Sterile Kindheit

Hygiene- und Abstandsregeln lassen Kinder im Schatten diffuser Ängste aufwachsen.

Die neuen Hygienebestimmungen und Empfehlungen während der Corona-Pandemie sind in aller Munde und werden vor allem hinsichtlich ihrer ökonomischen Folgen diskutiert. Die Frage, die man sich dabei lieber nicht stellt, ist: Was macht das alles mit den Kleinen der Gesellschaft? Wie fühlen sich Menschen, deren Identititäts- und Selbstwertgefühl erst noch im Entstehen ist, wenn man ihnen Berührungen verweigert und sie wegen nicht nachvollziehbarer „Verfehlungen“ barsch zurechtweist? Ist es für ihre Entwicklung förderlich, sich beständig wie eine gefährliche potenzielle Virusquelle zu fühlen? Was wird aus Kindern, denen nicht nur der Schulbesuch, sondern auch natürlicher Kontakt mit Gleichaltrigen verweigert wird? Und können Erwachsene, die — eingesperrt und ihrer Rechte beraubt — notgedrungen dünnhäutig sind, gute Eltern sein? Ein Plädoyer für mehr Empathie und Menschlichkeit.

Was bisher geschah: die neuen Regeln für Kinder

Aufgrund der Corona-Pandemie müssen Kinder derzeit in vielen öffentlichen Bereichen einen Mund-Nasen-Schutz tragen und den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen einhalten. In den meisten deutschen Bundesländern müssen sie ab dem 6. Geburtstag zum Beispiel in Geschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln und teilweise in Schulen eine Maske tragen. In Sachsen-Anhalt wird nahegelegt, dass sich bereits zweijährige Kleinkinder im öffentlichen Bereich innerorts mit Maske bewegen.

Unsere Kinder sollen Abstand zu anderen Kindern halten. Sie sollen mit ihren Freunden auf Abstand kommunizieren und spielen. Dies gilt für den Spielplatz, die Schule und für alle öffentlichen Bereiche (1). Der Alltag der Kleinen wird dominiert von dem Bild von Absperrbändern, von vermummten Gesichtern, von Tafeln — zum Beispiel auf Spielplätzen — bezüglich Abstandsregelungen und des Verbots, gemeinsam zu essen.

Durch den wochenlangen Shutdown des Landes und das aktuell praktizierte alternierende Schulsystem wird das Recht der Kinder auf Bildung und soziale Kontakte erheblich eingeschränkt — mit gravierenden Folgen. Maßnahmen, welche die Schere zwischen privilegierten und bildungsferneren Bevölkerungsschichten weiter auseinanderklaffen lassen und das Risiko für Kinder, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu werden, drastisch erhöhen.

Die UN-Kinderrechtskonvention definiert Kinder — auf die das deutsche Recht zur Anwendung kommt — als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen haben. Artikel 3 der Konvention behandelt den Vorrang des Kindeswohls. Demzufolge steht an erster Stelle die Orientierung am Kindeswohl, die verlangt, dass bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohlergehen des Kindes vordringlich zu berücksichtigen ist (2).

Allein das empathische Einfühlen in die Erlebniswelt von Kindern lässt zu dem Schluss kommen, dass die aktuellen Maßnahmen und Hygienebestimmungen das Kindeswohl in den Hintergrund rücken, unsere Kinder in ihrer Entwicklung empfindlich behindern und damit ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit massiv beeinträchtigen.

Was wir uns für unsere Kindern wünschen versus was wir unseren Kindern durch die neuen Verhaltensregeln beibringen

Kindertagesstätten und Schulen sind nicht nur reine Lernstätten zur Vermittlung von Wissen. Viele Lerninhalte werden wieder vergessen. Was bleibt, sind die zwischenmenschlichen Komponenten, die einem Kind mit auf den Weg gegeben werden. Speziell Bildungseinrichtungen, aber auch Spielplätze und andere Freizeitgestaltungsmöglichkeiten boten Kindern stets die Gelegenheit zu unbeschwerten sozialen Interaktionen, Pflege von Freundschaften, Teamarbeit und ähnlichem.

Die neuen Regeln schränken dieses soziale Lernen auf unnatürliche Art und Weise ein und gefährden langfristig die psychische Gesundheit von Kindern.

So sind sich Wissenschaftler darüber einig, dass selbst flüchtige Berührungen im Alltag zum Beispiel das Lernen fördern und Stress und Aggressionen reduzieren (3). Durch die neuen Bestimmungen wird unseren Kindern suggeriert, dass von anderen eine Gefahr ausgeht und dass sie selbst andere Menschen gefährden, wenn sie sich ihnen nähern, wenn sie lachen oder sprechen. Im absoluten Widerspruch dazu wünschen wir uns, dass unsere Kinder zu mutigen Persönlichkeiten heranreifen, die keine Angst vor anderen Menschen haben und sich trauen, den Mund aufzumachen und zu sprechen.

Schlimmer jedoch als staatliche Empfehlungen und Anordnungen ist, was Teile der Gesellschaft daraus machen. Die Furcht vor dem Virus scheint die Angstneurosen mancher Erwachsenen derart zu verstärken, dass eine Art Kampf gegen „Regelbrecher“ und „Gefährder“ ausgefochten wird. Die Wut, welche der zugrundeliegenden Angst entspringt, trifft nicht selten die Kleinen unserer Gesellschaft, da diese naturgemäß durch — bisher noch — unbefangeneres Verhalten in Erscheinung treten. Auch können Kinder leichter durch Druck und Strafe zum erwünschten Verhalten gebracht werden.

Kinder werden beispielsweise in der Bücherei oder im Lebensmittelgeschäft barsch in die buchstäblichen Grenzen verwiesen. Mitunter werden ihnen „Hygienepläne“ auferlegt, wann sie ihre Hände zu waschen und zu desinfizieren haben. Ein weiterer Widerspruch wird offenkundig: Kinder sollen später einmal selbstbestimmt sein und die Bedürfnisse anderer achten, doch wird ihnen dasselbe mancherorts nicht zuteil.

Kinder benötigen eine Umgebung, die Raum lässt für spontanes und offenes Handeln, eine Umgebung, in der sie selbstbestimmt Kontakte mit Gleichaltrigen knüpfen und ihrem Explorationsdrang folgen können, ohne Angst vor Strafe haben zu müssen. Wird Kindern diese offene, das Lernen fördernde Umgebung verwehrt, können Verhaltensauffälligkeiten und tiefgreifende psychische Störungen die Folge sein (4, 5).

Unsere Kinder sollen im Erwachsenenalter erfüllende Beziehungen führen und im Vorstellungsgespräch mit sozialen Kompetenzen punkten können. Nun jedoch werden Kinder permanent darauf hingewiesen, Distanz zueinander zu wahren. Sie sollen Konflikte lösen, hilfsbereit und empathisch miteinander umgehen, jedoch alles auf Abstand, und die Mimik wird hinter der Maske versteckt. Die zutiefst verunsichernde Botschaft: Entwickle dich zu einer starken Persönlichkeit und sei du selbst, aber tu ja nichts Falsches! Ein Widerspruch, der verwirrender nicht sein könnte.

Von Werten und Normen und defizitären Abwägungsprozessen

Bei all unseren Handlungen spielen immer auch Fragen der Ethik und Moral eine Rolle. Was sollen wir tun? Was ist „gut“ und „richtig“? Welche gesellschaftlichen und kulturellen Kriterien sind zu berücksichtigen? Gesundheit hat in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert. Wohl die meisten würden zustimmen, dass es gut und richtig ist, Bemühungen zu unternehmen, um dieses kostbare Gut zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Jedoch ist die ethische Frage nach vertretbaren Maßnahmen eine komplizierte und erfordert die Reflexion verschiedenster Aspekte.

Wir erleben derzeit leider eine sehr einseitige Betrachtung der Thematik. Es entbehrt jeglicher Vernunft, beispielsweise die Frage zu stellen: „Sind Kinder in der Lage, Masken zu tragen?“, wenn nicht auch der Frage nachgegangen wird: „Was macht es mit ihnen?“ So wurden immer wieder Experten, zumeist Mediziner, zu Wort gebeten, die uns versicherten: „Ja! Schon kleine Kinder können Masken tragen, wenn sie richtig angeleitet werden.“ Die Frage, wie sich derartige Bestimmungen langfristig auf die (psychische) Gesundheit der Kinder auswirken, wird bis heute nur allzu bereitwillig negiert.

Was wird aus den moralischen Grundpfeilern unserer Gesellschaft? Unsere Werte und Normen sind im Wandel. Werte wie Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit bekommen unversehens einen bitteren Beigeschmack. Einer Person auf die Beine helfen, die gestürzt ist? Oder die Kinder einen selbst gepflückten Blumenstrauß der Nachbarin von gegenüber überreichen lassen? Undenkbar angesichts der neuen Verhaltensregeln! Kinder massiv zum Händewaschen zwingen oder gar anschreien, wenn sie vergessen, in die Armbeuge zu husten? Plötzlich werden veraltete Erziehungsmethoden, die sich längst als schädlich erwiesen haben, unkritisch reaktiviert.

Eine Reihe von Fakten lässt die Empfehlungen und Verordnungen während der Corona-Pandemie in einem kritischen Licht erscheinen. Diese sollten in der Gesellschaft dringend einen höheren Stellenwert bekommen und signifikant mit einbezogen werden. So mehren sich die Hinweise, dass Kinder beim Virusgeschehen eine eher untergeordnete Rolle spielen (6). Auch kann übermäßiges Händewaschen und Desinfizieren im Alltag das Risiko für Allergien und Autoimmunerkrankungen erhöhen (7).

Doch am schwerwiegendsten: Der Shutdown mit all seinen Einschränkungen sowie das alternierende Schulsystem, das nun ab der 5. Klasse zur Anwendung kommt, erlauben den Schülern allenfalls an wenigen ausgewählten Werktagen und sehr verkürzt, den Unterricht zu besuchen, und Freizeitangebote wie Sportverein oder Jugendtreffs stehen nicht oder nur bedingt zur Verfügung. In der Folge nehmen Missstände wie häusliche Gewalt und Vernachlässigung in sozial schwächeren und problembehafteten Milieus zu und werden zudem weniger und später erkannt (8, 9).

Corona, so scheint es, ist größer geworden als wir alle und fungiert als Totschlagargument.

Nichts kommt dagegen an! Demzufolge ignorieren wir, was nicht ins vorherrschende Bild passt, und versinken unkritisch in Konformität. Penible Hygiene als neue Norm und höchster Wert in unserer Gesellschaft — der „Gesundheit“ wegen.

Zurück zur Menschlichkeit

Unsere Kleinen blicken auf uns, wenn sie sich fragen: Wie offen darf ich sein, wie ängstlich muss ich sein, und wie gehen wir miteinander um? Mit den neuen Verhaltensregeln gewöhnen wir unseren Kindern ab, neugierig, spontan oder mutig zu handeln, um ihnen dagegen beizubringen, dass bei jeder Gelegenheit Strafe und Gefahr lauert. Wollen wir das wirklich mittragen und verantworten?

Lassen Sie uns gemeinsam das Kindeswohl und damit auch die Menschlichkeit wieder an die erste Stelle rücken! Und den Rest schaffen wir auch — mit Vernunft, Mitgefühl und Vertrauen ineinander!


Quellen und Anmerkungen:

(1) ms.sachsen-anhalt.de/themen/gesundheit/aktuell/coronavirus/fragen-und-antworten/faq-maskenpflicht/#c238757
(2) www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention
(3) www.google.de/amp/s/www.quarks.de/gesundheit/darum-sind-beruehrungen-so-wichtig/amp/
(4) kindheiterleben.de/regeln-grenzen-konsequenzen-strafen-in-der-erziehung/#Regeln
(5) www.planet-interview.de/interviews/jesper-juul/35272/
(6) www.news4teachers.de/2020/05/kretschmann-studie-zeigt-geringe-rolle-von-kindern-bei-infektionen-grundschulen-sollen-jetzt-schneller-oeffnen/?
(7) www.google.de/amp/s/www.derwesten.de/gesundheit/zu-viel-hygiene-schadet-der-gesundheit-von-kindern-id6485802.html%3fservice=amp
(8) https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-kinderschutz-jugendamt-100.html
(9) https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/moenchengladbach-fuenfjaehriger-gestorben-100.html