeigen, dass der Permafrost 90 Jahre früher als vorhergesagt schmilzt und dass Gletscher im Himalaya doppelt so schnell wie erwartet schmelzen“, schreibt er. „Rückkoppelungen und gespeicherte Wärme werden mehr als 2 °C Temperaturanstieg bewirken — abgesehen von zusätzlichen Temperaturanstiegen durch menschlich verursachte Emissionen in den nächsten zehn Jahren.“

„Kurz gesagt, wir sind am Arsch — bleibt nur die Frage, wie sehr und wie bald“, fährt Hallam fort.

„Akzeptieren wir dieses Schicksal? Ich schlage vor, wir tun das nicht. Viele Menschen, die Selbstachtung besitzen und den menschlichen Fehler, einfach nicht zu glauben, was ihnen nicht gefällt, überwinden können, sehen nun ein, was naturwissenschaftlich offensichtlich ist. Sie müssen sich aber noch durch die politischen und sozialen Auswirkungen hindurcharbeiten.“

Umbruch statt Reformen

Hallam versteht, dass jeder Wandel zu schrittweise und zu langsam erfolgen wird, um uns vor der Katastrophe zu retten — selbst wenn Reformer an der Macht wären, und die durch den Neoliberalismus erfolgten politischen Veränderungen haben nicht den Aufstieg von Reformern, sondern von rechten Demagogen wie Donald Trump und Brasiliens Jair Bolsonaro begünstigt, die den Ökozid noch beschleunigen.

Extinction Rebellion

Extinction Rebellion hat das erklärte Ziel, die herrschenden Eliten zu stürzen. Es organisierte die konzertierten Demonstrationen der letzten Monate in 60 Städten weltweit. Allein in London wurden etwa 1.832 Menschen deswegen verhaftet.

Zusätzlich dazu wurden im April während 11 Tagen zivilen Ungehorsams in den Straßen Londons mehr als 1.000 Menschen verhaftet. Sie können meine Interviews mit Hallam hier, hier und hier ansehen.

„Es geht hier nicht um die eigenen Parteipräferenzen“, schreibt Hallam. „Es geht um grundlegende strukturelle Soziologie. Institutionen sind, wie Tierarten auch, in der Schnelligkeit, in der sie sich wandeln können, beschränkt. Um einen schnellen Wandel zu erreichen, müssen sie von neuen Sozialsystemen in den Bereichen Politik, Praxis und Kultur ersetzt werden. Dies ist eine furchtbare und schmerzhafte Erkenntnis, aber es ist an der Zeit, unsere Wirklichkeit zu akzeptieren.“

Nur indem wir Zehntausende von Menschen auf die Straße bringen, um die Funktionsfähigkeit des Staates und des Finanzkapitalismus zu stören und zu lähmen — kurz, eine Rebellion —, können wir uns retten, sagt er.

Er begreift, dass die Proteste gewaltlos und gezielt gegen die Regierungen gerichtet sein müssen.

Strukturelle Umwälzungen

„Wenn dieser Plan ein oder zwei Wochen befolgt wird — das hat die Geschichte gezeigt —, wird das Regime sehr wahrscheinlich kollabieren oder gezwungen sein, größere strukturelle Veränderungen vorzunehmen“, schreibt er.

„Dafür ist die wohl bekannte Dynamik des gewaltlosen politischen Kampfes verantwortlich. Die Behörden sind mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert. Einerseits können sie die weitere tägliche Besetzung der Straßen erlauben — was zu höherer Teilnahme und der Untergrabung ihrer Autorität führen wird. Wenn sie sich jedoch andererseits dafür entscheiden, die Demonstranten zu schikanieren, riskieren sie damit, dass das Ganze nach hinten losgeht. Dann würden mehr Menschen auf die Straße gehen — als Reaktion auf die Opfer derer, die von den Behörden von der Straße geholt wurden. In Zeitpunkten intensiver politischer Dramatik vergessen die Leute ihre Angst und beschließen, sich an die Seite derer zu stellen, die sich für das Allgemeinwohl opfern.“

Weiter schreibt er: „Der einzige Ausweg sind Verhandlungen. Nur dann wird sich eine strukturelle Gelegenheit für den dringenden Wandel der Wirtschaft eröffnen, den wir brauchen. Natürlich besteht keine Gewissheit, dass dieser Vorschlag funktionieren wird — es ist jedoch grundsätzlich möglich.

Sicher ist jedoch, dass reformistische Kampagnen und Lobbying so gänzlich scheitern werden, wie sie seit Jahrzehnten gescheitert sind. Der strukturelle Wandel, den wir nun objektiv brauchen, muss schnell erfolgen — zu schnell für jede Art herkömmlicher Strategien.“

Divide et impera — von unten!

Nach Hallams Verständnis kann keine Rebellion Erfolg haben, wenn sie nicht einen Teil der herrschenden Elite anspricht.

Sobald es zu Spaltungen in der herrschenden Klasse kommt, folgt deren Handlungsunfähigkeit und schließlich laufen immer größere Teile der Elite zu jenen über, die rebellieren oder sich weigern, eine verrufene herrschende Klasse zu verteidigen.

„Massenaktion darf nicht nur körperlich gewaltlos sein, sondern muss auch aktiven Respekt der Öffentlichkeit und der Opposition gegenüber einschließen — unabhängig von deren repressiven Reaktionen“, merkt Hallam an.

Zur Polizei schreibt er ausdrücklich:

„Ein proaktiver Ansatz der Polizei gegenüber ist eine wirkungsvolle Methode, im derzeitigen Kontext zivilen Ungehorsam der Massen zu ermöglichen. Dies bedeutet, die Polizei anzusprechen, sobald sie ankommt, und zwei Dinge deutlich zu sagen: ‚Dies ist eine gewaltlose, friedliche Aktion‘ und ‚Wir respektieren, dass Sie hier Ihre Arbeit machen müssen.‘ Wir haben mehrfach Beweise dafür, dass dies die Polizeibeamten beruhigt und somit im Anschluss daran einen höflichen Austausch ermöglicht.“

Das Verhältnis zur Polizei

Wenn wir während der Aktionen der Extinction Rebellion verhaftet wurden und im Polizeirevier waren, haben wir die Polizei durchweg höflich behandelt — wir haben Smalltalk betrieben und häufig über politische und andere Themen diskutiert, die uns alle betreffen, wie Ungleichheit, unfaire Bezahlung. Polizisten, die anfangs gegenüber den Aktivisten „mauern“, können sich dann diesen gegenüber öffnen, wenn man bereit ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und ihnen zuzuhören.

Diese Verbindung kann schon vor einer Aktion beginnen. Ein Treffen mit den Polizisten von Angesicht zu Angesicht ist wirkungsvoll, ermöglicht man ihnen doch damit zu verstehen, dass die Menschen, mit denen sie es zu tun haben, vernünftig und gesprächsbereit sind.

Die Rebellion bedingt auch, dass man wiederholt das Gesetz brechen muss. Dies bedeutet, dass man Zeit in Gefängnissen und Zuchthäusern verbringen wird.

Ziviler Ungehorsam bis in den Gerichtssaal hinein

„Es wäre förderlich für die Rebellion, wenn Menschen vor der großen Aktion bürgerlichen Widerstands im Gefängnis sind, um landesweit Publicity zu erreichen“, schreibt Hallam, der diesen Herbst sechs Wochen lang in London inhaftiert war.

Dies erreicht man am besten, wenn man wiederholt Akte zivilen Ungehorsams begeht und dann beim Betreten des Gerichtssaales Erklärungen vorliest. Man nimmt dabei weder vom Richter noch vom Gericht Notiz und sagt mit lauter Stimme:

„Ich bin verpflichtet, dieses Gericht darüber zu informieren, dass es sich durch meine Vorladung mitschuldig macht am ‚größtmöglichen Verbrechen‘, nämlich der Zerstörung unseres Planeten und unserer Kinder — hervorgerufen durch die korrupte Untätigkeit des regierenden Regimes, dessen Willen Sie zu verwirklichen Sie sich entschieden haben. Ich werde mich nicht an die Regeln dieses Gerichtes halten und werde nun damit fortfahren, die existenzielle Bedrohung zu erklären, der alles Leben, unsere Familien, Gemeinden und Nation ausgesetzt sind … Dem sollte eine lange Rede über die ökologische Krise folgen.“

Dies wird mit aller Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass der Verhaftete wegen ungebührlichen Verhaltens vor Gericht in Untersuchungshaft oder Haft kommt. Abhängig vom Regime stehen die Behörden (dann) vor dem Dilemma zu entscheiden, wie lange die Untersuchungshaft oder Haft dauern soll. Wenn die Inhaftierung nur kurz andauert, werden die Leute schnell entlassen und können mit ihrem friedlichen zivilen Ungehorsam weitermachen. Wenn die Haftstrafe lang ist, wird dies ein nationales Mediendrama verursachen, das eine globale Rebellion einleiten wird.

Notwendige Schritte

Es müssen Volksversammlungen gegründet werden, die die Macht übernehmen und eine dramatische und schnelle Reduktion der CO2-Emissionen überwachen.

Die Wissenschaft ist eindeutig: Der Temperaturanstieg muss sich auf 1 bis 1,5 °C über dem vorindustriellem Niveau einpendeln — für CO2 trifft das bei etwa 350 ppm zu.

Wir müssen Möglichkeiten finden, von Menschen verursachte Emissionen von Treibhausgasen – egal welcher Art – innerhalb eines, höchstens zweier Jahrzehnte drastisch zu vermindern.

Zudem müssen wir Maßnahmen zur Abkühlung der Erde ergreifen, darunter auch das Pflanzen von Billionen von Bäumen, um das CO2 zu absorbieren.

Eine der einfachsten, aber entscheidendsten Möglichkeiten für den Einzelnen, die eigene Umweltbelastung des Planeten zu verringern, ist der Verzicht auf tierische Produkte in der Ernährung. Denn die industrielle Tierhaltung konkurriert mit der Fossilbrennstoffindustrie als einer der größten, multifaktoriellen Ursachen für die Klimakatastrophe.

Wenn wir nicht bald handeln, so betont Hallam, besteht die Gefahr, dass wir unkontrollierbare Klima-Rückkoppelungen oder Kipppunkte hervorrufen könnten, die jedem Versuch, Emissionen zu reduzieren, widerstehen würden.

Fossile Brennstoffe müssen schnell aus der Wirtschaft verbannt werden — auch über ein Verbot aller neuen Investitionen in die Erforschung und Entwicklung derselben. Innerhalb eines Jahrzehnts müssen Kraftwerke auf der Basis von Kohle oder Gas geschlossen werden. Dieser Prozess wird eine massive Reduzierung des Energieverbrauchs — möglicherweise auch durch Rationierung — erfordern.

Hallam ist sich dessen deutlich bewusst, dass wir scheitern könnten. Es könnte schon zu spät sein, gibt er zu. Aber keinen Widerstand zu leisten bedeutet, an diesem Akt des Genozids mitschuldig zu sein. Hallam durchschaut die globale Konzernmacht. Er weiß, wie man dagegen ankämpft. Der Rest hängt von uns ab.


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Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.



Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „How to Save the Planet and Ourselves“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.