Stabilität und Aufbruch
Die liberalen Proteste in Russland könnten Hoffnung bedeuten, wenn sie sich nicht von westlichen Machtinteressen instrumentalisieren lassen.
Der Liberalismus in seiner von der westlichen „Wertegemeinschaft“ geprägten Form ist in der Krise. Kein Wunder, denn seine großsprecherischen Vertreter — angeführt von den USA — haben sich durch ihre gewalttätige, imperialistische Politik unglaubwürdig gemacht. Damit haben auch ihre Werte vor den Augen der Welt Schaden genommen. Als Bewahrer könnte sich gerade ein Mann erweisen, der vielfach als Kritiker des Liberalismus aufgetreten ist: Wladimir Putin. Zwischen dem Chaoten Trump und Xi Jinping, Exponent eines technikgestützten Überwachungskollektivismus, könnte Putin ein besonnener Mittelweg gelingen, der liberale Elemente mit Tradition und Formen eines ordnenden Autoritarismus in Einklang bringt. Unter dem Dach des Vielvölkerstaates könnte eine Vielfalt von Politikentwürfen Platz finden. Die derzeitige Moskauer Protestbewegung mit ihrer Forderung nach mehr Autonomie könnte frischen Wind in die politische Landschaft bringen, wenn sie sich nicht von Putin-Hassern und westlichen Machtinteressen vereinnahmen lässt.
Die gegenwärtigen Unruhen in Moskau lassen eine Frage aufkommen, die über die aktuellen Ereignisse hinauszuführen geeignet ist: Welche Rolle spielt Russland in der Ablösung des Liberalismus, das heißt des in die Krise gekommenen, westlich dominierten Weltbildes?
In der westlichen Presse erscheint es so, als würden mit der gewaltsamen Zurückweisung nach freiem Zugang zu den Moskauer Regionalwahlen jegliche freiheitlichen Regungen in Russland unterdrückt. Wladimir Putins kürzlich gegenüber Redakteuren der „Financial Times“ (1) geäußerte Kritik an der „liberalen Idee“ und seine gleichzeitige verstärkte Hinwendung nach China hat dieser Sicht reichlich Nahrung gegeben.
Eine genauere Betrachtung lässt allerdings eine andere, wenn auch paradoxe Perspektive erkennen. In ihr tritt Putin als Konservator eben dieser weltweit in die Krise geratenen liberalen Ordnung hervor, ja er mahnt auf nationalen und internationalen Foren sogar deren Einhaltung an. Mit Blick auf das Inland spiegelt sich das selbst in dem oben genannten Gespräch mit der „Financial Times“, in dem er sich ungeachtet seiner generellen Kritik am Liberalismus für liberale Freiheiten auch in Russland ausspricht, wenn ihre Wahrnehmung nicht zum Schaden für die Gemeinschaft führe.
Die aktuellen Moskauer Proteste erscheinen vor diesem Hintergrund eher als hilfloses Aufbegehren gegen diese widersprüchliche Realität einer vor allem von jungen Leuten als repressiv erlebten Toleranz im heutigen Moskau, als ein Aufbegehren, das zwar berechtigt, verständlich und mutig ist, das allerdings gesellschaftsverändernde Kraft erst wird entfalten können, wenn es die Grenzen, die dem Liberalismus heute allgemein und im Besonderen im nachsowjetischen Russland gesetzt sind, erkennt und in seinen Protest einbezieht.
Gewagte Thesen?
Diese Feststellungen klingen gewagt, drängen sich aber bei einem über die aktuellen Vorkommnisse hinausgehenden Blick auf die nachsowjetischen Bedingungen, die im globalen Rahmen wie auch in Russland selbst heute wirken, als unabweisbar auf.
Liberale Ideen, genauer gesagt, Versprechungen des Liberalismus tragen für die große Mehrheit der russischen Bevölkerung nach den Erfahrungen, die sie im Verlauf des Systemwandels mit dem Import westlicher Werte machen musste, nicht mehr.
Zu tief war die geistige und soziale Erniedrigung, in die man sich gestürzt fand. Ideologen wie Alexander Dugin (2) konnten vor diesem Hintergrund schon lange ihre Botschaft verkünden, dass die drei großen „Ismen“ des letzten Jahrhunderts, gemeint, nach dem Faschismus der Sozialismus und nach ihm auch der als vermeintlicher Sieger übriggebliebene Liberalismus, auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten und durch eine neue Idee einer „vierten Theorie“ ersetzt werden müssten. Dabei bleibt diffus, wohin diese vierte Theorie führen soll, wenn nicht einfach in die Restauration alter imperialer Herrlichkeit und eines kruden mystischen Nationalismus.
Hinzu kommt, dass die liberalen Werte auch im Westen nicht mehr tragen, genauer, dass sie durch die tatsächliche Politik der herrschenden Eliten in weiten Kreisen der Weltbevölkerung desavouiert sind und zunehmend weiter desavouiert werden. Man denke an die aggressive Außenpolitik, welche die westliche Allianz gegen ihre Rivalen in Russland, China und anderen Teilen der Welt um die Erhaltung ihrer Vormachtstellung führt.
Man denke an die „populistischen“ Protestbewegungen innerhalb dieser Länder, an die neuen nationalistischen Tendenzen in der Europäischen Union, an den antiliberalen Siegeszug Donald Trumps in den USA und — auf hohem ideologischen Niveau — an den bemerkenswerten, neuerdings entstandenen Medienhype um den israelischen Autor Yuval Noa Harari (3), dessen Kritik des Liberalismus exakt dem gleichen Muster der Reihung vom Faschismus über den Sozialismus zum Liberalismus folgt wie Alexander Dugins Botschaft vom Ende der bisherigen Geschichte. Hararis Arbeiten wurden in vierzig Sprachen übersetzt. Seit Erscheinen seiner Bücher füllt er weltweit die Säle. Dieses Echo spricht für sich, auch wenn Harari im Gegensatz zu Dugin sich eine Erneuerung des Liberalismus wünscht, irgendwie.
Die Kritik des Liberalismus in seiner abgewirtschafteten Form des globalisierten Neo-Liberalismus und imperialer Globalisierung ist keine russische Spezialität, sondern eine globale — mit Trump als Zertrümmerer dieser nachsowjetischen Globalordnung, mit China als strategisch aktivem Botschafter eines neuen Kollektivismus mit globalem Anspruch im Gegenzug.
Beides ist der russischen Bevölkerung in ihrer jetzigen, nachsowjetischen Verfassung gleichermaßen fremd. Revolutionäre Impulse jedoch, die diese Verhältnisse aufbrechen könnten, sind in Russland vor dem Hintergrund von dessen revolutionsgesättigten Geschichte bis auf weiteres nicht zu erwarten. Es sei denn, es geschähe ein Wunder von kosmischen Ausmaßen, was natürlich nie auszuschließen ist.
Putin: Bewahrer
In dieser Situation, also unter den Bedingungen des Zerfalls der real existierenden globalen „liberalen“ Ordnung spielt Putin heute die Rolle des konservativen Bewahrers eben dieser Ordnung. Das galt zunächst innenpolitisch, indem er die Krise im Lande in einen Prozess der autoritären Modernisierung überführte, der in seinen Grundzügen den Vorgaben des westlichen Neo-Liberalismus folgte.
Auf der Grundlage der Wiederherstellung russischer Staatlichkeit, der den traditionellen russischen Zentralismus mit Elementen westlicher Verfassungsdemokratie zusammenführte, konnte er sich auf der Mitte seiner Amtszeit in die Rolle des internationalen Krisenmanagers begeben, hinter dem sich die Kräfte einfanden, die sich durch den Verfall der US-Ordnung gefährdet sehen. Das unabweisliche Stichwort dazu ist „Syrien“, wo Putin als Schutzpatron des Völkerrechts der Interventionspolitik der USA erfolgreich entgegentrat.
Dies alles geschieht aber beim gegebenen Stand der Völkerbeziehungen, wie er durch die Vereinten Nationen heute repräsentiert wird, das heißt, auf dem Stand des nach wie vor herrschenden neo-liberalen Dogmas der einheitlichen Nationalstaaten.
Der Krisenmanager wurde Putins undankbare, aber unausweichliche Rolle: Putin als Puffer zwischen der Abrissbirne Trump und dem Erneuerer Xi Jinping. Putin als Anwalt des globalen Status quo.
Diese Rolle ist aber nicht etwa willkürlichen Entscheidungen Putins zuzuschreiben. Sie beschreibt vielmehr die historisch gewachsene Stellung, die das nachsowjetische Russland heute zwischen der niedergehenden US-Ordnung und einem sich andeutenden chinesischen Zeitalter notwendigerweise einnimmt. In dieser Rolle ist Putin gefangen, außenpolitisch und mit entsprechendem innenpolitischem Ausdruck. Aus dieser Rolle folgt die Entwicklung einer innenpolitischen Realität, in der neo-liberale kapitalistische Modernisierungskampagnen und Zugeständnisse an die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen des Vielvölker- und multireligiösen Landes, bürokratischer Zentralismus und pluralistische Autonomie, staatliche Übergriffe und Laissez-Faire-Politik sich zu einem schillernden hybriden Konsens verbinden, der das Land wie ein Kokon überzieht, aber letztlich ebenso leicht verletzbar ist, wenn überspannt.
Dabei geht es nicht nur um Putin. Ein Nachfolger Putins, gleich ob Mann oder Frau, wird sich in der gleichen Rolle finden, wenn er oder sie in den genannten Widersprüchen dieses gewaltigen Landblockes nicht untergehen und zu Gewaltmaßnahmen gezwungen sein will. Gefangen aber ist natürlich nicht nur Putin, der auf der herrschenden nationalstaatlichen Völkerordnung besteht, obwohl er Präsident des größten Vielvölkerstaates der Welt ist, welcher ganz und gar nicht dem herrschenden Credo des einheitlichen Nationalstaates entspricht; gefangen sind in ihrer Rolle auch Trump als Zertrümmerer und Xi Jinping als Erneuerer und stiller Nutznießer der herrschenden Ordnung, solange keine andere Ordnung gefunden wurde, welche die abgenutzten Formen des Liberalismus ablösen könnte — so oder so.
Kulturelle statt territorialer Grenzen
So oder so, das bedeutet, von unten gefunden und von oben zugestanden werden entweder neue Wege der Selbstbestimmung der Menschen an der Basis ihres Lebens, das heißt, neue Formen des gleichberechtigten Umgangs miteinander jenseits der abgelebten Formen des Faschismus, des Sozialismus oder des Liberalismus, oder es entwickeln sich neue Formen von Fremdbestimmung, deren Dimensionen und Schrecken angesichts der heraufziehenden technischen Möglichkeiten sozialer und mentaler Kontrolle bisher nur zu erahnen sind.
Aufgespannt zwischen ausgehendem Liberalismus und am Horizont erscheinenden neuen, technisch gestützten Formen des Kollektivismus, wie er zurzeit am deutlichsten in China sichtbar wird, könnte sich in einem solchen Russland, das sich weder der einen noch der anderen Richtung voll zuneigt, eine Kultur entwickeln, die das fatale Entweder-Oder von Freiheit oder Gleichheit auf Basis ihrer tief in der Geschichte verwurzelten, vielfach gestaffelten Gemeinschaftskultur vermeidet. Dies könnte die historische Rolle Russlands als Integrationsknoten Eurasiens, als welcher es sich in den tausend Jahren wechselvoller Geschichte zwischen Osten und Westen, zwischen Zentralismus und Vielvölkerorganismus herausgebildet hat, in die Zukunft hinein fortschreiben.
Um nicht missverstanden zu werden: Hier kann nicht die Rede sein von einer Wiederherstellung des russischen oder gar des sowjetischen Imperiums. Die Zeiten der territorialen Machtentfaltung sind vorbei. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, mit dem voranschreitenden Zerfall der „einzigen Weltmacht“, wie Zbigniew Brzezinski die US-Hegemonie noch skizzierte (4), wird die jetzt erreichte nach-imperiale Stufe der heute erreichten gesellschaftlichen Entwicklung unübersehbar. An die Stelle territorialer Herrschaftsorganisation, die durch permanente Eroberung entstand und immer wieder militärisch gestützt wurde, tritt die ökonomische und technische gegenseitige Durchdringung, wenn auch nicht ohne Konflikte. Eben dieses Prinzip tritt heute in der chinesischen Expansion mit durchschlagender Kraft in Erscheinung.
Es soll auch nicht gesagt werden, dass die traditionelle russische Gemeinschaftskultur bruchlos in neue Formen einer demokratischen Kultur selbstbestimmter Individuen in erneuerter kooperativer Gemeinschaft übergehen könne. Aber Russland ist aus seiner hybriden Lage heraus geradezu verurteilt dazu, den eurasischen Raum als Organismus zu entwickeln, der anderen Regeln folgt als denen seiner östlichen und westlichen Gegenüber.
Anders gesagt, die Widersprüchlichkeit der Putinschen Politik, gerade wenn sie sich in zunehmendem Maße auf die Konservierung der bestehenden Verhältnisse verengt, erweist sich bei genauem Hinsehen als die beste Voraussetzung, ja geradezu als Beschleuniger für die Herausbildung von Impulsen, die nach Selbstbestimmung und Autonomie verlangen, verlangen müssen, um nicht zu ersticken.
Am Ende Putinscher Stabilität kann sehr wohl ein eurasischer Pluralismus mit der Realität selbstverwalteter Regionen stehen, in dem Föderalismus nicht mehr nur auf dem Papier steht, sondern den Alltag beschreibt.
Absehbar, zumindest denkbar ist, dass sich unter der bürokratischen Decke einer in Stagnation übergehenden Stabilität autonome Freiräume bilden, ähnlich wie sich zu sowjetischen Zeiten unter dem Druck der kollektiven Lebensorganisation abseits der Kollektive, also unter dem Schutz des kollektiven Daches, an den Rändern der Dörfer, Sowchosen, Kolchosen und Großbetriebe Freiräume für die Entwicklung nicht nur skurrilster Individualitäten, sondern große Potentiale gestauter individueller Initiative herausbildeten. Es war nicht zuletzt der Druck dieser stagnierenden kollektivistischen Struktur, der schließlich die Freisetzung der vielfach gebundenen individuellen Initiative erzwang, die dann unter Michail Gorbatschow ihren Ausdruck fand.
Russlands Anarchie — eine Chance
Der vielgeschmähte russische Anarchismus, die ewig andere Seite des russischen Zentralismus, macht es möglich. Wohlgemerkt möglich, nicht etwa zwingend erfolgreich. Bedingung ist, dass die anarchischen Strukturen Russlands als Kraft erkannt und nicht als Bedrohung bekämpft werden. Das gilt innerhalb Russlands ebenso wie für die Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Russland. Gewaltsame Unterdrückung dieser Kraft im Inneren Russlands ist ebenso gefährlich wie deren Stimulierung von außen.
Was Russlands Menschen nach dem Jahrhundertabsturz aus den Höhen der sozialistischen Utopie heute brauchen, ist Ruhe, Zeit zur Selbstbesinnung und zur Herausbildung neuer sozialer Strukturen jenseits der zusammengebrochenen Utopien des realen Sozialismus. Russland befindet sich in Rekonvaleszenz.
Die aktuellen Proteste zeigen aber, auch wenn erst nur in Ansätzen, dass unter der Decke des Putinschen Stabilitätskonsenses junge Kräfte heranwachsen, die die Entwicklung in die Hand nehmen wollen und tendenziell vielleicht auch können, wenn — ja, wenn sie nicht nur auf Moskau, nicht nur auf die Zentren, nicht nur auf die Parole „Nieder mit Putin“ und nicht nur auf Modernisierungsphantasien westlicher Provenienz beschränkt bleiben, sondern sich an die Menschen draußen im Lande wenden und, auch das muss leider deutlich gesagt werden, wenn sie sich nicht von außen zur Schwächung des Landes missbrauchen lassen. Anders gesagt, die russische Gesellschaft lebt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Das Interview, siehe dazu auch: Kai Ehlers, Ordnungsrufe aus Moskau
(2) Alexander Dugin, „Die vierte politische Theorie“, Arktos, 2013
(3) Yuval Noa Harari, 3 Bände: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, Pantheon 30 Auflage 2018; „Homo Deus“, C.H. Beck, 6. Auflage 2019 und „21 Regeln für das 21. Jahrhundert“, C.H. Beck, 2019
(4) Zbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“, Fischer tb 14358, 1999 (5. Auflage 2002), neu verlegt im Kopp Verlag 2015