Sozialer Rassismus
Auf globaler Ebene wird der Gleichheitsgrundsatz völlig missachtet. Exklusivabdruck aus „Das bedingungslose Grundeinkommen“.
Der Idee nach soll ein Grundeinkommen „bedingungslos“ sein. Dennoch muss eine Bedingung immer erfüllt sein: die Empfänger müssen deutsche Staatsbürger sein. Idealisten schwärmen zwar von einem Recht auf Existenzminimum, das allen Menschen auf der Erde zustünde; die Realität ist aber eine andere. Der reiche Norden profitiert massiv von der Ausbeutung des Südens, es herrscht ein institutionalisierter Einkommensrassismus. Statt Schwarzen in Afrika ein Minimum an Fairness zuzubilligen, streiten Liberale in Deutschland darüber, wie man sie korrekt zu bezeichnen hat. Ein Grundeinkommen in den reichen Ländern würde diese empörende globale Schieflage nur verschleiern.
Wie in den Auseinandersetzungen der vorangegangenen Kapitel sichtbar wurde, würde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht zu einer Erleichterung für einkommensschwache Haushalte führen, sondern deren Situation erheblich verschlechtern. Doch einmal angenommen, sämtliche hier vorgebrachten Argumente gingen in die Irre und es wäre tatsächlich möglich, die Einkommensfrage zu einer Rechtsfrage zu machen und auf diesem Weg jedem Menschen zu einem menschenwürdigen Grundeinkommen zu verhelfen. Dann müsste geklärt werden, wer eigentlich „jeder Mensch“ ist, wer also in den Genuss eines solchen Rechts kommen soll?
Auf die Frage, ob die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht zu einer massenhaften Zuwanderung führen würde, antwortet dm-Chef Götz Werner jedenfalls:
„Wir verfügen doch längst über ein Regelwerk, das die Zuwanderung in unser Sozialsystem begrenzt. Die Schweiz ist in dem Punkt noch deutlich restriktiver. Man muss dieses Modell nicht gut finden, aber es zeigt: Man kann der sogenannten Zuwanderung in den Sozialstaat wirkungsvoll Grenzen setzen“ (1).
Das klingt zynisch. An anderer Stelle äußert Werner allerdings auch, dass das Grundeinkommen als Menschenrecht anzusehen und deshalb eigentlich überall einzuführen sei. Die Einführung in Deutschland und die daraus resultierende Zuwanderungsproblematik versteht er also offenbar als Etappe auf dem Weg zu einem größeren Ziel. Auch auf der Webseite der Initiative „Netzwerk Grundeinkommen“ kommt diese Auffassung zum Ausdruck:
„Das Grundeinkommen ist ein Menschenrecht, nicht ein Recht, das an eine bestimmte Nationalität gebunden ist. Das Ziel des Netzwerks ist die europa- und weltweite Einführung des Grundeinkommens und der Zugang aller Menschen zu einem Grundeinkommen, egal wo sie leben. Bei der Einführung eines Grundeinkommens zunächst in einem Land sollen auch Ausländerinnen und Ausländer das Grundeinkommen erhalten“ (2).
Demnach müsste jedem Menschen auf dieser Erde ein so hohes Einkommen zugesprochen werden, dass er dadurch gewisse Grundbedürfnisse befriedigen kann — unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit. Man dürfte nicht anfangen, Unterschiede in der Definition von „Menschenwürde“ zu machen, je nachdem, ob man von einem Deutschen oder zum Beispiel einem Kongolesen spricht.
Wenn also das Menschenrecht in Deutschland zum Beispiel bedeutet, dass jeder Mensch sich gesund und ausgewogen ernähren, gute Kleidung tragen, Miete bezahlen, Möbel erwerben, Auto fahren, im LTE-Standard telefonieren und die Kinder auf eine gute Schule schicken kann, dann bedeutet dieses Recht im Kongo dasselbe. Es dürfte nicht vorausgesetzt werden, dass ein Kongolese quasi von Natur aus weniger Bedürfnisse befriedigen muss als ein Deutscher. Wie aber könnte ein solches Recht erfüllt werden, auf welchem Weg könnte die Menschheit zu einer wirklichen Einkommensgerechtigkeit gelangen?
Wie der Rassismus uns ernährt
Gegenwärtig liegt das Real-Einkommen selbst eines gut verdienenden Kongolesen deutlich unter dem Real-Einkommen eines Hartz-IV-Empfängers in Deutschland — obwohl beide Teil derselben, arbeitsteiligen Wirtschaft sind.
Rund 12 Millionen Kongolesen arbeiten im Bergbau und fördern unter anderem den Großteil des weltweiten Kobalt- und Coltan-Bedarfs für die Herstellung von zum Beispiel Smartphones, Laptops und Autobatterien. Etwa 40.000 dieser Minenarbeiter sind Kinder, oftmals erst 7 oder 8 Jahre alt, die für etwa 50 Euro Monatsgehalt 12 Stunden täglich Gesundheit und Leben riskieren. Deutsche konsumieren die im Kongo geförderten Rohstoffe, indem sie Elektronik-Geräte wie zum Beispiel Kühlschränke, Fernseher oder Fahrstühle nutzen. Nichts würde in Deutschland ohne die übermenschliche Leistung der Bewohner im „Herzens Afrikas“ funktionieren. Ein wesentlicher Teil des Real-Einkommens der Deutschen wird also von Kongolesen erwirtschaftet. Hier stellt sich zunächst die Frage:
Wenn Deutsche offenbar die Erzeugnisse von Kongolesen so dringend brauchen, wie kommt es dann, dass die Kongolesen dafür nicht die Preise nehmen, die ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten?
Um das zu verstehen, muss man verfolgen, was umgekehrt von Deutschland in den Kongo fließt. Deutsche Unternehmen liefern vor allem Know-How und Maschinen, und zwar vorrangig für den Betrieb der Minen, in denen die Kongolesen arbeiten. Was so von Deutschland in den Kongo fließt, gehört im Kongo dann allerdings auch wieder Deutschen oder anderen Mitgliedern der internationalen Konsortien, die dort die Minen betreiben, darunter zum Beispiel der hier bereits erwähnte Schweizer Konzern Glencore, oder Randgold Resources, an der die Schattenbank BlackRock wiederum knapp 18 Prozent hält, und so weiter.
Das heißt: die Kongolesen geben die Arbeit ihrer Hände, die Deutschen dafür die Technologie, also das Produkt ihres Geisteslebens — aber eigentlich geben die Deutschen ihre geistigen Erzeugnisse nicht wirklich. Denn der Geist verbindet sich hier mit dem römischen Erbe in Form der juristischen Person, dem Patent, dem käuflichen Eigentum und so weiter und staut sich dadurch gewissermaßen zurück. Obwohl real in Zentralafrika verortet, fällt der Großteil der Wertschöpfung rechtlich gesehen dem Westen zu, wird also „Recht auf Einkommen“ unter anderem auch für deutsche Staatsbürger.
Während die Weißen über die „politisch korrekte“ Bezeichnung für einen Schwarzen philosophieren, leben sie vom System gewordenen Rassismus. Das Geistesleben der Weißen hat im Laufe der mitteleuropäischen Kulturgeschichte Naturwissenschaften, Technik und Geldwesen zur Blüte getrieben und versteht es nun, sich mit Hilfe dieser Erfindungen selbst die Arbeit zunehmend zu ersparen, indem es die Körper der Schwarzen verbraucht. Das ist der realwirtschaftliche Unterboden jener „Digitalisierung“, von welcher die Grundeinkommensbewegung sich nun die endgültige „Befreiung von der Erwerbsarbeit“ erhofft. Gelingt einem Schwarzen die Flucht nach Europa, nennen ihn die Weißen abwertend „Wirtschaftsflüchtling“ — als sei es etwas Anrüchiges, sich der Ausbeutung zu entziehen. Doch der andere Weg, nämlich im eigenen Land zu bleiben und sich dieses zurückzuerobern, ist ausgeschlossen.
Die „westliche Staatengemeinschaft“ garantiert den westlichen Investoren nämlich „Rechtssicherheit“ im Kongo und paktiert zu diesem Zweck mit Diktatoren und Warlords. Ein wichtiger Baustein sind dabei die sogenannten „Investitionsschutzabkommen“, die zwischen allen Drittweltländern und westlichen Staaten bestehen, so auch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der „Demokratischen Republik Kongo“.
Die Abkommen garantieren äußerst trickreich den Abfluss der Werte in die westliche Hemisphäre, „schützen“ Konzerne und Pensionsfonds vor demokratischen Entwicklungen und delegieren Streitigkeiten an internationale Schiedsgerichte. Diese Architektur der Ausbeutung, die im Folgenden noch genauer beschrieben wird, hat die Bundesregierung in allen „lohnenden“ Drittwelt-Ländern installiert. Insofern ist die Mehrheitsmeinung der Deutschen, dass „Kriegsflüchtlinge“ (vielleicht) willkommen seien, „Wirtschaftsflüchtlinge“ dagegen „zu Hause bleiben“ und besser mal das „eigene“ Land auf Vordermann bringen sollten, im besten Fall Ausdruck einer vollständigen geistigen Amnesie des einstigen Volks der „Dichter und Denker“, im schlimmsten Fall aber ein ganz bewusster, menschenverachtender Opportunismus.
Die Architektur der Ausbeutung
Deutschland war bei der Errichtung dieser Architektur federführend, wie Friederike Diaby-Pentzlin, Professorin für Gesellschafts- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Hochschule Wismar, erläutert:
„Im Gegenschlag der heutigen Verlierer kam es ab den 1950er Jahren im Zusammenhang mit politischen und wirtschaftlichen Dekolonisationsprozessen zum Teil zu spektakulären Enteignungen. Die Eigentumsschutz-Regeln des allgemeinen gewohnheitsrechtlichen Völkerrechts (‚Fremdenrecht‘) boten aus Sicht der Investoren dagegen keinen ausreichenden Schutz. Daher wurde zum einen versucht, Konzessionsverträge zwischen Investor und Gastgeberstaat aus der Sphäre des nationalen Wirtschaftsrechts auf die Ebene des Völkerrechts zu ziehen.Sogenannte ‚Stabilitätsklauseln‘ sollten das Recht des Gastgeberstaates zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses einfrieren, um spätere Enteignungen unmöglich zu machen.
‚Internationalisierungsklauseln‘ sollten den direkten Weg zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und dort auch die Anwendung von völkerrechtlichem Enteignungsschutz sicherstellen. Außerdem entwarfen 1959 der Direktor von Shell Petroleum, Rechtsanwalt Shawcross, und der Vorstand der Deutschen Bank, Abs, die sogenannte Abs-Shawcross Draft Convention on Investment Abroad mit hohem Schutzstand. Sie formulierten ‚gerechte und billige Behandlung‘ (fair and equitable treatment — FET) von Investitionen und bereiteten damit dem Konzept von sogenannten indirekten Enteignungen den Boden“ (3).
Unter „indirekten“ Enteignungen sind Maßnahmen zu verstehen, die den „Wert“ einer Investition schmälern. Ändern sich zum Beispiel in dieser Hinsicht die Rechtsverhältnisse zu Ungunsten der Konzerne, wie zum Beispiel durch die Anhebung des Tagelohns von zwei Dollar auf einen menschenwürdigen Mindestlohn, können letztere auf Grund der Investitionsschutzabkommen Schadensersatz fordern, wofür wiederum die Bundesregierung einstehen muss. Sofern also zum Beispiel die Rechtsverhältnisse in afrikanischen Ländern, die den gegenwärtigen „Wert“ der deutschen Investitionen begründen, im hier bedeuteten Sinn tatsächlich als Unrechtsverhältnisse anzusehen sind, garantiert die Bundesregierung die Unrechtsverhältnisse in diesen Ländern — wodurch der deutsche Staat ein innewohnendes Interesse an der Kooperation mit den antidemokratischen und anti-freiheitlichen Kräften in jenen Ländern und der Unterstützung entsprechender kriegerischer Konflikte gewinnt.
[...]
Das Ideal der Brüderlichkeit
Die Deutschen sind angewiesen auf die Arbeitserzeugnisse der Afrikaner. Hätten die Deutschen nicht den „starken Staat“ hinter sich, könnten die Kongolesen deshalb auch die Preise ansetzen, die sie tatsächlich nehmen müssen — und die Deutschen würden ihrerseits abhängig von der Nachfrage der Kongolesen. Zwischen den Einkommen von Deutschen und Kongolesen würde sich ein mittleres Niveau einpendeln, sobald Leistung und Gegenleistung ohne Dazwischenschaltung von „Rechten“ frei verhandelt werden könnten.
Die Einwohner des an Bodenschätzen so unfassbar reichen Kongo würden ein menschenwürdiges Einkommen beziehen — während Deutschland dafür wohl insgesamt ärmer würde. So konkret muss heute das Ideal der „Brüderlichkeit“ gefasst werden — diese ist keine abstrakte Moralvorstellung, sondern ein in der Natur der Weltwirtschaft verankertes Prinzip. Seit dem Heraufkommen der Weltwirtschaft ist wirtschaftlich gesehen nur der Altruismus möglich, denn wer in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft den anderen schädigt, schädigt sich selbst — es sei denn, er hat das „Recht“ auf seiner Seite.
Der Egoismus kann nur über den Umweg des Staates in die Wirtschaft gelangen, mit Hilfe der in dieser Schrift skizzierten Mittel. Die Wirtschaft als solche aber strebt danach, ihn zu überwinden, denn wirtschaftlich gesehen ist jeder Mensch das Glied eines die Welt umspannenden Gesamtorganismus. Eine menschenwürdige Gesellschaft ist somit erst möglich, wenn das Wirtschaftsleben die Möglichkeit erhält, sich selbständig nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten zu entfalten — wie das zu verstehen ist und wie Liberalismus und Neoliberalismus hierzu stehen, wird unten noch genauer erläutert.
Der Einwand, dass auch bei einem direkten, rein wirtschaftlichen Austausch die eine Seite die andere übervorteilen könnte, zum Beispiel weil die Deutschen auf wissenschaftlichem Gebiet überlegen seien und deshalb immer das Geistesleben in Form eines technologischen Vorsprungs in das Wirtschaftsleben hineinspielte, ist indes richtig. Deshalb ist hier eben nicht die Rede von einem Dualismus zwischen Staat und Wirtschaft, sondern von einer Trinität aus einem jeweils selbständigen Staatsleben, Wirtschaftsleben und Geistesleben. Entlässt der Staat auf der einen Seite das Wirtschaftsleben und auf der anderen Seite das Geistesleben in die Freiheit, hört augenblicklich die Möglichkeit auf, die Genies dieser Erde für die Übervorteilung anderer einzuspannen. Denn nur solange der Staat zum Beispiel das „Patent“ in den Leistungstausch zwischen den körperlich und geistig arbeitenden Menschen schaltet, ist die Illusion aufrecht zu erhalten, Dritte könnten geistige Erzeugnisse „besitzen“ und sogar „handeln“.
Beim Erwerb von Maschinen und Technologie, indirekt aber auch beim Kauf jeder beliebigen Ware muss der Schwarze Kontinent heute die Ideen oftmals längst verstorbener europäischer Genies bezahlen. Doch so wie der Satz des Pythagoras der ganzen Menschheit gehört, so ist in Wahrheit zum Beispiel auch der Großteil der rund 140.000 Patente im Besitz der Firma Bosch (4). Bezahlt werden kann nämlich nur der geistige Arbeiter, solange er in Verbindung mit seinem geistigen Erzeugnis steht, also wenigstens lebt — der Geist an sich ist dagegen unbezahlbar. Löst sich der Zusammenhang zwischen tätigem Genie und seinem geistigem Erzeugnis, zum Beispiel durch den Tod, hört in einem freien Geistesleben auch die Möglichkeit auf, irgendjemanden für letzteres zu bezahlen.
Der „Fortschritt“ kann niemanden mehr versklaven, sobald nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch das Geistesleben auf seinen selbständigen Boden gestellt und so überhaupt einmal grundsätzlich ebenfalls als soziales Glied gedacht werden kann, das heißt, wenn das geistige Erzeugnis nicht mehr staatlich subventioniert und dann privatwirtschaftlich besetzt wird, sondern der gegenseitigen Kulturförderung im Sinne eines „freien Geisteslebens“ dient. Dann stehen sich auch hier Leistung und Gegenleistung unmittelbar gegenüber, sodass der geistige Arbeiter ebenso auf das Verständnis und die Wertschätzung seiner Mitmenschen angewiesen sein wird, wie jene auf das Bedürfnis nach den Erzeugnissen ihrer Hände Arbeit.
Das nun ebenfalls selbständig werdende Staatsleben wird dann seinerseits nunmehr ausschließlich rein rechtliche Fragen zu behandeln haben und gerade deshalb den körperlich arbeitenden Menschen erstmals wirklich vor der Ausbeutung durch jene, die sich die körperliche Arbeit Dank ihres Genies ersparen können, schützen — zum Beispiel durch die hier bereits erwähnte demokratische Regelung die Arbeitszeit.
Die Grundeinkommensbewegung übersieht die banale Tatsache (oder nimmt sie billigend in Kauf), dass sich ein Recht nur dann auf das Einkommen auswirkt, wenn es als privates oder nationales Vorrecht einer der beteiligten Parteien verstanden wird. Sobald das Recht dagegen als das allen gleiche Menschenrecht wirkt, „wiegt“ es im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung gar nichts mehr und ist deshalb für die Höhe der Einkommen irrelevant. Haben alle das gleiche Recht als Ausgangslage, ergibt sich das Einkommen eben nicht mehr durch ein „Recht“, sondern aus der Sache, das heißt dem frei verhandelten Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. An die Stelle der heutigen Vorrechte-Gesellschaft tritt eine Leistungsgesellschaft im eigentlichen Sinn des Wortes (5). Dann erst ist ein menschenwürdiges Einkommen für alle Bewohner der Erde möglich.
Die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens verwechseln eben das Recht mit der Erfüllung des Rechts: So wie jeder Mensch das Recht auf seine freie Meinung haben sollte, diese Meinung aber gerade deshalb nicht vom Staat gesagt bekommen kann, so sollte jeder Mensch das Recht auf ein menschenwürdiges Einkommen haben, weshalb dieses nicht durch eine Staatsmacht bewirkt werden kann, sondern nur durch ein sich selbst verwaltendes Wirtschaftsleben. Dass diese Zusammenhänge für viele heute so schwer nachzuvollziehen sind, ist insbesondere auf die jahrzehntelange Einübung neoliberaler Denkmuster durch Schule, Universität und den „öffentlichen Diskurs“ zurückzuführen, weshalb im Folgenden noch ein Blick auf diese geworfen werden soll.
Neoliberale Gehirnwäsche
Der liberale Begriff von „Wirtschaft“ provoziert den Ruf nach einem „starken Staat“. Die „linken“ Kritiker hinterfragen allerdings nicht, ob der Liberalismus überhaupt richtig erkannt habe, was „die Wirtschaft“ sei, sondern wollen eben „den Staat“ gegenüber „der Wirtschaft“ gestärkt sehen, oder „die Wirtschaft“ im Extremfall „dem Staat“ einverleiben. Das heißt, sie übernehmen die liberale Definition von „Wirtschaft“ als ungeprüfte Voraussetzung und geben so die Sparrings-Partner des Liberalismus. Sie übersehen dabei, dass in der vom Liberalismus initiierten Dialektik zwischen „dem Staat“ und „der Wirtschaft“ das reale Wirtschaftsleben und das reale Staatsleben gar nicht vorkommen.
„Die Wirtschaft“ ist nämlich tatsächlich ein Konglomerat aus wirtschaftlichen Prozessen und den sie bestimmenden, historisch gewachsenen Einrichtungen und Rechtsinstituten, so wie umgekehrt „der Staat“ heute im Wesentlichen der Abdruck ökonomischer und weltanschaulicher Kräftewirkungen ist. Am Beispiel einiger Konzerne wurde hier gezeigt, wie der Staat erst „die Wirtschaft“ der liberalen Theorie konstruiert, indem er zum Beispiel durch das käufliche Eigentum einen ökonomischen Widersinn schafft und Preismanipulationen ermöglicht, sowie umgekehrt „die Wirtschaft“ erst „den Staat“ zum Beispiel in der Frage der Altersrente, der Arbeitszeit und so weiter nach ihren Zwecken formt. „Der Staat“ und „die Wirtschaft“ sind also beides keine primären Funktionen des sozialen Lebens, sondern jeweils Produkte aus einer Konfusion ökonomischer, rechtlicher und kulturell-geistiger Prozesse.
Als Ergebnis einer kritischen Revision des Liberalismus ist der Neoliberalismus der reinste Ausdruck jener Dialektik zwischen „dem Staat“ und „der Wirtschaft“. Wie der Sozialismus kann auch er sich eine institutionelle Manifestation menschlicher Vernunft nur als staatlich-rechtlichen Prozess denken, weil er sich wie der Liberalismus die Wirtschaft als prinzipiell unvernünftigen, naturhaft-mechanistischen Apparat vorstellt. Folglich will er einerseits das „blinde“ Spiel der „unsichtbaren Hand“ ermöglichen, dieses aber andererseits mit Hilfe staatlicher „Spielregeln“ von Außen moderieren und, im Gegensatz zur landläufigen Meinung, durchaus auch sozialisieren. Heute verläuft das Denken sämtlicher Parteien in den Bahnen dieser Dialektik. Der Staat, in welchem die menschliche Vernunft sich in Gesetzen niederschlägt, soll „Leitplanken“ für die Wirtschaft errichten, die sich in diesen „Rahmenbedingungen“ dann als „freies Spiel der Marktkräfte“ auslebt.
Oder aber „der Staat“ soll „die Wirtschaft“ vernünftig machen und durch bessere Regeln „zügeln“ oder gar „lenken“. Die Meinungen von rechts bis links unterscheiden sich nur darin, welche Rolle jeweils „dem Staat“ beigemessen wird, ob der Staat also zum Beispiel eher Leitplanken, Bremsschwellen, Maut-Schalter oder Poller für den Wirtschaftsverkehr errichten soll. Der Wirtschaft selbst spricht man gar keine aktive Rolle zu, sie soll eben sein, was sie nach Auffassung der liberalen Theorie per se ist: ein „Spiel der Marktkräfte“, das man in Anlehnung an die Naturwissenschaft als quasi-naturgesetzlichen, vom Menschen nicht bewusst hervorgebrachten Zusammenhang beschreibt.
Der Neoliberalismus bestimmt somit die Kategorien, in denen heute überhaupt miteinander über gesellschaftliche Fragen gesprochen werden kann. Brauchen wir „mehr Staat“ oder „mehr Markt“? Dass indes beides falsch wäre, weil die praktischen Fragen ganz andere sind, wird gar nicht erst in Erwägung gezogen. Dadurch werden die Profiteure der Konfusion von Rechts-, Wirtschafts- und Geistesleben schlechthin unangreifbar.
Die Menschen müssten sich zunächst aus den vorgegebenen Denkmustern selbst befreien, um in die sozialen Verhältnisse unmittelbar eingreifen zu können. Dem steht jedoch wiederum „die Wissenschaft“ im Weg, die ihrerseits staatlich organisiert und wirtschaftlich getrieben ist. Unser Bildungswesen verankert das angebliche Wissen über „den Staat“ und „die Wirtschaft“ zuletzt auch in den Gehirnen der Heranwachsenden, und zwar nachhaltig, da es sich als Kind des Staates auch seiner Gewaltmittel (Schulpflicht und Noten für Kinder, Zugangsberechtigungen für Studenten, Akkreditierung und Finanzierung der Universitäten, Zertifizierung und Unterrichtsgenehmigungen für Pädagogen, und so weiter) bedienen darf.
Dadurch entziehen sich die tieferen Ursachen der sozialen Verhältnisse zunehmend unserem Bewusstsein. Statt das soziale Leben an seinen drei Wurzeln zu packen, doktern wir an den Ergebnissen herum, und verstricken uns immer tiefer in die Konfusion. Ein Gefühl der Ohnmacht wird zur modernen Grundstimmung und lähmt letztendlich alle Initiativkraft.
Die Grundeinkommensbewegung ist ein Kind dieser Verhältnisse. Statt „die Wirtschaft“ und „den Staat“ zum Beispiel durch ein modernes Eigentumsrecht, eine zeitgemäße Arbeitszeitregelung, eine assoziative Lenkung der Arbeit und eine Befreiung des Geisteslebens aus staatlich-wirtschaftlicher Vormundschaft zu entflechten und so die Kontrolle über die drei Funktionsbereiche des gesellschaftlichen Lebens zu erlangen, will die Bewegung nun eine weitere Leitplanke errichten, die als eine Art staatliche Super-Waffe Gerechtigkeit in „die Wirtschaft“ bringen soll. Auf eine vertiefte Erkenntnis ökonomischer Zusammenhänge glaubt sie grundsätzlich verzichten zu können beziehungsweise ahnt nicht einmal, dass mit dem Wirtschaftsleben ein selbst für die gegenwärtige Wissenschaft noch kaum erschlossenes Gebiet zunächst erkenntnismäßig zu erobern wäre.
Menschenarbeit, Maschinenarbeit, physikalische Arbeit, ökonomische Arbeit, körperliche Arbeit, geistige Arbeit, krankheitsbedingte Arbeitslosigkeit, entlassungsbedingte Arbeitslosigkeit, Einkommen, Auskommen, kaufen, schenken, Steuern zahlen und so weiter — nach Meinung der Grundeinkommensverfechter ist das alles ein und dasselbe. Alles ist eins, und alles wird gut, wenn der Staat mir Geld gibt. Die ganzen komplizierten Fragen fallen (scheinbar) weg, sobald man sich vorstellt: jeder hat ein Einkommen, einfach dadurch, dass man es beschließt. Zugleich wird die durch die Weltwirtschaft gestellte Herausforderung einer Überwindung der egozentrischen Perspektive beseitigt, indem man soziale und persönliche Frage kurzerhand gleichsetzt: „Arbeit“ ist, was mir selbst sinnvoll erscheint (6). Dieses Weltbild ist in seiner Schlichtheit natürlich bestechend — umso dringender ist hier Angesichts der gegenwärtigen Weltlage Aufklärung nötig.
Quellen und Anmerkungen:
(1) 1. Interview mit Götz Werner im Weser Kurier vom 15.07.2017 — https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-wirtschaft_artikel,-unser-konzept-kostet-70-milliarden-euro-pro-jahr-_arid,1625104.html
(2) Netzwerk Grundeinkommen, Onlineabruf vom 01.10.2018 unter www.grundeinkommen.de/grundeinkommen/fragen-und-antworten
(3) Prof. Dr. jur. Friederike Diaby-Pentzlin: Auslandsinvestitionsrecht und Entwicklungspolitik — Derzeitiges bloßes internationales Investitionsschutzrecht vertieft Armut; Wismarer Diskussionspapiere No. 05/2015, Onlineabruf vom 01.10.2018 unter www.econstor.eu/bitstream/10419/125134/1/841258074.pdf
(4) www.patsnap.com/resources/innovation/bosch
(5) Dass ausgerechnet der Liberalismus, der die allergrößte Angst vor einer Leistungsgesellschaft hat, mit diesem Begriff in Zusammenhang gebracht wird, zeigt einmal mehr den Verlust jeglichen Wirklichkeitsbezugs des sogenannten „öffentlichen Diskurses“.
(6) Warum der Einwand, dass viele Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens sehr wohl die Arbeit an den Bedürfnissen orientieren möchten und eben darin den „Sinn“ suchen, zu kurz greift, wurde hier bereits ausführlich behandelt: Sie übersehen, dass es bei einer Entkoppelung von Einkommen und Warenpreis gar nicht mehr möglich wäre, die Arbeit an den Bedürfnissen zu orientieren — der Sinn der Arbeit müsste tatsächlich subjektiv bestimmt werden, was jedoch, wie hier gezeigt wurde, nicht machbar ist.