Strukturelle Antidemokratie
Unsere Gesellschaft ist in ihrer Tiefenstruktur antidemokratisch. Dies soll an drei Fallbeispielen verdeutlicht werden.
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine gewachsene Demokratie. Ihre Institutionen sind dem Allgemeinwohl verpflichtet und dieses leitet sich aus dem Willen der Staatsbürgerinnen und -bürger ab. Soweit die offizielle Erzählung. Tatsächlich ist das politische System so gestaltet, dass die Mehrheit von allen wichtigen politischen Prozessen systemisch ausgeschlossen ist, während eine winzige Minderheit alle wesentlichen Entscheidungen trifft. Lediglich durch Wahlen können im Voraus getroffene Beschlüsse und von Parteien ausgewählte Vertreter von der Bevölkerung nur noch bestätigt werden. Auf die Inhalte der Politik hat der Wähler keinerlei Einfluss. Wie kann es sein, dass man so etwas Demokratie nennt? Durch welche Verhältnisse legitimiert sich also das System der strukturellen Antidemokratie?
Der Staat als Machtapparat
Die Staatsgewalt wird durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt, heißt es im Artikel 20, Absatz 2 der bundesdeutschen Verfassung.
Dieses organische System ist aber so strukturiert, dass das Volk eben nicht die Staatsgewalt ausübt, sondern vielmehr der Staat Gewalt über das Volk. Aber was ist der Staat? Eine Alternative zur offiziellen Version könnte lauten: Der Staat ist ein Machtapparat, dessen Organe und Strukturen die Aufgabe erfüllen, die Interessen einer vermögenden Minderheit, den Eigentümern der Produktionsmittel, gegen die berechtigten Ansprüche der alle Werte schaffenden Mehrheit zu verteidigen.
Das heißt, dass die Strukturen so beschaffen sein müssen, dass die Mehrheit grundsätzlich keinen Zugang zu Entscheidungen bekommen kann. Wie sieht so etwas in der Praxis aus? Drei Fallbeispiele aus unterschiedlichen politischen Bereichen zeigen, dass die Sphäre der politischen Entscheidungen hermetisch von jedem Einfluss von außen, also von der Bevölkerung, abgeschottet ist.
Fallbeispiel 1: Gemeinderäte — die kommunale Ebene
Der folgende Absatz ist ein Auszug aus einem Text über die Aufgaben des Gemeinderates, entnommen von der Internetseite einer nordbayerischen Gemeinde:
„Die Gemeinderäte sind zur Verschwiegenheit verpflichtet über alle Angelegenheiten, deren Geheimhaltung gesetzlich vorgeschrieben, besonders angeordnet oder ihrer Natur nach erforderlich ist. Über alle in nichtöffentlicher Sitzung behandelten Angelegenheiten sind die Gemeinderäte und die zur Beratung zugezogenen Einwohner so lange zur Verschwiegenheit verpflichtet, bis sie der Bürgermeister von der Schweigepflicht entbindet.“
Es gibt also Angelegenheiten, deren Geheimhaltung gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Gesetzesgrundlage ist in diesem Fall die Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern, genauer der Artikel 20, Sorgfalts- und Verschwiegenheitspflicht.
Man könnte fragen, warum ein Gemeinderat, der doch die Angelegenheiten der Bürgerinnen und Bürger im Sinne des Gemeinwohls vertreten soll und von den Mitgliedern der Gemeinde durch Wahl dazu beauftragt worden ist, diese Angelegenheiten vor den Wählerinnen und Wählern geheim halten sollte. Sind nicht Transparenz und Offenheit Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft?
Und heißt das nicht auch, dass die Bürgerinnen vorsorglich erst dann von einer Entscheidung informiert werden, wenn sie bereits getroffen ist?
Fallbeispiel 2: Mandatsträger
Das wunderbare Wesen des Mandats — und seines Trägers. Auf der Internetseite des deutschen Bundestages findet man die folgende Definition eines Mandats:
„Amt und Aufgabe der Parlamentsabgeordneten werden als Mandat bezeichnet. Man unterscheidet freies und imperatives Mandat. Letzteres bindet den Abgeordneten an den Wählerwillen oder an Weisungen von Partei oder Fraktion. Beim freien Mandat ist er an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen. Die Abgeordneten des Bundestages verfügen nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes über ein freies Mandat. Es schützt sie vor Einflussnahme von Wählern, Wählergruppen, Parteien bzw. Fraktionen oder anderen politischen und wirtschaftlichen Gruppen und garantiert ihre Unabhängigkeit.“
Man muss für diese offenen Worte dankbar sein. Besser kann man die strukturelle Antidemokratie im System des Parlamentarismus nicht mehr beschreiben. Das freie Mandat schützt die Abgeordneten also vor der Einflussnahme des Wählers! Nicht dem Wählerwillen, nein, nur ihrem Gewissen sind die Abgeordneten unterworfen! So kann man auch verstehen, warum Wahlversprechen eigentlich niemals eingehalten werden. Sie dienen lediglich dazu, das Mandat zu erhalten. Im Besitz desselben ist der Träger oder die Trägerin so frei, Politik ganz unabhängig im Sinne der herrschenden Interessen zu gestalten.
Fallbeispiel 3: Whistleblower — Edward Snowden und die Staatsräson
Edward Snowden konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, dass seine Regierung gegen demokratische Grundsätze verstößt. Im Gegensatz zur oben erwähnten Mandatsträgerin entschied er sich dazu, die Öffentlichkeit über diese kriminellen Aktivitäten zu informieren. Aber nicht die Kriminellen wurden zur Rechenschaft gezogen, sondern Edward Snowden musste sein Heimatland verlassen und lebt jetzt in Russland. Wie geht die deutsche Politik mit diesem Thema um?
Auf der Internetseite des deutschen Bundestages findet sich ein Dokument über den sogenannten 1. Untersuchungsausschuss zur National Security Agency (NSA). Dieser Ausschuss soll aufklären, in welchem Ausmaß der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie deutsche Behörden, Unternehmen und so weiter ausspioniert.
Der Bericht ist ein Beweis für die tiefe Verachtung demokratischer Grundsätze durch einen hohen deutschen Beamten. Im Folgenden werden mehrere Absätze daraus zitiert und im Anschluss kommentiert.
Zu Wort kam der Amtsleiter des deutschen Inlandsnachrichtendienstes:
„Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr. Hans-Georg Maaßen hat scharfe Angriffe gegen den NSA-Enthüller Edward Snowden gerichtet und die Vermutung geäußert, dieser sei ein russischer Agent.“
Und weiter:
„Maaßen gab zu verstehen, er halte die Annahme für begründet, dass die Snowden-Affäre Teil der ,hybriden Kriegführung‘ Russlands gegen den Westen sei.“
Der Präsident einer deutschen Behörde diffamiert also öffentlich eine Handlung, die er eigentlich begrüßen müsste. Oder ist es nicht die Aufgabe des Verfassungsschutzes, die Demokratie zu verteidigen? Stattdessen wird Edward Snowden öffentlich denunziert und im gleichen Zuge behauptet, Russland führe Krieg gegen „den Westen“, sei also der Aggressor. Eine perfide Argumentation!
Im Verlauf des Berichts wird Maaßen weiter wie folgt zitiert:
„Mit der Snowden-Affäre habe Russland einen Keil zwischen die USA und ihren engsten europäischen Verbündeten, die Bundesrepublik, getrieben. Vor allem hier habe der Vorgang ,antiamerikanische und gegen die eigenen Nachrichtendienste gerichtete‘ Stimmungen erneut hochkochen lassen.“
Wer nicht vom Imperialismus sprechen will, der darf vom Antiamerikanismus nicht schweigen. Ein vom deutschen Steuerzahler besoldeter Beamter betreibt öffentlich Propaganda. Der amerikanische Imperialismus, der den Terror in weite Teile der Welt trägt, soll weiterhin von Deutschland unterstützt werden. Kritik daran ist „antiamerikanisch“.
Maaßen führt laut Bericht weiter aus:
„Den deutschen Diensten habe die Affäre in erheblichem Maße geschadet. Wichtige Interna und Informationen aus ihrer täglichen Arbeit seien an die Öffentlichkeit gelangt, ihre Tätigkeit und ihre Existenz als solche rundheraus ,skandalisiert‘ worden. Auch dies habe gerade vor dem Hintergrund des Konflikts um die Ukraine im Interesse Russland gelegen.“
Wichtige Interna und Informationen seien an die Öffentlichkeit gelangt! Das darf in einer funktionierenden Demokratie nicht passieren! In einer solchen müssen vielmehr alle wichtigen Informationen vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Sonst könnten die Menschen sich eine eigene Meinung bilden und erhielten Kenntnis vom rechtswidrigen Treiben der eigenen Regierung. Das sei dann im Interesse Russlands, meint Maaßen.
Der auf die Verfassung vereidigte Staatsdiener Maaßen kritisiert weiter:
„Nicht zuletzt habe die Affäre den deutschen Sicherheitsbehörden in Zeiten wachsender Gefahr durch radikalislamische Terroristen eine enorme Anspannung ihrer personellen Ressourcen eingebrockt. Im Zusammenhang mit den Themenkreisen NSA und NSU habe sich seine Behörde, der Verfassungsschutz, derzeit mit zwei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im Bundestag und fünf weiteren in verschiedenen Landtagen auseinandersetzen.“
Das ist nun wirklich unerträglich! Jetzt muss sich der Geheimdienst auch noch wegen seiner kriminellen und rechtswidrigen Umtriebe mit den Parlamenten herumärgern! Zum Glück hält sich das Aufklärungsbedürfnis der ParlamentarierInnen aber in Grenzen. So schlimm wird es also nicht werden.
Auflösung: Strukturelle Demokratie
Die Mehrheit der Bevölkerung hat die Funktionsweise der strukturellen Antidemokratie offenbar derart verinnerlicht, dass den Menschen gar nicht mehr auffällt, wie entfremdet sie von den politischen Abläufen sind. Alles scheint in bester Ordnung zu sein.
Die Spaltung der Gesellschaft in Superreiche und immer mehr Arme, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die imperialistische Kriegstreiberei mit der ständigen Gefahr der Vernichtung der Menschheit durch Atomwaffen.
All dies ist kein Grund zur Besorgnis! Denn unsere Demokratie ist wehrhaft! So wird es tagein tagaus durch das Indoktrinationssystem, also die Massenmedien, die Schulen und Universitäten, die Intellektuellen und so weiter wiederholt, bis es schließlich zur Wahrheit wird. Was kann man dagegen tun?
Die Alternative zur strukturellen Antidemokratie heißt strukturelle Demokratie
Entscheidungen müssen von unten nach oben getroffen werden. Dort, wo die Menschen arbeiten, an ihrem Arbeitsplatz, müssen sie sich das Recht erkämpfen, demokratisch entscheiden zu können. Das stellt das Eigentumsrecht radikal in Frage. Denn aus dieser Perspektive hat nicht der Eigentümer eines Unternehmens die Entscheidungsgewalt darüber, was und wie produziert wird und wie der Erlös aus dieser Produktion verwendet wird, sondern die arbeitenden Menschen, die diese Werte schaffen, können darüber entscheiden.
Es gibt keinen Zweifel darüber, dass dieses Recht erkämpft werden muss. Aber nur wenn in der Welt der Arbeit demokratische Verhältnisse herrschen, kann auch eine Gesellschaft demokratisch sein! Denn unsere ganze Lebensgrundlage beruht auf unserer Fähigkeit, durch Arbeit unser Leben zu gestalten.
Eine Gesellschaft ist erst dann demokratisch, wenn ihre Wirtschaft demokratisch ist.
Der Weg dorthin wird steinig sein, aber wenn die Menschen solidarisch miteinander für ihre Rechte kämpfen, dann können sie das Ziel erreichen: eine echte demokratische Gesellschaft, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.“