Spiritueller Kapitalismus
Wie Religionen und „Positives Denken“ soziale Ungleichheit rechtfertigen.
Im spirituellen Ökonomismus wird Religion als Handelsbeziehung zwischen dem Menschen und einer kosmischen Macht interpretiert. Wer im Soll ist, muss Ausgleich schaffen; moralisch wie pekuniär müssen wir für alles bezahlen. Spiritueller Kapitalismus ist die Eskalationsstufe dieses Prinzips. Der Alptraum einer untilgbaren Schuld wird entworfen – mit Gott als unersättlichem Gläubiger. Im neoliberalen Zeitalter wird noch kräftig draufgesattelt. Ein spiritueller Wachstumswahn spiegelt den ökonomischen. Aus dem Prinzip „Gott segnet die Reichen“ wurde: „Das Gesetz der Anziehung gibt jedem, was er verdient.“ Diese Ideologie ist auch politisch gefährlich, da sie auf Armen-Beschimpfung und Reichen-(Selbst-)Lob hinausläuft und so die gegebenen Besitzverhältnisse stabilisiert.
Spiritueller Ökonomismus ist die Grundlage für spirituellen Kapitalismus. Man kann seine Prinzipien an einem einfachen Dialog aus Gerhard Polts Film „Man spricht deutsch“ verdeutlichen: „Wenn man brav ist, bekommt man ein Eis, wenn man nicht brav ist, bekommt man kein Eis.“ Ein solcher Dialog setzt ein Machtgefälle zwischen Eltern und Kind voraus, spirituell zwischen einer Gottheit und dem „einfachen Gläubigen“. Es findet eine Art Tauschhandel zwischen den kosmischen Mächten und den irdisch Unterworfenen statt. „Do ut des“ ist das Urprinzip: Gib, damit dir gegeben wird. Gib gute Taten, Gehorsam, Regelkonformität, und es wird dir dafür das Paradies, Vorschonung vor Höllenqualen, Erleuchtung gegeben. Hinter dem Prinzip „Tauschhandel“ steht noch ein weiteres, viel grundlegenderes: die Annahme, dass es in Interaktionen mit anderen Menschen (und mit dem Göttlichen“) ausschließlich um den eigenen Vorteil geht – mehr Geld für mich, ein größeres Haus, eine schönere Frau, einen bequemeren Platz im Himmel, eine bessere Wiedergeburt, eine vollständigere Erleuchtung.
Diese ökonomistische Grundhaltung (Interaktion als Tausch zum jeweils eigenen Vorteil) ist umso bemerkenswerter, wenn man die Alternative kennt. David Graeber hat in seinem ausgezeichneten Buch „Schulden – die ersten 5000 Jahre“ (1) viel zur Aufklärung beigetragen. Vor den modernen Formen der Marktökonomie, so belegt Graeber anhand vieler ethnologischer Untersuchungen, gab es eine Urform, die er „Humane Ökonomie“ nennt. Humane Ökonomie ist dadurch gekennzeichnet, dass wirtschaftliches Handeln immer aus mehreren Motiven erfolgt. Eine hoch gestellte Persönlichkeit in einem Stammeskollektiv verschenkt zum Beispiel Nahrung, Werkzeug oder Waffen an eine sozial weniger angesehene Person. Dies beinhaltet 1. den ehrlichen Wunsch, dieser anderen Person zu nützen, 2. die Absicht, sich gegenüber dem ganzen Stamm als Person von Ehre und Großzügigkeit zu zeigen, 3. gerade im Schenken einen Beweis des eigenen Reichtums zu liefern, eines Überflusses an „Schenkbarem“. 4. schließlich war vielleicht auch ein Stück Berechnung dahinter. Der Beschenkte könnte dem Schenkenden ja später einmal nützlich sein.
Tauschgeschäfte mit den Göttern
Ging es nun nicht mehr um Geschenke, sondern um Tausch, waren alle vier Motive bei beiden Tauschpartnern im Spiel, soweit ihre materielle Lage ihnen Großzügigkeit erlaubte. In archaischen Gesellschaften, so Graeber, spielte stets das gesellschaftliche Umfeld eine große Rolle, weil es sich beim Stamm um ein Kollektiv persönlich bekannter Menschen handelte. Erst als anonymere ökonomische Beziehungen üblicher wurden, Beziehungen zu Fremden, wandelten sich auch die Motive des Handelns. Das Bündel von Gründen reduzierte sich auf einen einzigen, den vierten: Man gab aus Berechnung, um beim Handelspartner möglichst viel für die eigene Person „herauszuschlagen“. Der historisch lange Zeitraum, in dem sich diese Veränderung vollzog, nennt Graeber „Achsenzeit“. Die Epoche ist identisch mit den Gründungsphasen der großen Religionen – ungefähr von 500 vor Christus (Buddha, Laotse) bis 600 nach Christus (Mohammed).
„Dies führte in der Achsenzeit zu einer neuen Art des Denkens über die Beweggründe der Menschen, zu einer radikalen Vereinfachung von Motiven, die es ermöglichen, Begriffe wie ‚Gewinn’ und ‚Vorteil’ zu verwenden. Es begünstigte die Vorstellung, dies seien die eigentlichen Beweggründe und Bestrebungen der Menschen, und zwar in sämtlichen Bereichen ihrer Existenz. (…) Man reduzierte das menschliche Leben gewissermaßen darauf, Mittel und Zweck abzuwägen.“ Diese Mentalität, nennen wir sie eigennutzorientiert, hinterließ deutliche Spuren auch in den Religionen der Achsenzeit. Es gab natürlich auch schon in den archaischen Kulten „Tauschgeschäfte mit den Göttern“: Opferte der Mensch Lebensmittel, Hausrat oder Tiere, gaben die Götter dafür Schutz, Segen, Verschonung von Katastrophen. Insofern beginnt die spirituelle Händlermentalität nicht mit der Lebenszeit Buddhas, eher wohl mit dem Übergang von Stammesgesellschaften zu frühen „Hochkulturen“.
Den Karma-Berg abtragen
Ein besonders auffälliges Beispiel von spirituellem Ökonomismus beschreibt Graeber anhand des chinesischen Buddhismus. Die dort sichtbaren Denkmuster werden Kenner der modernen esoterischen Karmalehre mühelos wiedererkennen. Der Buddhismus, so Graeber, sei über die zentralasiatischen Karawanenrouten nach China gekommen und sei dort zunächst vor allem von Händlern praktiziert worden. Dies habe „abgefärbt“. Obwohl es im Buddhismus offiziell keinen Gott, kein Gegenüber für einen Tauschhandel gab, scheint das Prinzip „do ut des“ die spirituelle Praxis bestimmt zu haben. Menschen gaben ihren ganzen Besitz einem Kloster. Sie gaben ihre körperliche Unversehrtheit hin, indem sie sich rituelle Brandverletzungen zufügten. Schließlich gaben viele von ihnen sogar ihr Leben. Es kam Mitte des 5. Jahrhunderts nach Christus zu dutzenden rituellen Selbstmorden, um „die Sünden aller Lebewesen zu sühnen.“ Die dahinterstehende Logik besagt: Das eigene Leben ist das wertvollste Tauschobjekt, das ein Mensch geben kann, ein entsprechend hoher Gegenwert ist also zu erwarten. Graeber: „Sie verwandelten sich also in ein Objekt von ewigem Wert, in eine Investition, die in alle Ewigkeit Erträge abwerfen würde.“ Ein Mönch schrieb: „Du kaufst Glück und verkaufst deine Sünden, ganz wie in einem Handel.“
Besonders die spirituelle Schule der „Drei Stufen“ pflegte ein ökonomisches Spiritualitätsverständnis: Zentral war die Vorstellung einer karmischen Schuld, „wonach sich sämtliche Sünden, die sich ein Mensch in seinem früheren Leben hatte zuschulden kommen lassen, zu einem Schuldenberg anhäuften, der abgetragen werden musste.“ Zahlungsunfähige Schuldner würden als Tiere oder Sklaven wiedergeboren. Vollständiger Schuldenerlass sei schwer, da jedes Leben, das dem karmischen Ausgleich für frühere Inkarnationen geweiht sei, neue Schulden hinzufügen könne. Eine Lösung allerdings bot die „Drei Stufen“-Schule an: „Man musste nur regelmäßig für den unerschöpflichen Schatz eines Klosters spenden – und augenblicklich waren sämtliche Schulden aus allen früheren Leben getilgt.“ (Graeber) Die Selbstbereicherung der spirituellen „Dienstleister“ soll hier aber gar nicht im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Ich erkenne an, dass jemand, der zum Beispiel im Bereich „spirituelles Heilen“ arbeitet, auch leben muss und für die aufgewendete Zeit Bezahlung verlangen kann. Auch unterstelle ich nicht, dass sich spirituelle Dienstleister allesamt eine goldene Nase verdienen. Dies ist ein typisches Vorurteil derer, die nicht mit der Szene vertraut sind. Hier geht es mir ausschließlich um „Händlerdenken“ im spirituellen Kontext.
Ausgleich fürs kosmische Konto
Wir finden in zeitgenössischen spirituellen Veröffentlichungen Varianten der skizzierten Lehre: Auf einer spirituellen Webseite (2) findet sich zum Stichwort „Karma“ die Erklärung: „Karma ist vergleichbar mit einem Bankkonto im Jenseits: Die himmlische Geisterwelt führt die Soll- und Haben-Bewegungen aufs Genaueste.“ Bedeutungsgleich auf einer anderen Webseite (3): „Unter Karma versteht man also eine Art ‚Kosmisches Konto’, d.h. die Summe aller noch nicht bewältigten Ursachen, die ihre Wirkung in jeder Existenz neu entfalten, um uns mit der Nase darauf zu stoßen, dass wir endlich Lieben und Vergeben lernen sollten.“ Gerade der Vergleich mit einer kontoführenden Bank scheint allerdings Vergebung auszuschließen. Es gibt nichts Unbarmherzigeres als ein Geldinstitut, das bei einem einmal ins Minus gefallenen Konto auf Ausgleich bis auf den letzten Cent pocht. Zum körperlichen, psychischen oder sozialen Leid, das Menschen erfahren müssen, kommt dann oft noch die Opferbeschimpfung durch vermeintlich wohlmeinende Karma-Ablösungs-Coaches: „Wir selber haben uns alles eingebrockt und entscheiden, was wir tun können, um unser Konto auszugleichen, mit liebevoller Unterstützung durch das Licht und alle Lichtwesen.“ (puramaryam.de)
„Du musst für alles bezahlen“ gehört also zu den grundlegenden Maximen des spirituellen Ökonomismus. Das suggeriert einen Erbsenzähler-Gott, der Strafpunkte in einer kosmischen „Flensburg-Datei“ verbucht. Mindestens ebenso absurd ist die Frage, welche Maßnahmen denn zur karmischen Kontobereinigung geeignet wären. Vielfach läuft es auf „spirituelle Austeritätspolitik“ hinaus. Der spirituelle Schuldnerberater rät zu einer Phase des Wohlverhaltens, die – wie in einem Privatinsolvenzverfahren – zum vollständigen Schuldenerlass führen kann. Auch in anderen Bereichen der zeitgenössischen Esoterik werden spirituelle „Sachverhalte“ in eine ökonomische Sprache übersetzt. Am bekanntesten ist die Vorstellung vom Universum als „Versandhaus“ (Bärbel Mohr) (4). Man bestellt, das Universum liefert, und sogar Reklamationen sind möglich. Generell gehört zum spirituellen Ökonomismus auch die Definition der spirituellen Dienstleistung als Ware, obwohl dies in einer durchkommerzialisierten Gesellschaft zugegebenermaßen schwer zu vermeiden ist. Es gibt in der spirituellen Szene allerdings Eskalationsstufen dieses Trends: Wenn etwa Methoden kreiert werden, die mit „The“ beginnen und für die Copyright angemeldet wird, dessen Verletzung durch Abmahnanwälte streng geahndet wird. Oder wenn die „Markenführung“ schon groteske Züge annimmt und an das Red-Bull-Prinzip erinnert: kein nennenswertes Produkt, umso aufwändigeres Marketing. Spiritualität verleiht Flügel.
Maxima Culpa – die untilgbare Schuld
Hier sind wir schon in einem Bereich, den ich nicht mehr als „Ökonomismus“, sondern als „spirituellen Kapitalismus“ bezeichnen würde. Spiritueller Ökonomismus drückt religiöse Inhalte in Kategorien eines Tauschverhältnisses zwischen dem Menschen und einer kosmischen Macht aus. Er wahrt insofern also noch den Anschein einer gewissen Gerechtigkeit und sinnvollen Ordnung. Jeder muss bezahlen, aber auch nicht mehr als er vom „Handelspartner“ erhalten hat. Demgegenüber stellt der spirituelle Kapitalismus eine Übertreibung, eine fast karikaturhafte Übertreibung ins Maßlose dar. Im spirituellen Kapitalismus versuchen die kosmischen Mächte (beziehungsweise ihre irdischen „Stellvertreter“) den Gläubigen zu übervorteilen, indem sie weitaus mehr von ihm verlangen als sie selbst geben. Mittel dazu ist vor allem der Begriff der Schuld, der nicht umsonst an „Schulden“ erinnert. Im spirituellen Kapitalismus wird die Fiktion einer untilgbaren Schuld kreiert. Die „Culpa“ (Schuld) in der Liturgie schwillt zur „Maxima Culpa“ an, zur übergroßen Schuld. Die höhere Macht erscheint in einer solchen Konstruktion als schier unersättlicher Großgläubiger, als spirituelles Pendant zum „raffenden Kapital“, das sich durch Schuld(en)dienst die Lebensenergie der Schuldner ad infinitum einverleibt.
Friedrich Nietzsche hat schon 1887 in „Zur Genealogie der Moral“ gegen eine derartige Ideologie protestiert. Die christliche Moral bringe einen Schuldner hervor, „in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe’) konzipiert ist.“ Nietzsche weiter: „Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seinesgleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könnte, sein Wille den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu infizieren und giftig zu machen.“ Auf der ökonomischen Ebene entspricht die Fiktion einer „untilgbaren Schuld“ der Überschuldung. Sie begegnet uns täglich in den Nachrichten im Kontext der Eurokrise. Leider wird zu selten auf die teilweise viel schlimmere Überschuldung der Länder des globalen Südens hingewiesen. Margrit Kennedy zitiert in ihrem Buch „Occupy Money“ (5) den nigerianischen Präsidenten Obasanjo: „Wir haben bis 1985 oder 1986 etwa 5 Millionen Dollar geliehen: Bis jetzt haben wir 16 Milliarden Dollar zurückgezahlt. Jetzt wird uns gesagt, dass wir immer noch 28 Milliarden Schulden haben (…) wegen der Zinsraten der ausländischen Kreditgeber.“ Eine solche Dynamik ist nicht selten im Zeitalter des Zinseszinses.
Der unerbittliche Gläubiger-Gott
Welche unglaubliche seelische Grausamkeit liegt darin, ein System zu kreieren, das Menschen und Staaten in hoffnungslose Überschuldung treibt – eine Schuld, die selbst durch noch so große Tilgungsbemühung in Ewigkeit nicht abzutragen ist und sich – im Prozess des Tilgens – immer noch weiter vergrößert! Auf religiöser Ebene entspricht die hoffnungslose Überschuldung der Deutung des Menschseins als prinzipiell schuldhaft – unabhängig von konkreten Taten. Im Gegensatz zu schlichten „Handelsbeziehungen“ wie in griechischen und indischen Opferritualen, gibt der Mensch im spirituellen Kapitalismus also stets weniger als Gott zusteht. Er lebt, wie Deutschland nach Ansicht neoliberaler Propagandisten, chronisch „über seine Verhältnisse“. Die daran geknüpfte spirituelle Austeritätspolitik entfremdet den Menschen seinen vitalen Bedürfnissen und reduziert seinen Selbstwert auf ein klägliches Maß.
Die Parallele zwischen ökonomischem und spirituellem Kapitalismus kann also so beschrieben werden: Eine vom Menschen selbst erschaffene, immaterielle Instanz (Kapital beziehungsweise Gott oder andere kosmische Mächte) unterwirft sich alle Lebensbereiche des Menschen bis in sein innerstes Denken und Fühlen hinein. Besagte Instanz rafft alle Lebensenergie an sich und bewirkt drastische materielle beziehungsweise psychische Verelendung. (Damit will ich im Übrigen nicht sagen, dass Gott nicht in der einen oder anderen Form existiert. Das hier skizzierte Bild von einem maßlosen, unerbittlichen Gläubigergott ist jedoch menschengemacht.) Im zweiten Schritt etabliert sich eine Gruppe von „Finanzexperten“ als Mittler zwischen Mensch und Kapital, etabliert sich eine Priesterkaste als Mittlerin zwischen Mensch und Gott. Diese „Vermittlergruppe“ beansprucht erfolgreich die Deutungshoheit über den Umfang und die Art der Schuld und über die Bedingungen, unter denen Schuld(en)erlass gewährt werden kann. Dies erlaubt es den Mittlern, neben geldwertem Vorteil, ihre Machtposition an Unterworfenen auszuagieren. Die Katholische Kirche hat mit ihrem Ablasshandel den „Klassiker“ des spirituellen Kapitalismus erschaffen. Der Bußprediger Johann Tetzel war zu Lebzeiten Luthers für diesen Spruch berühmt: „Sobald das Geld im Kasten klingt die Seele in den Himmel springt!“
Protestantismus: Gottes Segen für die Reichen
Wie Erich Fromm in seinem grandiosen Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ (6) aufgezeigt hat, darf der Protestantismus diesbezüglich aber seine Hände nicht in Unschuld waschen. Luther und vor allem Calvin haben ein negatives Menschenbild zur Blüte gebracht, wonach nur äußerste Selbsterniedrigung Gottes Gnade verdienen könne. So schrieb Calvin, nie habe es „ein Werk eines frommen Menschen gegeben, das, wenn es nach Gottes strengem Urteil geprüft wurde, nicht verdammenswert gewesen wäre.“ Nach Calvin hat Gott die Menschen schon vor der Geburt zu Paradies oder ewiger Verdammnis bestimmt. Durch keine noch so gute Tat könne der Mensch der Prädestination entrinnen. Erich Fromm: „Dieses Prinzip bringt es mit sich, dass es auch keine Solidarität zwischen den Menschen gibt.“ Der Arme, Entrechtete hat im Calvinismus zwar nicht „schlechtes Karma“, wohl aber „schlechte Prädestination“, so dass sich Mitgefühl erübrigt. Erich Fromm sieht diese Wertehaltung als kompatibel mit sozialer Härte und teilweise ursächlich für die Heraufkunft der modernen Industriesysteme. In den Anfängen des Calvinismus ging es nach Fromm eher um die „sittliche Leistung“ eines Menschen. „Später jedoch ging es hauptsächlich um berufliche Tüchtigkeit und deren Ergebnis, das heißt um den geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg. Erfolg wurde zum Zeichen von Gottes Gnade, Misserfolg deutete auf ewige Verdammnis.“ Der Protestantismus habe den Menschen auf seine Rolle vorbereitet, „die eigene Person außermenschlichen Zwecken unterzuordnen“ und somit „die Rolle des Dieners einer Wirtschaftsmaschinerie zu akzeptieren.“
Die Idee hoffnungsloser spiritueller Überschuldung beziehungsweise ererbter, zum Wesen des Menschen gehörender Schuld ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der auf Paulus und Augustinus zurückgehenden Lehre von der Erbsünde. In der vedischen Schrift „Satapatha Brahmana“ (Alter: mindestens 2500 Jahre) heißt es: „Durch die Geburt wird jedes Wesen als eine Schuld gegenüber den Göttern, den Heiligen, den Vätern und den Menschen geboren. Wenn man ein Opfer bringt, dann weil man den Göttern von Geburt an etwas schuldet.“ In den vedischen Hymnen gibt es auch die Vorstellung, Yama, dem Gott des Todes, sein Leben zu schulden. Durch die Geburt rutscht der Mensch automatisch ins „Soll“, und erst der Tod führt zum Ausgleich des Kontos. David Graeber fasst diese Philosophie so zusammen: „Die menschliche Existenz an sich ist eine Form von Schuld.“ Als Beleg zitiert er einen Ausschnitt aus der Satapatha Brahmana: „Ein Mensch ist, wenn er geboren wird, eine Schuld; durch sein eigenes Selbst wird er zum Tod geboren, und nur wenn er opfert, erlöst er sich vom Tod.“ Opfer (Sach- oder Tieropfer) sind demnach „Tributzahlungen an den Tod“ (Graeber). „In diesem Sinn ist der ‚Tribut’ des Opfers eine Art Zinszahlung; das Leben des Opfertiers ersetzt vorübergehend das, was wirklich geschuldet wird, nämlich unser eigenes Leben.“
Götter als Energie-Vampire
Eine eingeschüchterte Menschheit denkt sich die Götter (oder Gott) so klein, als würden diese jede Wohltat nur unter dem Vorbehalt genau quantifizierbarer Gegenleistungen gewähren. Schlimmer noch: Sie erwarten von den Menschen einen „Zins“ in Form eines Opfers an Lebensenergie. Es scheint, als würden die Himmlischen menschliche Selbstherabwürdigung wie einen giftig gewordenen schwarzen Rauch als Nahrung genießen können. Die Idee eines abhängigen Energie-Vampirismus durch die Götter findet sich noch in Goethes berühmtem Gedicht „Prometheus“. „Ich kenne nichts Ärmeres/ Unter der Sonn' als euch Götter!/ Ihr nähret kümmerlich/ Von Opfersteuern/ Und Gebetshauch/ Eure Majestät/ Und darbtet, wären/ Nicht Kinder und Bettler/ Hoffnungsvolle Toren.“ Diese imaginäre Götter-(Gewalt)herrschaft hat verblüffende Parallelen zur realen Herrschaft des raffenden Kapitals in der Ära des Neoliberalismus. Je kleiner jemand charakterlich ist und je mehr Defizite er in Bezug auf Lebensfülle bei sich wahrnimmt, desto mehr von der Energie anderer muss er sich durch Gewalt und List aneignen.
Der Buddhismus, den ich schätze, dessen Schattenseiten jedoch in der modernen „Spiri-Szene“ zu wenig gesehen werden, hat seine eigene Variante von untilgbarer Schuld entwickelt. So leitet eine Schule des chinesischen Buddhismus die Schuldhaftigkeit der menschlichen Existenz von der so genannten Milchschuld ab. Gegenüber dem Quantum der als Säugling verzehrten Muttermilch und anderen Vorleistungen der Mütter stehen wir ausweglos im Soll. Eine als unendlich gedachte Schuld kann logischerweise nur durch ebenso unendliche Tilgungsanstrengungen beglichen werden. In den Schulen des Mahayana-Buddhismus stellten die „unerschöpflichen Verdienste des Bodhisattvas“ diesen (gedachten) Ausgleich her. Die Gelübde des Bodhisattvas zielen auf den übermenschlichen und eigentlich zum Verzweifeln aussichtslosen Versuch ab, alle Wesen im Universum zu retten. „Seine unendliche karmische Schuld oder seine unendliche Milchschuld konnte man nur begleichen, indem man aus diesem ebenfalls unendlichen Reservoir der Erlösung schöpfte, das wiederum zur Grundlage für die tatsächlichen materiellen Mittel der Klöster wurde“ (Graeber).
Geldschöpfung – Schuldschöpfung
Im spirituellen wie im ökonomischen Kapitalismus gibt es grundsätzlich die Möglichkeit des Schuldenerlasses. Spirituell Überschuldete können auf einen Erlass hoffen, der unter dem Namen Gnade oder Vergebung bekannt ist. Dieser Akt ist aber nur positive Willkür Gottes und erfolgt stets im Widerspruch zur eigentlich der Erlösung unwürdigen Natur des Sünders. Die Erlösung des Menschen trotz des Menschen. In ähnlicher Weise gewähren Gläubiger überschuldeten Staaten gelegentlich einen „Schuldenschnitt“ – wie unlängst Griechenland. Im Beispiel von Margrit Kennedy könnten die Gläubiger Nigeria z.B. die Restschuld erlassen, nachdem das Land für 5 Milliarden geliehene Euro bereits 16 Milliarden „zurück“ gezahlt hat. Diese Art von Gnade erinnert mich stark an die Schlagzeile „Vergewaltigte Norwegerin begnadigt“ (Juli 2013). Eine Nordeuropäerin war nämlich in Dubai nach einer Vergewaltigung wegen unehelichem Geschlechtsverkehr verurteilt und dann freigelassen worden. Für so viel Großmut wollen die Justizverbrecher dann noch gelobt werden. So wie Gläubigerbanken gelobt werden wollen, wenn sie – nicht ohne zuvor ein Vielfaches des ursprünglich geschuldeten Betrags abgezockt zu haben – die „Restschuld“ erlassen.
Eine weitere Parallele zwischen ökonomischem und spirituellem Kapitalismus zeigt die Untersuchung des Modells der „Geldschöpfung“, wie es zum Beispiel von dem Geldtheoretiker Bernd Senf dargestellt wird. Senf zufolge kommt alles Geld, das in Deutschland geschöpft wird, als Schuld in Umlauf. Es wird gegen Zinsen an die Geschäftsbanken oder den Staat ausgeliehen. Bei Rückfluss des Geldes zur Zentralbank muss also mehr gezahlt werden als ursprünglich ausgeliehen wurde. Der Zins wird in klassischen Wirtschaftstheorien gern als „Prämie auf Liquiditätsverzicht“ definiert. Das Absurde daran: Das Geld, auf das die Zentralbank vorübergehend „verzichtet“, war zuvor gar nicht in deren Besitz, es existierte schlichtweg nicht. So ist der Wirtschaftskreislauf schon an der Quelle mit dem Problem der Schuld vergiftet. In Anlehnung an „Geldschöpfung“ spreche ich im spirituellen Bereich von „Schuldschöpfung“. Die Schuld wird zusammen mit dem Menschen (und untrennbar mit ihm verbunden) in unser Realitätssystem eingeschleust. Zur Tilgung des eigentlich Untilgbaren bieten die religiösen Institutionen Erlösungsdienstleistungen an. Die spirituelle Schuldnerberatung dient letztlich aber den Interessen des Gläubigers, also des fiktiven Kapitalisten-Gottes oder der die Karma-Buchführung betreuenden „Lichtwesen“. Beide pochen auf die Erfüllung (oft sogar Übererfüllung) des Buße-Solls.
Spiritueller Wachstumsdruck
Wenn wir also von der Idee eines durch menschliche Anstrengung nicht ausgleichbaren „Defizits“ ausgehen, wird auch verständlich, warum der Begriff des Wachstums sowohl im neoliberalen Kapitalismus als auch in der zeitgenössischen Spiritualität hoch im Kurs steht. Nach Graeber gehört „unablässige Expansion“ zum Beispiel zur Lehre des chinesischen Buddhismus. „Denn das Dharma musste wachsen, bis es irgendwann jeden und jedes Ding einschloss, um Erlösung für alle Lebewesen zu bewirken.“ Wachstum ist im Kapitalismus wie im spirituellen Kontext das verzweifelte Ankämpfen gegen einen gefühlten Abwärtssog. Wirtschaftlich kann Wachstum den durch eskalierende Zinszahlung verursachten Abfluss von Geldmitteln ausgleichen. Spirituell kämpft der Mensch gegen einen gefühlten permanenten Wertverlust an – durch „Sünde“ oder spirituelle Unkorrektheiten aller Art. Wer wachsen will, hält sich für zu klein. Wenn diese Satz stimmt, gilt dies für geschätzte 90 Prozent der spirituellen und esoterischen Szene.
Warum eigentlich? Ein sehr negatives Menschenbild muss dem zugrunde liegen – vergleichbar dem des Protestantismus zu Lebezeiten Luthers und Calvins. Ich meine hier nicht die Hingabe an ein natürliches, sich spontan vollziehendes Wachstum, sondern eine eskalierende Kultur der spirituellen Wachstumsbeschleunigung. In vielen Lebenshilferatgebern sind Beruf, Partnerschaft, Gesundheit und spirituelles Wachstum die vier Säulen eines erfüllten Lebens. Kein Lebensbereich – außer Geldanlagen – unterliegt einem so starken Wachstumsdruck wie das Feld der spirituell-therapeutischen Selbstoptimierung. Das Hinzufügen von immer mehr gilt als gleichbedeutend mit dem Guten schlechthin. Mit Sicherheit kommt dies auch daher, dass ein negatives Selbstbild ökonomisch verwertbar ist, die Einstellung „Ich bin gut so wie ich bin“ dagegen nicht. Die Anbieter von spirituellen Dienstleistungen verweisen uns in einer imaginären spirituellen Hierarchie auf einen Platz ganz unten, um uns die Leiter nach oben verkaufen zu können. Im Verlangen, spirituelle Offiziers- und Unteroffiziersränge zu erklimmen, scheuen wir keine Kosten und Mühen. Wir nehmen selbst im Grunde beleidigende Entwertungen des Status Quo klaglos hin (der Mensch schlafe nur, sei „unbewusst“, befinde sich permanent in einem verdunkelten Dämmerzustand oder ähnliches).
Das Evangelium der Reichen
Das Stichwort „Kosten“ bringt mich zu einem weiteren brisanten Punkt: Im Himmel, in den Buddhaparadiesen und „Nirvanas“ der Religionen dürften sich nur frühere Angehörige der Ober- und Mittelschicht aufhalten. Die anderen können sich die Kosten für erleuchtungsbeschleunigende Seminare schlicht nicht leisten. So erobern sich die Reichen, denen längst die Erde gehört, auch noch den Himmel. Das Lukas-Evangelium wurde oft als das „Evangelium der Armen“ bezeichnet, speziell von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Von den USA her kommend und unter dem Einfluss calvinistischer Lehren, hat sich in der Esoterik-Szene aber mittlerweile ein Evangelium der Reichen etabliert. Reichen-(Selbst)lob und Armen-Bashing sind en vogue. Das Scharnier zwischen traditionellen protestantischen Vorstellungen und modischen Eso-Trends à la „The Secret“ bilden Persönlichkeiten wie Dr. Joseph Murphy (1898-1981), langjähriger Vorstand der „Church of Divine Science“. Von Murphy stammt unter anderem der Satz: „Armut ist eine Krankheit des Geistes.“ Der „Vater des positiven Denkens“ benutzte die Bibel als Zitate-Steinbruch („Glaube versetzt Berge“), um seine populärpsychologischen Behauptungen zu begründen. In der zeitgenössischen spirituellen Trivialliteratur wird vielfach eine Eigenverantwortungsmentalität propagiert, die an neoliberale Meinungsmache erinnert.
Wer arm ist, hat Reichtum nur nicht intensiv genug visualisiert. Diese Philosophie kommt auch einer (Selbst-)Entlastung der Systemgewinner gleich. Nach dem „Gesetz der Anziehung“ erschafft sich jeder selbst sein Schicksal. Der deutsche Murphy-Schüler Erhard F. Freitag fasst zusammen: „Es gibt kein Problem, keine Krankheit auf dieser Erde, deren Ursache wir nicht in uns selbst erfahren könnten.“ Die Banker, Spekulanten und Konzernlenker können sich über solche spirituelle Schützenhilfe nur freuen. Sie müssen dann nicht mehr die Verantwortung für Probleme übernehmen, nur weil sie diese verursacht haben. Die spirituell verbrämte Gnadenlosigkeit gegenüber menschlichem Leid, die damit einhergeht, erinnert nicht nur an neoliberale Vorstellungen, sondern verweist noch weiter nach rechts. Der „natürliche Ausleseprozess“ zwischen ökonomischen Selektionsgewinnern und -verlierern wird von Positivdenkern prinzipiell bejaht. Er wird nur, im Vergleich zum politischen Sozialdarwinismus, auf eine geistige Ebene „gehoben“. Mental optimal trainierte Eliten können sich ihre Privilegien „herbei imaginieren“ und sich so aus der Verantwortung für sozial Schwächere billig selbst entlassen. Hilfe für sozial Ausgegrenzte würde in diesem Weltbild nur die spirituell läuternde Wirkung der Leiderfahrung verwässern und ist deshalb kontraproduktiv. Der österreichische Esoteriker Helmut Kritzinger schrieb: „Geben Sie einem Penner etwas in den Hut, dann helfen Sie dem nicht, sondern setzen ihn noch in seinem Karma fest.“
Resonanzgesetz: Jeder bekommt, was er verdient
Von Thorwald Dethlefsen stammt das Zitat, das alle Formen des spirituellen Kapitalismus schlüssig zusammenfasst: „Das Resonanzprinzip besagt, dass jeder das erhält, was er verdient.“ Hier wurde die „Handelsbeziehung mit himmlischen Mächten“ in ein anonymes „kosmisches Gesetz“ umgewandelt, das nicht bewiesen, allenfalls durch erfundene oder vorselektierte Fallbeispiele illustriert werden muss. Spiritueller Kapitalismus hebt die Unvereinbarkeitsklausel zwischen Gott und Mammon, auf die Jesus Wert legte, auf. Die Definition des Geldes als „Energie“ ist so verführerisch wie tückisch. Geld erscheint so als vom Bewusstsein her manipulierbar, nicht durch politische und ökonomische Strukturen, die regeln, wer sich Geld unter welchen Bedingungen aneignen kann.
Spiritueller Kapitalismus rechtfertigt auch die fortschreitende Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich oder – spirituell ausgedrückt – Himmel und Hölle. Wer arm und entrechtet ist, läuft Gefahr, von seiner Wut überwältigt zu werden, negative Schwingungen in die Welt zu setzen und von seiner Zukunft wieder nur Armut und Entrechtung zu erwarten. Damit zieht er gemäß dem Gesetz der Anziehung nur weiteres Leid auf sich. Der reiche, gesellschaftlich angesehene Mensch wird dagegen auch eine positive Ausstrahlung und positive Zukunftserwartungen haben. „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird Überfluss haben; wer aber nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, genommen werden.“ (Matthäus-Evangelium) Wohlhabende Karmagläubige meinen vielleicht, dass sie reich sind, weil sie gut waren; in Wahrheit sind sie gut, weil sie reich waren. Denn wer gewaltfrei, achtsam oder gar sozial engagiert lebt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ein wohlhabendes, bemühtes Elternhaus und eine gute Ausbildung genossen.
In ihrer übertriebenen Eigenverantwortungsideologie ist Reichen-Spiritualität tatsächlich nur Überbau des den Zeitgeist dominierenden Neoliberalismus. Dieser gefährlichen und herzlosen Philosophie sollte der vernünftigere Teil der spirituellen Szene künftig eine klare Absage erteilen. Make spiritual capitalism history!
Redaktionelle Anmerkung: Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte auf "Hinter den Schlagzeilen" (HdS), dem Magazin für Kultur und Rebellion. HdS wurde 2003 von Konstantin und Annik Wecker begründet, um ein Gegengewicht zur sehr einseitigen damaligen Berichterstattung über den Irak-Krieg zu schaffen. Die Seite bringt täglich Essays, Berichte, Satiren, Poesie, Musikvideos und Links über von den großen Medien vernachlässigte Aspekte unserer Realität, will aufklären, ermutigen und nicht-marktkonformer Kultur ein Forum bieten.
Quellen:
(1) David Graeber: Schulden – die ersten 5000 Jahre, Verlag Klett-Kotta
(2) astrosophie.briemle.net
(3) http://www.puramaryam.de
(4) Bärbel Mohr: Bestellungen beim Universum, Omega Verlag
(5) Margrit Kennedy: Occupy money, Verlag J. Kamphausen
(6) Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, dtv