Späte Wiedergutmachung

Die deutsche Politik offenbart ihre Verachtung für die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs waren nicht nur „Opfer zweier Diktaturen“, sondern auch Opfer der demokratischen Regierungen zwischen Berlin und Moskau. Deutschland behandelte die sowjetischen Kriegsgefangenen nach den Formeln des internationalen Rechts, nach denen die sowjetische Regierung bzw. ihre Nachfolgeregierungen für sie verantwortlich war. Dabei überging es aber, dass die Genfer Konvention bewusst ausgeschaltet wurde und schon die hohen Todeszahlen belegen, dass die sowjetischen nicht als normale Kriegsgefangene behandelt wurden. Auf der Seite östlich des Bug wirkten lange stalinistische Befehle nach, die Kriegsgefangenschaft als Feigheit vor dem Feind, ja als Verrat bestraften. Pavel Poljan zeigt im folgenden Artikel den zynischen Charakter der deutschen Entscheidung von 2015, an die kleine Gruppe derer, die bis dahin überlebt hatten, denn doch eine Entschädigung zu zahlen — und die Fortdauer militaristischer Verachtung für die ehemaligen Kriegsgefangenen östlich Weißrusslands an den wenigen Denkmalen, die es für sie in der Ukraine und Russland gibt.

Von Pavel Poljan

Nach der oft tödlichen Zwangsausbeutung durch Hitler in den Lagern, nach der Erniedrigung und Diskriminierung durch Stalin wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen ein weiteres Mal gekränkt und man ließ sie, ähnlich wie bei Stalin, Spießruten laufen. Verantwortlich waren diesmal die völlig demokratischen Regierungen in den Hauptstädten Berlin, Moskau, Kiew und Minsk. Den Kriegsgefangenen entging etwas Geld, aber vor allem wurde ihnen ihre letzte Selbstachtung genommen, indem ihr hartes und nicht beneidenswertes Schicksal der Gefangenschaft eingestuft wurde, als ob es eine Kompensation nicht rechtfertige.

Kompensationen aus Deutschland für ehemalige Häftlinge in Konzentrationslagern und an Ostarbeiter wurden schon seit längerer Zeit gezahlt. Teilweise wurden sie auch den Häftlingen gestohlen. Es gab Prozesse in der Ukraine, und auch beim Russischen Fonds „Gegenseitige Anerkennung und Befriedung“, über den die Auszahlungen in Russland abliefen, verschwand manches spurlos. Von Millionen ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener blieb nur der Schein. Es blieben – vielleicht – einige hundert kranke Seelen.

Entschädigung nach 70 Jahren

Aber plötzlich passiert das Unwahrscheinliche: Deutschland stimmt – als ob nichts gewesen wäre – Kompensationszahlungen für die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen zu!
Die Sache lief folgendermaßen ab: Zwei oppositionelle Fraktionen des Bundestages – die Linken und die Grünen – brachten einen Gesetzentwurf ein. Er durchlief den Haushaltsausschuss schnell, und am 18. Mai 2015 nahm der Bundestag das Gesetz über die Kompensation der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen einstimmig an – eine große Seltenheit! Eine Summe von 10 Millionen Euro wurde festgelegt. Man ging von einer einmaligen Zahlung von 2.500 Euro für jeden Antragsteller aus und orientierte sich an der Zahl von 4.000 Antragstellern. Als Berechtigte wurden Angehörige der Roten Armee angesehen, die von der Wehrmacht zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 8. Mai 1945 gefangen genommen worden waren. Die Zeit zwischen Einreichung und Verkündigung des Gesetzes dauerte vom 20. Mai 2015 bis zum 30. September 2017.

Kaum Überlebende

Das Recht auf Kompensation hat einen streng individuellen Charakter und kann der Nachkommenschaft nicht vererbt werden, abgesehen von dem Fall, dass ein Antragsteller starb, aber noch selbst den Antrag stellen konnte. (...)

Die ersten Zahlungen wurden Anfang 2016 geleistet. Die Daten des Pressedienstes des BADV vom 10. Oktober 2017, an dem die Annahme von Anträgen abgeschlossen wurde, sind folgende: Zuerst einmal gelang es keineswegs, 4.000 Antragsteller zu finden. Die Zahl der Anträge betrug fast die Hälfte — nur 2020. Von ihnen wurden 1142 anerkannt und 1122 ausgezahlt sowie 332 abgelehnt – der Rest befand sich bei Fertigstellung des Textes in Bearbeitung. Die größte Zahl der anerkannten Anträge kam mit 718 aus Russland und mit 250 aus der Ukraine, 71 aus Belorussland, 36 aus Kasachstan, 26 aus Armenien und 11 aus Georgien. Ein Teil der Antragsteller starb in dieser Zeit und die Kompensation wurde auf ihre Kinder übertragen.

Juristischer Präzedenzfall

Die Entscheidung Deutschlands, Kompensationen an ehemalige sowjetische Kriegsgefangene auszuzahlen, hatte einen zynischen Charakter – sie wurde über 70 Jahre nach dem Ende des Krieges getroffen und betraf als Zielgruppe hinfällige Alte von 90 Jahren und älter.

Es gab weder in Deutschland noch im postsowjetischen Raum darauf irgendeine Resonanz. Dennoch ist die Entscheidung ein juristischer Präzedenzfall, der anerkennt, dass die vorangegangene Politik Deutschlands der Nicht-Kompensation an die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen nicht nur schändlich, sondern außerdem ungesetzlich war.

Erinnerungskultur

Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen und dessen Verstetigung, also materielle Denkmale an den Orten ihrer Lager oder Märsche, gibt es nicht viele. Bücher über bestimmte Etappen sind auch wichtiger als Denkmale. Aber eine solche Fixierung des Gedenkens an diesen historischen Orten ist ein verlässliches Zeichen für das Verhältnis des Landes zum Phänomen selbst.

Das Netz der Lager der sowjetischen Kriegsgefangenen umfasste das gesamte besetzte Gebiet, und das waren ungefähr 2 Millionen Quadratkilometer mit etwa 45 Prozent der Vorkriegsbevölkerung der UdSSR. Das Netz bestand aus Dulags, Durchgangslagern, Transitlagern für die Registrierung und Verteilung der Kriegsgefangenen und Stalags, Stammlagern, also stationären Lagern für Kriegsgefangene im Hinterland oder auch im Reich selbst beziehungsweise in den Bereichen der zivilen Verwaltung von besetzten Gebieten, von denen es in Belorussland besonders viele gab.

In Deutschland sieht man Denkmale für sowjetische Kriegsgefangene am häufigsten auf Friedhöfen, die sich in der Nähe von ehemaligen Stalags und Konzentrationslagern befinden. In Zeithain, Sachsenhausen, Buchenwald, Bergen-Belsen, Senne und anderen Orten stellen Museen Grundlegendes über Kriegsgefangene aus. Zu den Gedenktagen besuchten Premierminister und Präsidenten diese Orte, gedachten der Tragödie des Kriegs und sprachen über die Schicksale der Kriegsgefangenen.

Genauso ist es in Polen, in Norwegen und sogar in Finnland, wo jene liegen, die in finnischen Lagern starben. Im polnischen Lambinovic, Lamsdorf, befindet sich das einzige Museum zur Geschichte der Kriegsgefangenschaft.

Postsowjetisches Gedenken

Im postsowjetischen Raum werden es deutlich weniger. Allerdings betrifft das nicht Belorussland. Es gibt deutliche Denkmale in Volkovysk, Stalag 316, Grodno, Stalag 32, Baranovichi, Stalag 337, Molodechno, Stalag 342; in Minsk, Stalag 352, gibt es sogar zwei Denkmale: auf dem Territorium des Mutterlagers Masukovshchina und am Ort der Filiale an der Ecke Kalinin-Koljas-Straße, in Borisov, Stalag 382 und sogar in Polock, Dulag 125 sowie Volkovysk, Dulag 231.

Ein monumentales Denkmal für die gefangenen Rotarmisten steht auf dem Platz des ehemaligen Stalag 350/Z in Salaspils bei Riga. Es wurde schon 1968 enthüllt, als eine Art Beigabe zum großen KZ-Memorial, das ein Jahr früher enthüllt wurde. Dem Namen nach gehören Gefangene in die Listen der Todesopfer, die im Memorial Baby Jar 1976 geführt wurden. Aber in der restlichen Ukraine, wo es besonders viele Stalags und Dulags gab, ist mir nur ein Denkmal für sowjetische Kriegsgefangene bekannt. Es wurde 1996 in Zaporozhe enthüllt.

Im Vergleich zur Ukraine gibt Russland ein ganz gutes Bild ab, im Vergleich zu Belorussland dagegen wirkt es blass. Die sowjetischen Veteranen-Rotarmisten hielten die Veteranen-Kriegsgefangenen insgesamt für Verräter und sorgten dafür, dass es weder in den Behörden auf Zentrumsebene noch auf Gebietsebene eine systematische Verstetigung des Gedenkens an sie gab.

Allerdings bildete ein Gebiet – Smolensk – in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Vielleicht weil genau auf diesem Territorium im Sommer 1941 an den Zugängen nach Moskau die große Schlacht mit der Heeresgruppe Mitte unter General von Bock geschlagen wurde. Also gab es viele kleine, noch einige Zeit von der Sowjetischen Armee verteidigte feste Bereiche zwischen den spitzen Pfeilen dieser gigantischen Einkreisungskessel Smolensk und Wjasma, so dass das Gebiet während des ganzen Krieges bei der Zahl der Kriegsgefangenen an der Spitze lag.

Es ist also nicht verwunderlich, dass eines der ersten Bücher in der UdSSR zum Thema schon 1963 in Smolensk erschien, das Buch von S. A. Golubkova über Dulag 130 in Roslavl, und in dieser Stadt das Gedenken an die Kriegsgefangenen aktuell war. Schon in den 1970er Jahren wurden drei Denkmale errichtet, das wichtigste auf der Straße Normandie-Njemen. Und ein viertes (!),völlig einzigartiges Erinnerungszeichen entstand auf der Kozlov-Straße: Es gedenkt einer Kolonne von Kriegsgefangenen im Gefecht, das im Oktober 1941 in unmittelbarer Umgebung der Stadt stattfand.

Erinnerung unerwünscht

In Wjasma – der Stadt, die mit dem anderen schrecklichen Kessel verbunden ist – erstreckte sich das Dulag 184 auf dem Gelände der bis zu Kriegsbeginn nicht fertig gestellten Flugzeugfabrik. Nach dem Krieg wurden die Opfer exhumiert, und die Lokalbevölkerung berichtet, es habe 45 Gemeinschaftsgräber für insgesamt 70.000 Menschen gegeben. Die Namen von mindestens 5.000 sind bekannt – das sind diejenigen, die 1942 im lokalen Lazarett für Kriegsgefangene im Verlauf weniger Monate starben.

Nach dem Krieg wurde dort, auf der Repinstraße, das örtliche Fleischkombinat eingerichtet, das in postsowjetischer Zeit natürlich privatisiert wurde. Ein Interesse daran, das Territorium entsprechend zu kennzeichnen und an der Auffahrt irgendeine Erinnerung aufzustellen, war weder bei den Genossen des Kreiskomitees der Kommunistischen Partei noch bei den Unternehmern vorhanden.

Vereinigung der Opfer

Das gab es aber bei Menschen, deren Verwandte – gefangene Rotarmisten – Insassen in jenem Lager waren. Fast jedes Jahr kamen diese zur Umzäunung des Fleischkombinats, wurden aber niemals auf die Auffahrt gelassen und legten ihre Blumen unmittelbar am Zaun nieder.

Als sie im Lauf der Zeit begriffen, dass jeder einzelne von ihnen in den Augen der Behörde nichts galt, schlossen sie sich in der Gesellschaft „Memorial von Wjasma“ zusammen, so dass es schon etwas schwieriger und schließlich sogar unmöglich wurde, sie zu übersehen. Ein und derselbe Brief, geschrieben von einem Enkel oder Sohn eines Toten, sieht auf der Netzhaut eines Behördenmenschen ganz anders aus, je nachdem, ob er auf einem aus dem Heft gerissenen Stück Papier, einem eigenen Blatt oder sogar auf gutem Papier mit Briefkopf geschrieben wurde. Auf Briefe von „Memorial von Wjasma“ musste man antworten, und 2011 wurden Vertreter der Gesellschaft – zusammen mit Viktor Semejkin, damals Bürgermeister von Wjasma – zum Organisationskomitee „Der Sieg“ eingeladen. Von der Einladung und Unterstützung begeistert, unterließ es der Bürgermeister nicht, auf die nahe Enthüllung des Memorials zu verweisen.

Das Memorial wurde wirklich enthüllt, nur etwas später – am 21. Juni 2014. Das Denkmal „Dulag 184“ bildet einen Komplex aus einer etwa drei bis vier Meter hohen Bronzeplastik, in deren Mitte sich Bronzefiguren von Menschen sowie 50 ausgewählte Fotos vor dem Hintergrund des Lagerwachtturms befinden. Den Grund bildet eine Betonplatte, auf der sich unten eine Granitpyramide mit Text befindet. Das Denkmal spendete die Russländische Militärisch-Historische Gesellschaft, RVIO, unter dem Vorsitz von Vladimir Medinskij. Der Bildhauer ist offenbar Salavat Shcherbakov: „Zum Gedenken an Tausende sowjetischer Kriegsgefangener, die unter Qualen starben.“ Verständlich, dass es ohne Pfusch nicht abging, aber im vorliegenden Fall ist der Fehler im russischen Text nicht historischer, sondern nur grammatischer Art. Auf der anderen Seite der kleinen Pyramide ist – ohne jeden Fehler – eingemeißelt „Das Denkmal wurde von der RVIO am 22. Juni 1941 eingeweiht. Der Bildhauer ist Shcherbakov S. A.“ Eine etwas platte Bescheidenheit dessen, der die Musik bestellt hat!

Ein dem Maßstab eher entsprechender Erinnerungsort – Dulag 100 - befindet sich nahe der Stadt Porchov im Gebiet von Pskov. Am 18. Juni 2016 schaltete ich auf die Minute genau das Fernsehen ein und kam auf die [Nachrichtensendung] „Vesti“ und glaubte weder meinen Augen noch meinen Ohren, weil es so unwahrscheinlich war, was ich hörte und sah: An jenem Tag wurde nahe Porchov ein monumentales Denkmal zum Gedenken an die Opfer des Dulag 100 für die sowjetischen Kriegsgefangenen eröffnet. Diese Anlage wurde, wie deutlich wurde, schon 1983 begonnen, also in sowjetischer Zeit! Und der Initiator und Organisator der Fertigstellung war … die Föderationsagentur für Straßenbau, Rossavtodor.

Wandernde Durchgangslager

Die Stalags veränderten ihre Nummerierung und ihre Lage kaum, aber bei den Dulags war das anders. Im Gefolge der Frontlinien „migrierten“ sie auf den Bühnen der militärischen Auseinandersetzungen und nicht selten auch über diese Bühnen hinweg, wenn diese oder jene Einheit, zum Beispiel aus Frankreich, als das Land schon besiegt und okkupiert war, in die noch unbesiegte UdSSR verlegt wurde.

Auch Dulag 100 wanderte. Nach den Angaben der deutschen Kriegsgefangenenforscher Rüdiger Obermans und Reinhard Otto wurde dieses Dulag am 27. Juni 1941 in Kaunas eröffnet, im 4. Fort. Ab 3. September 1941 und bis zum oder im November 1943 befand es sich bei Porchov, und seit Januar 1944 war es in Dünaburg, Daugavpils, eingerichtet, wo es bis zum 15. Mai 1944 bestand. Die letzte Erwähnung stammt vom 15. September 1944, es fehlt aber die Angabe des Orts, wohin es umgelegt wurde.

Porchov ist also der Ort, an dem dieses Dulag am längsten bestand - 26 Monate. Die Erbauer des Denkmals haben ihm sozusagen auf eigene Verantwortung noch einige Monate dazugegeben, indem sie die Schließung des Lagers mit der Befreiung Porchovs im Februar 1944 gleichsetzten. Sie haben dabei ignoriert, dass es unmöglich ist, ein Lager zu schließen oder zu evakuieren, wenn die Truppen des Feindes schon da sind.

Auf dem Granitsockel des Denkmals sind die Worte eingraviert: „Jeder, der hier vorbeigeht, möge in trauerndem Schweigen jener 85.000 sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten gedenken, die in den Jahren des Großen Vaterländischen Kriegs hier grausam zu Tode gequält wurden.“

Strittige Zahlen

Hier stolpern wir über noch eine streng arithmetische, aber historisch keineswegs unstrittige Hypothese: dass im Dulag 100 im Durchschnitt an jedem Tag hundert Menschen starben. Es ist durchaus möglich, dass genau solche Zahlen in irgendwelchen Quellen und vielleicht sogar in den Dokumenten der Pskover Gebietskommission der Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Feststellung der Kriegsverluste, ChGK, auftauchen. Kein deutsches Lager – weder der SS, noch der Wehrmacht, auch nicht Sauckels – erinnerte irgendwie an einen Kurort. In diesen Dulags geschah nicht nur die Registrierung der Kriegsgefangenen, sondern teilweise auch ihre Liquidierung. Es ist gut möglich, dass Nichtversorgung mit Lebensmitteln, Hunger und Typhus in Herbst und Winter 1941/42 zu Spitzen an Sterblichkeit geführt haben. Aber die Summe der Toten in dem gigantischen Lager Minsk lag bei etwa 40.000, so dass die Zahl von 85.000 Toten für das Dulag Porchov vollkommen phantastisch ist, aus dem Zusammenhang gerissen – man sollte sie nicht anführen.

Es hat jedoch keinen Sinn, das den Erbauern vorzuwerfen. Aber wo können sie sich angemessene Informationen holen, aus welcher Enzyklopädie, aus welchem Schlagwörterbuch?

Ungeachtet der ersten russländischen Publikationen und Ausstellungen über den Holocaust, über die Kriegsgefangenen und Ostarbeiter entsteht zwar nicht der Eindruck, dass die Machthabenden und die neue offizielle Militärwissenschaft erneut die humanitären Aspekte des Kriegs einfach vergessen – die Millionen erschlagenen oder auch nicht erschlagenen Juden, Zigeuner, Ostarbeiter, Kriegsgefangenen, Eingekesselten, Bewohner der okkupierten Gebiete. Wie eine Analyse des offiziellen vielbändigen Werkes, das vom Institut der Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der Russländischen Föderation zum 70. Jahrestag des Sieges herausgegeben wurde (1) ist das alles kein Tabu mehr, aber es befindet sich an der äußersten Peripherie.

Hierarchie der Kriegsopfer

Dadurch bleibt das Strategem der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee erhalten und ein künstlicher und unwahrer ideologischer Gegensatz postuliert: zwischen Veteranen erster Sorte, den Rotarmisten durch und durch, die auf den Schlachtfeldern gekämpft haben und nicht in Gefangenschaft gerieten, und allen übrigen, den Evakuierten und Überlebenden im Hinterland. Das ist die zweite Sorte, um ihre Verdienste gibt es keine Auseinandersetzung. Jene, welche im Okkupationsgebiet lebten oder nach Deutschland verschleppt wurden, sind die dritte Sorte und zu der vierte Sorte gehörten jene, die in Gefangenschaft gerieten. Diese Einordung ist künstlich, sie ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges im Innern, welche die Politische Hauptverwaltung gegen ihre eingebildeten und verachteten Feinde führte. Diese Gegenüberstellung mobilisierte soziale Aggression und zerstörte die Grundlagen für die Wiederherstellung der gegenseitigen Achtung im Lande sowie eine Konsolidierung des Vertrauens in der Gesellschaft. Es ist sehr verwunderlich, dass sogar 73 Jahre nach dem Ende des Krieges Kriegsgefangene, Ostarbeiter sowie die Opfer des Genozids an den Juden sich erneut nicht nur am Rand des Krieges befinden, sondern auch beim Sieg unsichtbar bleiben.

Die Unsichtbaren sichtbar machen

Aber ist es nicht an der Zeit, wenn auch postfaktisch, diese Sortierungen aufzugeben, das Phänomen als Ganzes zu werten und die bislang Unsichtbaren ans Licht zu holen? Und ist es nicht an der Zeit, einige grundlegende Bücher zu übersetzen und herauszugeben? Zum Beispiel die in Deutsch herausgegebene Sammlung von Dokumenten, die den Schicksalen der Kriegsgefangenen sowohl unter Stiefel und Knute der Deutschen in Gefangenschaft und Zwangsarbeit, als auch unter dem sowjetischen „Pfefferkuchen“ als Repatriierung und Filtrierung besonders gewidmet ist? Die Sammlung wurde von einem Kollektiv russländischer und deutscher Historiker (2) verfasst und existiert nur in deutscher Sprache. Wenn es den Band in russischer Sprache gäbe, dann hätten die Initiatoren des Denkmals in Porchov vielleicht ihre falschen Angaben nicht gemacht, weil sie einen vollständig anderen faktografischen Inhalt und historischen Kontext in Händen gehalten hätten.


Pavel Poljan, geboren 1952 Moskau, ist Geograph und Historiker sowie (mit dem Künstlernamen Pavel Nerler) Dichter. Er lebt zwischen Freiburg i.Br. und Moskau. Als Historiker ist er durch Bücher über das Schicksal der „Ostarbeiter“: [Zhertvy dvukh diktatur (Opfer zweier Diktaturen) ²Moskau 2002,] und die Stalinschen Umsiedlungen [Ne po svoej vole, Moskau 2001, englisch unter dem Titel „Against their will“ 2004] bekannt geworden. Auf Arbeiten zu den Kriegsgefangenen verweist er im vorliegenden Aufsatz. Kürzlich hat er eine Neuausgabe der vom Sonderkommando in Auschwitz vergrabenen Kassiber mit neuen Übersetzungen aus dem Jiddischen vorgelegt. Als Vorsitzender der Mandelstam-Gesellschaft hat er dessen Verfolgung dokumentiert.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst am 7. Mai 2018 in der Novaja Gazeta. Er wurde von Hans-Heinrich Nolte übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Der Große Vaterländische Krieg 1941 – 1945, Moskau 2011 – 2015, Verlag Kuchkoe Pole – 12 jeweils fast 1000-seitige Bände
(2) Rüdiger Overmans, Andreas Hilger, Pavel Polian Hg.: Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges, Paderborn, 2012, Schöningh