Sozialer Terror

Gewaltakte und Berichte darüber dienen nur dazu, kurzfristig das allgemeine Erregungslevel zu erhöhen und bewirken so einen Abstumpfungseffekt.

Ein Mordanschlag auf einen amtierenden Regierungschef, Sprengstoff in der Zigarre eines Revolutionärs, heimtückische Drohnenmorde oder Schüsse auf einen Bewerber um das Amt des US-Präsidenten sind keine Besonderheiten im Ablauf der Geschichte, sondern eine Wiederholung bekannter Muster. In der Epoche der totalen Vernetzung und der ökonomischen Verwertung von allem und jedem werden diese Gewaltakte zum Bestandteil des globalen medialen Spektakels: dem Informationsterror. Mitgerissen von einem Tsunami aus News, Bildern, Videos und Wissenssplittern, erzeugen sie einen Moment der emotionalen Erregung und versinken wie Steine im Ozean der Reizüberflutung. In ihm verschwimmen Realität und Fiktion.

Die Auseinandersetzung mit dem Großen und Ganzen wird abgelöst durch den starren Blick auf Details und die Beschäftigung mit Personalien. Die entwürdigende Zurschaustellung des amtierenden US-Präsidenten und seiner offenkundigen neurologischen Einschränkungen lieferte ein belastendes Indiz, dass es keine Rolle mehr spielt, ob in einem verwaltungstechnisch hoch spezialisierten und arbeitsteilig organisierten Staat ein Mensch, eine Maschine oder das Pferd von Caligula das höchste Amt bekleidet. Die Macht ist in staatlichen und privatwirtschaftlichen Strukturen aufgegangen, in denen jeder Einzelne ein auswechselbares Rädchen im Getriebe ist — da macht ein Präsident keine Ausnahme.

Acht Sekunden Aufmerksamkeit

Die in der digitalisierten Gesellschaft ausgeuferte Vernetzung saugt in Bruchteilen von Sekunden die Aufmerksamkeit der ganzen Menschheit ein und lenkt sie auf … irgendwas. In der transparenten Sphäre lösen sich die politischen Zusammenhänge auf. Soziokulturelle und ökonomische Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, Normen und Werte zerschreddert und die Urteilsfähigkeit zersetzt. Das ist durchaus erwünscht.

Denn die Fähigkeit des Menschen, sich eigene Urteile zu bilden, aus denen sich soziales Gewissen und Widerstand gegen Unrecht entwickeln kann, ist für jede Form der Herrschaft eine existenzielle Bedrohung.

Um das Ergebnis eines Attentats zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung nutzen zu können, ist die Erlangung der Deutungshoheit über die Motive und die politischen Folgen wichtiger als die Tat selbst. Die Wahrnehmung auf sich zu ziehen, um ideologische beziehungsweise politische Impulse platzieren zu können, ist in der Gegenwart eine kaum noch lösbare Herausforderung. Die mediale Ablenkung ist gewaltig und die Aufmerksamkeit flüchtig. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Mediennutzers liegt bei acht Sekunden (1). Schon allein aus diesem Grund eskaliert Terror zum Exzess, wenn er propagandistische Wirkung entfalten will.

Mord und Totschlag werden einem jungen und Multitasking-fähigen Publikum dargeboten und den Generationen der grauen Haare und Bierbäuche, die noch Taschenrechner, Block und Bleistift kennen. Bei der Nutzung von Smartphone und Tablet legt die eine Fraktion immer häufiger suchtartige Verhaltensweisen an den Tag, die andere mag sich von ihrer bürgerlichen „Jawohl-Mentalität“ nicht verabschieden. Sie alle wirbeln zwischen selektiver Wahrnehmung, kurzzeitiger Fokussierung und kognitiver Erregung hin und her. Das Attentat auf den republikanischen Bewerber um das Amt des US-Präsidenten bei einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat Pennsylvania am 13. Juli 2024 ist schon jetzt kein Thema mehr. Who cares?

Etwa die Wahrheit

Welche politische Dimension ein Attentat tatsächlich hat, wird nicht von seiner Qualität oder im Hier und Jetzt bestimmt. Selbst wenn die gegenwärtige Weltlage derartig angespannt erscheint, als könne ein falsches Wort ausreichen, um den ganzen Planeten in Brand zu setzen, bleibt die abschließende Bewertung einer in der fernen Zukunft liegenden Nachbetrachtung überlassen. Die ist durch den zeitlichen Abstand von der emotionalen Ebene entkoppelt. Sie stützt sich auf nüchterne Fakten und finalisiert in einer Beschreibung der dann historischen Ereignisse, welche Tat, Täter und Opfer berücksichtigt und einen gesellschaftspolitischen Gesamtzusammenhang darstellt.

Neutral ist das Ergebnis nicht, sondern ideologisch weichgespült. Es wird von Journalisten, Historikern und wem auch immer aufgeschrieben, was dem eigenen Portemonnaie oder Ego dienlich ist oder der Herrschaft genehm und unnötige Konfrontation vermeidet. Irgendwann kommt das raus, was so etwas Ähnliches wie die Wahrheit sein soll.

Die „Old School“ klammert sich an die Aussagen von Experten, die im Heuhaufen offizieller Quellen stochern und die Ereignisse „einordnen“. Derweilen eilt der überschleunigte Homo digitalis auf der Suche nach Erlebnis und Aufmerksamkeit durch die „sozialen“ Netzwerke und vorbei an zahllosen lustigen Videos, Pornobildern und Influencern, die für seichteste Zerstreuung sorgen. News über Selbstmordattentate in Nigeria oder Somalia speichert er wie die paralysierten Oldies im Ordner „Oh, schrecklich“ ab und pilgert weiter Richtung Smoothie, TikTok oder Olympia. Als Rückstand der wilden Reise bleiben ein paar Informationsfetzen zurück und Bilder, die schnell verblassen. Manches ist Trend, nichts ist von Dauer. Der Wissensgewinn ist marginal, das mediale Trommelfeuer kolossal und der Blick auf die Lebenswirklichkeit vernebelt. Das ist organisierter Psychoterror gegen die Bevölkerung, die sich mit dem Offensichtlichen nicht auseinandersetzen soll — mit dem, was vor der eigenen Haustür passiert.

Der letzte Strohhalm

Der rasant voranschreitende Prozess der technologischen Entwicklung, die Verdichtung von Besitz und Kapitalmacht, die Privatisierung der Gewalt und die politische Dominanz von Markt und Wachstum haben die alten Ordnungssysteme überrannt. Im globalen Norden sind die Religionen auf dem Rückzug, die Nationalstaaten befinden sich in Auflösung, und die soziale Ungleichheit in den Klassengesellschaften wurde durch theoretische Modelle der Partizipation maskiert. Die Parlamente und Institutionen sind ökonomischen Zwängen unterworfen, und das Kapital hat die Stelle der Gottkönige eingenommen.

Die politischen Funktionsträger, einst als Führungspersönlichkeiten wahrgenommen, präsentieren sich nun als beliebig austauschbare Hofnarren, gerade noch gut genug, um die Masse mit infantilem Gequatsche zu unterhalten und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

Im Windschatten der medialen Show aus Politgeschwafel, Waffenschau und Hurra-Fußball wird im Sinne des Kapitals extern Krieg angerührt und intern der soziale Terror ausgerollt. Was in den USA gang und gäbe ist, wird in Europa zum Standard. Die Mittellosen und die Ärmsten der Armen, die das hübsche Bild der Innenstädte trüben und möglicherweise Konsum und Umsatz bremsen, werden in „toleranten“ und „weltoffenen“ Großstädten wie zum Beispiel Hannover, Dortmund oder Hamburg wie selbstverständlich drangsaliert.

Die Vertreibung von Obdachlosen, die sich auf der Suche nach etwas Schutz vor der Witterung unter Brücken, Parkbänken, in den Eingängen von Kaufhäusern und in Garageneinfahrten ein Lager errichten, wird mit rechtlichen Formeln und Phrasen von Sicherheit et cetera begründet, die keiner weiteren Erwähnung wert sind. Das ökonomische Motiv schwingt den Taktstock, dem die Tugend des Mammon voranschreitet. Die in Paris im Zeichen von Olympia durchgeführten sozialen Säuberungen (2) demonstrierten dies eindrucksvoll.

Die Deportation von Obdachlosen in Regionen außerhalb der Stadt und fern der Blicke der erlebnishungrigen und finanziell potenten Freunde des sauberen Sports gipfelte in der Entsorgung von Zelten, Matratzen und den letzten Habseligkeiten der Verlorenen.

Die verachtenswerte Gemeinschaftsleistung von Politik, Justiz, Bürokratie und Polizei, die als Viererbande die Herrschaft des Kapitals abbilden, als einen Akt des sozialen Terrors einzustufen, ist sachlich begründet und sprachlich dem Zeitgeist angemessen. In einer der Hochburgen des Katholizismus, in der offensichtlich im Rausch eines zu erwartenden Profits vergessen wurde, dass Jesus Christus ein Obdachloser war, gibt es keinen Wohnungsmangel. Abertausende Objekte stehen in Paris leer und könnten als Unterkunft dienen. Sie tun es aber nicht.

Der Tourismus, der letzte Strohhalm, an den sich die Metropolen klammern, um die volkswirtschaftlichen Folgen der voranschreitenden Deindustrialisierung und die mit ihr verbundene Freisetzung menschlicher Arbeitskraft über den Dienstleistungssektor abzufedern, hat Vorfahrt. Dabei führt der Weg in eine Sackgasse: Nur wenn Menschen produzieren, entsteht Mehrwert, der in Kapital verwandelt werden kann, um den Zyklus der Produktion durch Reinvestition anzutreiben. Dennoch setzen immer mehr Regionen, Städte und Gemeinden auf die Karte des Tourismus. Gemeinsam werden sie das Pferd, das sich jetzt noch bewegt, schnell zu Tode reiten.

Im Namen der Halsabschneider

Die Olympischen Spiele boten eine Gelegenheit, um für Frankreich als Urlaubsziel und den Standort Paris die Werbetrommel zu rühren. Da ein Bad in der berühmten Seine als Attraktion ausfällt, weil der Fluss mit Coli-Bakterien verseucht ist, die einen glatt umbringen können (3), liegt ein Augenmerk auf der urbanen Ästhetik. Um Touris anzulocken, müssen die Straßen clean und das Angebot trendy sein. Der Anblick von Obdachlosen ist ein Störfaktor, also müssen sie irgendwo anders hin. Wohin, ist egal. Hauptsache, aus den Augen und aus dem Sinn. Der olympische Mietrubel rollte trotzdem nur mäßig. Die Auslastung der mehr als 100.000 angebotenen Zimmer soll bei knapp unter 60 Prozent gelegen haben. Warum es dennoch keinen Platz für Wohnungslose gibt, lässt sich mit einem Wort erklären: Gier.

2023 lagen die weltweiten Einnahmen aus dem Geschäft mit dem Tourismus bei rund 1,5 Billionen US-Dollar (4). Ganze Regionen hängen bereits an diesem Tropf, der bei schwindender Industrie wie eine Blutpumpe immer mehr Patienten versorgen muss. Weltweit buhlen die Metropolen mit ihren explodierenden Angeboten aus Fressen, Saufen, Shoppen, Sideseeing und Entertainment um die Gunst zahlungskräftiger Touristen, die um den halben Erdball reisen, um ihr Geld auf den Kopf zu hauen. Besonders spendabel sind US-Amerikaner und Chinesen. Die Russen, nicht minder verschwenderisch bei ihren Urlaubsreisen, fehlen. Sie haben sich nach dem Quasi-Lokalverbot durch die Europäische Union umorientiert und sind jetzt vor allem in der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Sri Lanka, Ägypten, auf den Malediven und in Thailand anzutreffen.

Durch ein Überangebot bei den Privatvermietungen blieben bei Olympia viele Zimmer ohne Gäste. Und trotz eines ohnehin gigantischen Leerstands bleiben die Mieten für Wohnraum hoch. Weder die Niedriglöhner aus den Dienstleistungssektoren noch Saisonarbeiter, das Prekariat aus der Gig Economy oder die Masse der Studenten, die es an die Hochschulen zieht, können sich die teuren Wohnungen leisten. Sie weichen auf Angebote aus, die alles andere als sexy sind: abrissreife Bruchbuden, dunkle Keller, Zimmer mit Mehrfachbelegung und so weiter.

Der Wohnungsmarkt hat sich in ein Eldorado für Miethaie und geldgierige Halsabschneider (5) verwandelt. Diese Terroristen bleiben der Stadt erhalten, während die Obdachlosen von der Staatsmacht entsorgt werden.

Darin offenbart sich die Logik hinter dem sozialen Terror der „guten“ Gewalt, dem das Privateigentum seinen Aufstieg auf den Thron verdankt. Immer mehr Menschen wird der soziale Abstieg beschert, und noch viel mehr Menschen lässt man außerhalb des sich verengenden Sichtfeldes verrecken. Und das ist nur ein Beispiel für Realität.