Sowohl als auch

Wenn wir die gesellschaftliche Spaltung überwinden wollen, müssen wir uns auf eine Ebene jenseits der Polaritäten begeben.

„Die Hölle, das sind die anderen“, sagte Jean-Paul Satre. Viele vermeiden in dieser herausfordernden Zeit mehr oder weniger bewusst die Begegnung mit ihren Mitmenschen. Eine verbreitete Ursache dafür ist die Spaltung, die oft durch eine unbedachte Meinungsäußerung im Gespräch entstehen kann. Schnell werden unterschiedliche Sichtweisen deutlich, welche die Gesprächspartner häufig nicht unwidersprochen hinnehmen können. Die Ansichten verhärten sich, und es schiebt sich eine unsichtbare Trennwand zwischen die Diskutanten. Dann geht man unversöhnt auseinander, und beide Seiten sind höchst unzufrieden mit dem unglücklichen Gesprächsverlauf. Doch solche Diskussionen können auch anders ablaufen. Dazu braucht es nur ein wenig Disziplin. Meist genügt es schon, wenn nur einer der Gesprächspartner diesen kleinen Bewusstseinsschritt vollzieht. Beide Seiten können ihre Sichtweise beibehalten, trotzdem kann man zufrieden auseinandergehen und sich später wieder unvoreingenommen begegnen. Eine kleine Anregung dazu, wie Gespräche ohne Spaltung gestaltet werden können, bietet dieser Artikel.

Was kann uns in der Begegnung leiten? Diese Frage kann mit einem Zitat von Heinz Grill beantwortet werden:

„Die geistige Welt erwartet vom Menschen eine Denkkraft mit vollreifem Bewusstsein, die imstande ist, über den Polaritäten des Lebens zu agieren“ (1).

Vielleicht ist diese Aussage nicht sogleich verständlich. Noch weniger erschließt sich auf Anhieb, wie dadurch eine Begegnung angenehmer gestaltet werden kann. Darum will ich dieses Zitat ein wenig aufschlüsseln, damit wir uns den Sinn tiefer erschließen.

Was etwas irritieren kann, ist der Begriff „die geistige Welt“. Ganz allgemein umfasst die geistige Welt alle übersinnlichen Daseinsbereiche, die über der sinnlich-physischen Welt liegen und zusammenfassend auch als geistige Welten bezeichnet werden. Damit ist jedoch nichts anderes gemeint als die Welt der geistigen Wesen, die seit Urzeiten die Entwicklung des Menschen begleiten. Sie enthält auch die Kräfte, die im ganzen Kosmos ihren physischen Ausdruck finden. Sie existieren in der Natur, den Tieren und den Menschen.

So wie der Mensch alles, was er selbst in der Welt geschaffen hat, dieses nur aus einer geistigen Gedankenwelt heraus gestalten konnte, so konnten Kosmos, Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen ebenfalls nur aus einer Gedankenwelt heraus entstehen. Denn alles Geschaffene bedarf zunächst eines Gedankens. Man kann die geistige Welt auch als schöpferische Welt bezeichnen, in der alle Schöpferkräfte beheimatet sind. Dies ist unabhängig von jeder religiösen oder sonstigen Weltanschauung.

Diese Welt der Gedanken und Ideen oder diese schöpferische Welt braucht auch unsere Gedanken, denn sie unterstützt uns dabei, dass unsere Gedanken genügend Kraft entwickeln, damit sie einmal zu Realitäten werden. Nun besitzt jeder mündige Mensch auch eine Denkkraft und ebenso ein vollreifes Bewusstsein, mit dem er über den Polaritäten des Lebens agieren kann. Er muss sich mit seinem Bewusstsein nur aktiv über die Polaritätsebene hinaus erheben.

In der physischen Welt befinden wir uns zumeist auf der Ebene der Polaritäten. Wir bewegen uns zwischen gut und schlecht, warm und kalt, schön und hässlich, groß und klein und vielen anderen Polaritäten. In Bezug auf unsere aktuelle Situation kann dies auch bedeuten: impfen lassen oder nicht, Maske tragen oder nicht, Abstand halten oder nicht. Diese Polaritäten können in der Begegnung schnell Spaltungen herbeiführen.

Wie kann der erste Schritt aussehen?

Das Zauberwort dazu heißt Empathie (2). Es ist der erste notwendige Schritt, um sich über die Polaritäten des Lebens hinaus zu heben. Es bedarf der Bereitschaft, den anderen Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit und seinem Anliegen wahrzunehmen. Also ohne Vorurteile und unbeeinflusst von Sympathie oder Antipathie, seine Sicht der Dinge entgegenzunehmen und nachzuempfinden. Diese Qualität ermöglicht erst eine freie Sicht auf das, was den Gesprächspartner bewegt.

Dies bedeutet nicht, dass ich seiner Sicht zustimme oder auch nur im Geringsten die eigene Sichtweise aufgebe beziehungsweise von ihr abweiche. Seine Sicht kann mir jedoch zu einer inneren Bereicherung werden. Denn ich lasse mich auf etwas ein, was ich selbst in dieser geschilderten Form vielleicht noch gar nicht bewegt habe.

Nun könnte der Kritiker fragen, weshalb er dem anderen mit Empathie begegnen soll. Es kann ja sein, dass dieser ihm seinerseits keine Empathie entgegenbringen kann oder will. Darauf gebe ich gerne eine Antwort:

Der Gesprächspartner ist ein Mensch, in dem auch ein göttlicher Funke lebt. Auch er wurde von einer Schöpferkraft in die Welt gesetzt und diese ist in ihm präsent.

Ob er diese Kraft in sich selbst wahrnimmt oder nicht, ist dabei völlig irrelevant. Er ist ein Menschenwesen und allein aus diesem Grunde hat er es verdient, dass man ihm Empathie entgegen bringt. Wenn er selbst seinem Gesprächspartner keine Empathie entgegenbringen kann oder will, so verzichtet er auch auf die damit einhergehende Bereicherung. Dies ist aber ganz allein seine eigene, individuelle Entscheidung, in die niemand eingreifen darf.

Wenn ich einem anderen Menschen Empathie entgegenbringe, werde ich in den meisten Fällen ebenfalls Gehör finden. Dies zeigen die Erfahrungen. Die Bereitschaft, sich auf einen Dialog einzulassen, wird durch Empathie deutlich erhöht. Will jedoch das Gegenüber nur seine Sichtweise darstellen und ist wenig oder gar nicht an meiner Meinung interessiert, dann kann ich das Gespräch auch freundlich beenden und vermeide somit ebenfalls eine mögliche Spaltung. Das Ziel dabei ist immer eine erbauliche Begegnung und nicht, den anderen von meiner Sicht der Dinge überzeugen zu wollen.

Was kann im zweiten Schritt folgen?

Auch hier will ich mich auf einen Begriff beziehen: auf Beziehung. Es soll keine Spaltung entstehen, denn diese zerstört die Beziehung. Darum soll unter allen Umständen die Beziehung erhalten bleiben oder sich sogar verbessern. Denn in einer erneuten Begegnung will ich dem Gesprächspartner in der gleichen freudigen Art begegnen können wie bisher. Also ist es wertvoll, so mit ihm umzugehen, dass er sich weder von mir bevormundet, noch belehrt oder in einer anderen Art und Weise genötigt oder auch nur im Geringsten beeinflusst sieht. Dann besteht die beste Gewähr, dass die gemeinsame Beziehung erhalten bleibt.

Bin ich nun empathisch auf den Gesprächspartner eingegangen, ist es sehr wahrscheinlich, dass ihn auch meine Meinung oder Sichtweise interessiert. Dann kann ich selbstverständlich auch meine eigene Sicht in kurzen Worten äußern. Wenn meine Sichtweise deutlich von der meines Gesprächspartners abweicht, ist es von Vorteil, diese nur in wenigen Worten ohne Vorwurf zu äußern und ohne den Wunsch, den anderen zu beurteilen oder zu beeinflussen. Die eigene Sichtweise will ich auch nicht rechtfertigen, da dies im anderen das Gefühl erwecken könnte, seine Sichtweise auf den Sachverhalt wäre weniger wert als meine eigene. Selbstverständlich kann ich auf Fragen eingehen, aber auch hier sind kurze Antworten eher zu empfehlen als ausführliche.

Wesentlich ist dabei die Zielsetzung, dass die Beziehung erhalten bleibt. Der Kritiker könnte nun einwenden, dass er sich dabei ja durchaus mehr als üblich zurücknehmen muss. Dem kann ich nur zustimmen. Denn es geht ja nicht um Überzeugungsarbeit, sondern ganz eindeutig um Beziehungsarbeit.

Ich will keine Spaltung und die Beziehung in jedem Fall erhalten. Damit entscheide ich mich gegen die Hemmnisse im Gespräch und gleichzeitig für den Aufbau des Dialogs.

Es verhält sich im Gespräch genau so wie beim Einkaufen: Wenn ich eine besonders gute Qualität kaufen möchte, muss ich auch einen höheren Preis dafür bezahlen. Und wenn ich eine bessere Beziehung gestalten will, muss ich auch etwas mehr Bewusstsein in das Gespräch hineintragen. Das gewünschte Ergebnis rechtfertigt den etwas größeren Aufwand.

Wie sieht der dritte Schritt aus?

Als dritten Begriff nenne ich die Werte. Jetzt ist der Moment, in dem ich beide Sichtweisen übersteigen kann. Ich will jetzt auf eine Gesprächsebene, die über den unterschiedlichen Sichtweisen, oder anders ausgedrückt, über den Polaritäten liegt. Dazu benötige ich jetzt einen Begriff, der beide Sichtweisen einschließt. Dies trifft immer dann zu, wenn es um Werte geht.

Es wird also ein Begriff gesucht, der in seiner Wertigkeit einen noch etwas höheren Anspruch beinhaltet als die Sicht meines Gesprächspartners und meine eigene Sicht. Man könnte es auch anders ausdrücken: Ich will den Dialog wertvoller gestalten — für den anderen und für mich selbst. Dies gelingt nur, wenn es um etwas geht, das für beide Partner von einer höheren Bedeutung ist – und das trifft besonders auf Werte zu.

Um diesen, durchaus ein wenig herausfordernden Schritt, etwas leichter umsetzen zu können, kann der geeignete Wert gut als Frage eingebracht werden. Die Frage stellt in Aussicht, dass etwas angeschaut werden kann, was noch nicht vollständig für beide erreicht ist. Darüber hinaus soll natürlich auch die Frage nach dem gefundenen Wert in eine freilassende Form gekleidet werden. Dazu sollen einige wenige Beispiele angeführt werden.

Wenn es um das Impfen oder das Nicht-Impfen geht, könnte die Frage lauten: „Wie können wir eine möglichst gute Gesundheit sicherstellen?“ oder „Welche Bedeutung hat die Gesundheit für den Menschen?“ Begegnen sich zwei Fußballbegeisterte mit unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Fußballspiel, könnte die Frage lauten: „Was zeichnet eine hohe Qualität im Fußball aus?“ Auch wenn sich ein Teilnehmer einer Demo im Dialog mit einem Gegner von Demos befindet, kann folgende Frage hilfreich sein: „Wie ist es heute um die Freiheit bestellt?“ Geht es um die Testpflicht, zum Beispiel im Flugverkehr, kann die Frage angebracht sein: „Welches Recht auf Selbstbestimmung wird dem Menschen heute zugestanden?“

Warum ist eine polaritätsfreie Ebene wichtig?

Der Kritiker könnte nun einwenden, dass ihm das doch zu viel Mühe macht, bei jedem Gespräch diese Ebene aufzusuchen. Dem kann ich nichts entgegen halten, denn es richtig, dass eine solche Gesprächsgestaltung durchaus ein größeres Bemühen erfordert. Ich darf jedoch darauf hinweisen, dass dies nicht bei allen Gesprächen erforderlich ist. Es kann allerdings genau dort hilfreich sein, wo die Ansichten der Gesprächspartner sehr weit auseinander gehen.

Denn nur dort besteht die größere Gefahr, dass es zur Spaltung kommt. In allen anderen Gesprächen ist dieses Bemühen nicht notwendig. Wobei der Einsatz von Empathie, Beziehung und Werten, sei es in Einzelaspekten oder im Zusammenhang, immer dazu beitragen kann, die Qualität eines Gespräches anzuheben. Und derjenige, der sich immer mal wieder in dieser Verhaltensweise übt, kann auf Dauer deutlich souveräner seine Gespräche gestalten als der Ungeübte.

Man darf durchaus auch einmal die Frage stellen, ob es denn nicht generell recht sinnvoll wäre, im Dialog mit anderen Menschen häufiger die polaritätsfreie Ebene zu suchen, auch dann, wenn es nicht darum geht, eine Spaltung zu verhindern. Denn dann wendet man sich verstärkt auch Werten zu und der gute Nebeneffekt: Die Gesprächsinhalte und Beziehungen gewinnen ebenfalls an Qualität. Und hier können viele Werte angeführt werden, wie Achtsamkeit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit, Glaubwürdigkeit, Hilfsbereitschaft, Tüchtigkeit, Weisheit, Liebenswürdigkeit et cetera. Beginne ich einmal damit, mir diese Werte bewusst zu machen, die mir selbst sehr wichtig sind, dann entdecke ich auch weitere Werte, über die ein Austausch ebenfalls lohnend sein kann.

In einer Zeit, in der die Individualität immer weiter voranschreitet, nimmt auch die Gefahr zu, dass verstärkt unterschiedliche Sichtweisen aufeinandertreffen. Um dann nicht sogleich der Gefahr der Spaltung ausgeliefert zu werden, kann die Fähigkeit sehr wertvoll sein, sich mit seiner Denkkraft und seinem vollreifen Bewusstsein über die Polaritätsebene zu erheben. Dann wird der Dialog immer bereichernd für beide Gesprächspartner sein und die Individualität bleibt erhalten und wird im besten Falle auch noch gefördert.

So sagte einmal ein kluger Mensch: „Wenn zwei immer der gleichen Meinung sind, dann ist einer überflüssig.“

Und es ist doch ein schöner Gedanke, dass kein einziger Mensch auf unserem schönen Planeten überflüssig ist. Und wenn es gelingt, mit ihm in einen offenen und freien Dialog zu kommen, kann dies immer eine Bereicherung für beide sein.

Welche Vorteile hat die polaritätsfreie Ebene?

Wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Ansichten streiten, finden schnell Spaltungen statt, die in der Folge zu Gruppenbildungen führen können, die dann häufig gegeneinander agieren. Dies lässt sich gerade in der aktuellen Zeit besonders beobachten. Diese Entwicklung kann jedoch durch eine bewusste Gesprächskultur auf der polaritätsfreien Ebene vermieden werden. Dann findet im gegenseitigen Dialog ein Aufbau statt und die Qualität im Miteinander wird gesteigert. Setzt sich dieses Kulturelement in weiten Kreisen fort, kann für die ganze Menschheitsfamilie ein größerer Aufbau realisiert werden.

Der Einzelne kann seine Individualität weiter entwickeln, seine Authentizität wird gefördert und es kommen immer mehr werteorientierte Gedanken in die Welt. Diese werden auch von der geistigen Welt unterstützt, damit sie früher oder später auch in die Umsetzung gelangen. Das Leben der Menschen wird bereichert und ein friedlicheres Miteinander kann sich auf breiter Ebene durchsetzen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1)Heinz Grill, Geistforscher, spiritueller Lehrer, anthroposophischer Heilpraktiker und Alpinist, der sich vor allem darum bemüht, den Menschen Möglichkeiten anzubieten, ihren Heilungsprozess auch durch eine individuelle seelisch-geistige Aktivität förderlich zu unterstützen. Wer sich auch über seine weitere aktuellen Hinweise zur Corona-Situation informieren will, dem sei seine Website empfohlen: https://heinz-grill.de
(2)Wikipedia: Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Ein damit korrespondierender allgemeinsprachlicher Begriff ist Mitgefühl.