Sonntag der Eskapisten

Von einem, der ausgezogen ist, dem Wahnsinn mit seiner Olympia-Schreibmaschine ein Ende zu setzen.

Thomas Wagners Geschichte geht aufs Ganze, und das ist in dieser Zeit bombastisch viel. Sie erzählt von einem, der vor dem Irrsinn und Technizismus hinaus in die Wildnis flieht, von Krähen und Bäumen geleitet. Dass es für diesen modernen Waldgänger ungleich schwieriger ist als für einen Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert, dem Korsett einer monströs falschen Zivilisation und ihrer digitalen Repression zu entkommen, versteht sich. Doch gerade, indem sie das vorführt, legt die Geschichte die Erkenntnis frei: Mental radikale Entscheidungen sind angesagt. Eigentlich braucht diese Erzählung keine Einleitung. Wir alle finden uns in ihr schneller wieder, als es uns lieb sein kann. Die gute Nachricht: Der Irrsinn ist zu bändigen. Mit Sprache. Und das ist ein Anfang.

Heute legen sie mein Auto still.

Sie verlangen, den digitalen Fahrzeugschein auf meinem Smartphone zu sehen. Beides besitze ich nicht. Zudem sagen sie, mein Auto sei nicht mehr fahrtauglich. Was soll das heißen?, frage ich in einem Tonfall, der mich verbergen soll. Es stelle ein Risiko im Straßenverkehr da, sagt der eine. Und der andere sagt, es lohne sich nicht mehr, die alte Schüssel zu reparieren. Er nennt mein Auto tatsächlich eine alte Schüssel. Und er hat recht damit. Ich kann es ihm nicht übel nehmen. Dem anderen nehme ich es auch nicht übel. Er macht wahrscheinlich nur seinen Job. So wie alle ihren Job machen. Möglichst ohne Gefühl, möglichst ohne Verbindung, möglichst ohne zu versuchen, den großen Zusammenhang zu verstehen, möglichst ohne über sich selbst und das Andere, vielleicht sogar das Fremde, nachzudenken, mit geschlossenen Augen und tauben Fingern.

Und doch können wir nicht anders. Ich auch nicht. Eine Krähe ruft mir im Vorbeifliegen einen Gruß zu, aus dem ich eine Warnung heraushöre, vielleicht lacht sie auch nur über mich. Ich schlage meinen Jackenkragen hoch. Für einen Augenblick überlege ich, wie ich es anstellen werde, mir ein neues Auto zu kaufen oder sollte ich besorgen denken. Dann verwerfe ich die Idee. Ich werfe sie ganz weit weg. Ich verfluche die ganze Digitalisierung und alle, die mich zwingen wollen, mir eine digitale Identität zuzulegen. Vielleicht ist es das, wovor mich die Krähe warnen wollte, dass ich das Naheliegende gleich verwerfen werde, eine in den Wind geflüsterte Warnung. Wer bin ich, dass ich es wage, die Warnung dieser Krähe zu ignorieren? Ein Mensch, der sich irrt. Ein Mensch, der plötzlich ein Problem hat, das sich lange schon angekündigt hat. Ein Mensch, der keine Lust mehr hat, seine Probleme zu lösen. Ein Mensch, der die eine gute Idee zugunsten einer anderen schlechteren Idee verwerfen wird.

Noch habe ich mich nicht von der Stelle gerührt. Ich stehe den beiden immer noch gegenüber. Wie lange werden sie meine Unentschlossenheit noch zu ertragen im Stande sein? Wie wäre es, wenn wir uns alle gemeinsam vorstellen würden, dass wir in einer Welt ohne Terrortechnologie leben wollen und werden? Jetzt starren mich die beiden an, als sei ich verrückt geworden. Fast gleichzeitig wenden sie sich von mir ab, lassen mich einfach stehen, lassen mich allein zurück, allein mit meinem Problem, allein mit meinen Gedanken. Mag sein ich bin wirklich verrückt. Habe ich diese Worte wirklich gesagt? Habe ich sie wirklich laut ausgesprochen? Es sieht so aus. Wie wäre es, wenn wir uns alle gemeinsam vorstellen würden, dass wir in einer Welt ohne Terrortechnologie leben wollen und werden. Jetzt brülle ich diese Worte so laut heraus, wie ich es kann. Diesmal aber ohne Fragezeichen, diesmal ist es eine Aufforderung, ein Verlangen, ein Angriff, eine Verteidigung, eine Kapitulation. Der alte Mann, der mit dem alten Hund an der Leine vorbeischlurft, hebt einen müden Blick und lächelt ein allwissendes Lächeln. Dann schlurft er weiter. Er schlurft tatsächlich. Ich höre, wie seine Sohlen über den Boden schleifen.

Keine Chance, denke ich. Während der eine seine Unterlagen zusammenpackt, fährt der andere mein Auto aus der Werkstatt und parkt es vor dem Zaun. Ohne digitale Fahrzeugpapiere müssen wir Ihr Fahrzeug aus dem Verkehr ziehen, sagt er im Fortgehen so nebenbei, während eine weitere Krähe über unsere Köpfe hinwegfliegt. Vielleicht ist es die gleiche Krähe, die mir eben ihre Warnung zurief. Vielleicht ist sie im Kreis geflogen. Fliegen müsste man können, aus eigener Kraft, ohne dass einer kommt, der einem das Weiterfliegen verbietet, weil man kein Smartphone besitzt, mit dem man sich auszuweisen hat. Fliegen ohne Grenzen. Fliegen ohne Flughafen. Fliegen von Baum zu Baum in einem Wind, der einen trägt. Fliegen müsste man können. Ich werde der erste Autofahrer sein, der sich entscheidet, zum analogen Fußgänger zu werden, sage ich mir. Aus Protest. Nicht gegen das niederschmetternde Ergebnis des Technischen Überwachungsvereins, dessen Überwachung plötzlich ganz andere Dimensionen angenommen hat.

Nein, es wird ein Protest gegen mich selbst sein, gegen meine belanglose Existenz, gegen das Unwesentliche der Zeit und das Wesentliche des Augenblicks. Ich werde ab sofort nur noch das tun, was ich am besten kann. Oder was ich glaube, am besten zu können, wofür ich bestimmt bin.

Ich werde den Gedanken in die Welt tragen. Ich werde das Sagen kultivieren. Alles andere werde ich seinlassen. Zu Hause wartet die Olympia auf mich. Sie ist laut, wenn man ihre Tasten anschlägt und sie fordert Kraft und Durchhaltevermögen. Ich werde dem Wahnsinn der Digitalisierung mit meiner Olympia ein Ende setzen. Manchmal braucht sie ein neues Farbband. Mehr nicht. Lange vor der Zeit habe ich mir einen Vorrat an Farbbändern zugelegt, weil ich wusste, dass eine andere Zeit kommen würde, eine Zeit ohne Farbbänder. Ich habe meine Farbbänder nie aufgebraucht, weil ich mich von der neuen Zeit mitreißen ließ. Lange vor der Zeit habe ich mir einen Vorrat an Papier zugelegt. Damals war ich noch krank. Ich glaubte, es gäbe eine Sicherheit, die man sich selbst schaffen könne durch das Anlegen von Vorräten.

Als ich nach Hause komme und die Post aus dem Briefkasten nehme, finde ich eine Mahnung des Entsorgungsverbands. Ich sei 13,40 Nachzahlung schuldig. Nun gehöre ich zu jenen, die ihre Kontoauszüge gut aufbewahren, wohl deshalb, weil ich an meinem Geld hänge. Ich bin von ihm abhängig, weil ich ohne es nicht leben kann. Somit komme ich also in die vorzügliche Lage, meine Zahlungen zu überprüfen. Die 13,40 wurden überwiesen, sagt der Kontoauszug. Ich denke nichts, weil Denken in solchen Momenten mir sagen würde, da läuft was schief.

Am nächsten Tag rufe ich beim Versorgungsverband an. Ich gebe der Dame am Telefon die Debitorennummer und sie schaut nach, was da los ist. Das Konto sei ausgeglichen, sagt sie, und setzt damit meine Gedanken an die alten Tage in Gang. Ich bemühe mich, eine Erklärung zu erhalten für das Zusenden einer falschen Mahnung. Es habe Verzögerungen bei den Buchungen gegeben, meint sie. Ich weise auf die Differenz zwischen Zahlung und Mahnung hin. Die Zahlung sei am 15. Februar erfolgt, die Mahnung am 22. März. Die Buchhaltung habe erst jetzt die Eingänge gebucht, erklärt sie. Ich überlege, ob es hier nicht angebracht wäre, darauf hinzuweisen, dass man gewöhnlich erst dann Mahnungen schreibt, wenn Zahlungseingänge überprüft sind und nicht vorher. Ich formuliere die Tatsache und die Dame erwidert, dass im letzten Jahr die Leute zwar die Vorauszahlungen für das laufende Jahr, jedoch nicht ihre Nachzahlungen gezahlt hätten, weshalb man in diesem Jahr vorsorglich alle angemahnt habe, bevor die Buchungen erfolgt seien. Mir bleibt die Spucke weg, weil sich ein normaler Mensch nie wagen würde, einen solchen Schwachsinn zu treiben. Dann sammele ich noch genug Spucke um festzuhalten, dass ich die Zustände in ihrer Buchhaltung als chaotisch betrachte. Die Dame stellt daraufhin fest, das Konto sei ausgeglichen und beendet das Telefonat, indem sie einfach den Hörer auflegt.

Ich starre den Telefonhörer an und überlege, ob der Zusammenbruch der Systeme kurz bevor steht. Einen solchen Zusammenbruch würde ich begrüßen. Ich würde mich sogar darüber freuen. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der technischen Welt würde vielleicht dadurch tief erschüttert werden. Vielleicht aber auch nicht. Katastrophen haben noch nie dazu geführt, dass die Menschheit sich eines Besseren besonnen hätte, noch nie. Immer weiter, heißt das Motto, immer weiter und immer schneller, immer höher, immer tiefer, immer mehr, immer anders, die nächste Katastrophe bereits in Sichtweite. Und dann, wenn die Katastrophe vor der Tür steht, wenn sie ohne anzuklopfen mit der Tür ins Haus fällt, dann stürmen die Leute die Supermärkte und kaufen Klopapier.

Mittlerweile sind alle wahnsinnig geworden, die Herrschenden ebenso wie die Beherrschten. Ein Irrenhaus, dem keiner entfliehen kann. Einem jeden seine individuelle Lobotomie. Ein Narrenschiff mit Düsenantrieb. Ich glaube, ich werde verrückt.

Ich sollte mich wie der Held in Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund in einen Raum unter dem Fußboden zurückziehen, um aus dem Loch heraus, den Menschen zu verkünden, dass wir ab nun allesamt analoge Fußgänger sein wollen, sodass mich niemand hören, geschweige denn verstehen kann.

Ein verrücktes Telefonat an einem Tag genügt, sage ich mir und verlasse das Haus, um die Krähe zu suchen, die mich am Vortag bereits zweimal gewarnt hatte. Ich werde sie anflehen, mich ein drittes Mal zu warnen, wovor das weiß ich noch nicht. Das spielt auch keine Rolle, weil übermäßiges Wissen die Krähe nur beim Fliegen beeinträchtigen würde. Ich glaube, ich werde verrückt, jetzt rede ich schon mit einer Krähe. Ich muss versuchen, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Dann wähle ich einen kleinen Umweg und begebe mich zu meiner Bank. Ich nehme mir vor, mein ganzes Geld abzuheben und stelle fest, dass der Automat nur eine begrenzte Summe herausrückt. Ich denke an die Krähe und gebe dem Automaten das Geld unverzüglich wieder zurück.

Mein Blick hängt an den Baumkronen des noch weit entfernten Waldes, während ich meinen Weg durch das Labyrinth fortsetze, das mir mein Denken aufgibt.

Der Regen der letzten Tage hat die Waldwege aufgeweicht, meine Schuhe sinken ein und ich habe alle Mühe, nicht auszurutschen. Das kann der Krähe nicht passieren. Wo steckt sie überhaupt? Die Buchen recken ihre Kronen weit in den Himmel hinauf, ihre Stämme stehen still und fest und wurzeln tief in der Erde. Warum bin ich kein Baum geworden? Bäume fahren keine Autos und müssen sich nicht ausweisen. Sie werden einfach so gefällt. Von Idioten mit Motorsägen, die keine Ahnung vom Wesen der Bäume haben. Auf einen solchen Schwachsinn können nur Deppen kommen, die ihre Verbindung zur Erde verloren haben, weil sie keine Wurzeln schlagen können. Reisende auf Zeit.

Der Weg vor mir schlängelt sich um eine Biegung und versinkt im Morast. Ich wende mich nach rechts, querwaldein. Mir ist, als bitte mich die Eiche, ihr den Rücken zu kratzen. Ich halte inne und mühe mich an ihrer harten Rinde ab. Sie scheint zufrieden. Sie lässt ein sanftmütiges Knarren vernehmen. Auch sie wird ihre Blätter im Herbst zu Boden fallen lassen. Ich umrunde die Eiche und peile eine Birke an, die sich mit anderen Birken zu einem Hain zusammengetan hat. Ich frage mich, ob die Birken des Nachts, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, einen flotten Tanz aufs Gras legen. Ich werde verrückt und daran kann auch der Wald nichts ändern, die Birken nicht, die Buche, die Eiche, die Krähe nicht. Ich muss unbedingt vermeiden, zu fluchen. Fluchen bringt Unglück. Ich habe in meinem Leben schon viel zu oft geflucht. Es kann gar nicht anders sein, dass das Unglück mich deshalb verfolgt. Irgendwo in diesem Wald wird es mich finden, wenn ich nicht aufpasse. Ich versuche, ihm zu entgehen, indem ich Haken schlage wie ein Hase auf der Flucht vor einem Rudel Wölfe. Das fehlt jetzt noch. Wölfe. Ich werde ein Haken schlagender Hase sein, der sich von seinesgleichen durch einen Wald ohne Krähen jagen lässt. Bald werden sie auf die Idee kommen, das Atmen zu besteuern, wegen dem CO2.

Ich wende mich nach links, dann hinter einem Haselnussstrauch gleich wieder nach rechts, dann geradeaus durch eine Schlucht, über einen schmalen Bach, dessen Wasser durch ein Bett aus glattgeschliffenen Kieseln gemächlich dahinfließt und sich wünscht, aus ihm werde eine Sturzflut, die den ganzen menschlichen Wahnsinn fortzuspülen in der Lage ist, dann die Uferböschung hinauf, noch ein Stück geradeaus, dann einen Haken nach links und mir bleibt die Luft weg. Ich verschnaufe, versuche, zu Atem zu kommen. Denke an die Rechnung, die mir bald zugestellt werden wird, und beschließe, dass ich frei bin.

Die Gedanken sind fort, endlich, ich bin zum Waldgänger geworden. Der Weg zurück versinkt in der hereinbrechenden Dunkelheit.

Irgendwo glaube ich das Heulen eines Wolfes zu hören. Und dann das Brüllen des Löwen. Die Menschen haben ihn eingesperrt, ihn aus seiner Heimat entführt und in dieses kalte, hässliche Land geschleppt, um ihn hinter Gitterstäben zur Schau zu stellen. Dafür hasst er die Menschen. Zu Recht. Wenn er könnte, würde er sie alle töten.

Er weiß nichts davon, dass sie alle mit ihren Autos herbeifahren, um ihn zu sehen. Die Autos stehen auf einem Parkplatz jenseits der Straße. Von dort, wo sich sein Käfig befindet, kann er die Autos nicht sehen. Er hasst die Menschen und wenn er frei wäre, würde er sie alle töten, auch wenn seine Gefährten in Afrika das nicht verstehen könnten. Er würde versuchen, es ihnen zu erklären, sollte er wieder nach Hause zurückkehren. Aber vorher, bevor er sich zurück in seine Heimat machen würde, würde er sie alle töten, die Zoowärter, die Spaziergänger, die KFZ-Schlosser, die Ingenieure vom TÜV, die Smartphonebesitzer, die Smartphonebesitzverweigerer, die Waffenbesitzer, die Klimaretter, die Friedenstifter, die Metzgereifachverkäuferinnen und die Krähen, die ihn auslachen, weil er sich hat einfangen lassen, und wer ihm sonst noch lachend über den Weg laufen würde, die Hyänen zum Beispiel aus dem Gehege nebenan.

Ich kann sie hören, die Krähe, irgendwo hoch über mir in einem der umstehenden Baumwipfel. Es ist schon zu dunkel, um sie sehen zu können. Aber hören kann ich sie. Ich glaube, sie lacht mich aus. Sie lacht mich aus, weil ich mich verlaufen habe. Sie hat es von Anfang an gewusst, dass ich mich verlaufen würde, als sie zum ersten Mal über unsere Köpfe hinweggeflogen ist, sie hat mich gewarnt, aber nicht laut genug und nicht oft genug. Jetzt ist es zu spät. Jetzt bräuchte ich ein Smartphone, mit dem ich mich aus dem Wald navigieren könnte. Nur wozu? Ein leeres Gefühl steigt von meinem Magen ausgehend langsam nach oben, kriecht durch meine Speiseröhre und dringt in mein Gehirn ein. Es wird schwarz um mich her. Wie ein Brett falle ich nach vorn, lande mit der Fresse im Dreck und träume von einem neuen Auto, das fliegen kann und aussieht wie eine Krähe.

Als ich erwache und die Augen öffne, finde ich mich in einem neuen Tag wieder. Die Sonne scheint und ihre Strahlen reflektieren sich im Spiegel meines Schlafzimmerschranks, der einen von ihnen direkt in mein Gesicht ablenkt. Das alles kommt mir sehr vertraut vor. Und das andere, was sich penetrant in meine Erinnerung drängt, es kann nur ein böser Traum gewesen sein. Vielleicht aber auch nicht. Wer kann sich heute noch sicher sein, was böser Traum ist, was Wirklichkeit, was Illusion, was Einbildung, was Wunschtraum, was Erfahrung, was Realität ist oder gewesen sein könnte. Wirklichkeit und Unwirklichkeit verschmelzen in unseren Zeiten zu einem Konglomerat aus menschlicher Hybris. Da lobe ich mir die Warnungen der Krähe.