Sonnenaufgang im Polizeistaat
Das Leben im totalitären System hat klare Vorzüge.
Das Polizeiaufgabengesetz (PAG) und das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PKHG) wurden in Bayern verabschiedet! Massiven Protesten in ganz Bayern und speziell in München zum Trotz, wurden die Gesetzesnovelle unterzeichnet und die bayerischen Polizeibeamten mit den weitreichendsten Befugnissen seit 1945 ausgestattet. Doch trotz Drohnen, Handgranaten, Unendlichkeitshaft oder der Befugnis, Daten von Privatpersonen löschen oder ändern zu können, sollte man aufhören, Trübsal zu blasen und auch einfach mal die Vorteile eines bayerischen Überwachungsstaates sehen.
Bayern steht kurz vor der Landtagswahl, wenige Monate nachdem das PAG sowie das PKHG verabschiedet wurde. Wir von der Satire-Quickie-Jugendredaktion versuchen, in München ein Stimmungsbild einzufangen. Bevor wir an diesem Spätsommertag überhaupt mit unserer Arbeit in der Münchner Innenstadt beginnen können, geraten wir – verdächtig, wie es nun alle Journalisten sind – in eine Polizeikontrolle.
Nach einem Dornenweg aus unangenehmen, suggestiven Fragen, die darauf ausgerichtet waren, dass wir eine nicht begangene Straftat gestehen, versuchen wir noch, aus dieser Situation einen positiven Nutzen zu ziehen und fragen die beiden Beamten, was sie denn von dem neuen PAG halten. Während der ältere Beamte finster dreinblickend und lediglich mit einem mürrischen Knurren in den Streifenwagen steigt, grinst seine jüngere Kollegin über das ganze Gesicht.
„Ich liebe das neue PAG“, jauchzt sie, während sie uns die Personalausweise zurückgibt. Sie muss etwas lauter reden, um die Rotoren der über uns schwebenden Polizeidrohne zu übertönen, die unsere Gesichter, Körpergröße und -haltung scannt. „Mithilfe eines Staatstrojaners konnte ich herausfinden, dass mein Ex – dieser Arsch – mich in zwei Jahren Beziehung insgesamt mit vier Frauen betrogen hat. Unsere Chatverläufe sind bereits in der IT-Abteilung und werden so umgeschrieben, dass man ihm eine geistige Unzurechnungsfähigkeit anlasten und ihn damit wegsperren kann. Rache ist süß!“
Das Knattern ihres Funkgerätes reißt sie aus der Schwärmerei heraus. Sie muss zu einem weiteren Einsatz fahren, um einen Aufstand von Rentnern aus Giesing zu zerschlagen, die gegen den Abriss eines unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes demonstrieren.
Das Glück kann sich schnell wenden
Wir beginnen mit unserer Arbeit am Münchner Stachus. Eine auf hohen Absätzen takelnde, junge Frau mit unzähligen Einkaufstüten aus den teuersten Boutiquen der Voralpenmetropole kommt uns entgegen. Wir fragen sie, wie sie das Leben in Bayern mit PAG und PKHG empfindet. Sie grinst nicht minder breit als die Polizeibeamtin, die uns soeben kontrollierte.
„Diese Gesetze sind der Hammer!“, antwortet sie und schiebt sich dabei die DC-Sonnenbrille hoch in ihr hellblondes Haar. „Vor allem dieses Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz finde ich einfach genial! Seit dieses Gesetz durch ist, sehe ich die ganzen depressiven Menschen nicht mehr. Die haben mir bisher mit ihren traurigen Blicken immer die ganzen Shopping-Touren versaut.“ Ob sie keine Befürchtungen habe, irgendwann einmal selber in dieses Raster zu fallen, wollen wir von ihr wissen. Da lacht sie beinah hysterisch auf.
„Ich?!? Depressiv werden? Hört mal, Leute. Wie soll das denn je geschehen?“ Ihr Stimme hallt von den Wänden des Stachus wieder. „Ich bin gerade im absoluten Shopping-Rausch! Ich werde mir heute noch weit über zwanzig Paar Schuhe kaufen, wie soll ich da....“
Wir müssen das Interview abrupt abbrechen – denn es nähern sich zwei ernst dreinblickende Polizeibeamten von hinten und stellen sich dicht an beide Seiten der Frau. „Über 20 Paar Schuhe? Das klingt nicht ganz normal. Kommen Sie bitte mit uns mit“, sagt der linke, „wir werden Sie jetzt vorsorglich in die psychiatrische Klinik Haar bringen.“
Bayern ist jetzt hartes Pflaster
Wir gehen in die Fußgängerzone und wollen endlich ein etwas ausführlicheres Interview zustandebringen. Vor dem Footlocker treffen wir auf einen stadtbekannten Münchner HipHop-Artist. Wir wollen wissen, wie er zum PAG steht. Auch er strahlt wie ein Honigkuchenpferd.
„Für die Realness des Münchner Raps stehen uns goldene Zeiten ins Haus“, schwärmt er. „In Berlin hat man uns nie ernst genommen. Wir waren für die immer nur die versnobte Stadt, in der es nur Studentenrapper gibt. Aber jetzt, mit diesem PAG, nimmt man uns oben in Berlin oder im Ruhrgebiet endlich mal ernst, wenn wir vom 'Blaulicht am Block' rappen. Ach, mehr als das: Wir sind Vorreiter in Deutschland. Niemand ist jetzt so real wie Bayern. Mittlerweile kann ich durch den Hasenbergl laufen und dabei 2Pac hören, ohne dass es dabei zu einer Dissonanz zwischen dem kommt, was ich höre und was ich sehe.“
Er versinkt in einer Art Trance-Zustand und fängt an zu summen:
„me and the homies smokin‘ roaches /
‘cause we broke, late night /
hangin‘ out ‘til the sunrise /
gettin‘ high
watchin‘ the cops roll by“
Volksfest unter Bayern
Weiter geht es zum Viktualienmarkt. Auffällig ist: Auf dem Weg dorthin machen alle einen ehrfurchtsvollen Bogen um das Polizeipräsidium. Nun wollen wir auch die alteingesessen Münchner fragen, wie es sich mit dem neuen PAG lebt. Ein Urbayer erklärt sich bereit, uns Auskunft zu geben. „Das ist eine super Sache!“ (Zitate sind akzentbereinigt – Anm. der Redaktion). Durch den weißen Schnauzbart blitzt ein Lächeln.
„In paar Wochen ist wieder die Wies’n, aber jetzt haben wir Münchner sie endlich wieder für uns. Das Volksfest ist endlich wieder ein Volksfest und kein Touri-Anlaufpunkt für trinkschwache Saupreißen aus aller Herren Länder. Ich weiß ganz genau, warum ich die CSU wiederwählen werde. Jetzt trauen sich die ganzen Itakas, Engländer, Amis, Japaner und Australier nicht mehr nach Bayern. Super Sache!“ Hinter uns bittet derweil eine ehemalige, nun bettelarme Hotelbesitzerin mit einer Blechdose in der Hand die Passanten um Almosen.
Überwachung macht das Leben leichter!
Wir gehen weiter zum Marienplatz, steigen in die U6 Richtung Söder-Arena (ehemals Allianz-Arena) und steigen bei der mittlerweile umbenannten Münchner Unfreiheit aus. Dort angekommen, treffen wir auf ein junges, schick gekleidetes Pärchen. Er sei Gründer eines Start-up-Unternehmens, sie eine Instagram-Influencerin, die hauptberuflich „irgendwas mit Medien“ mache, erzählen sie uns. Auch diese beiden befragen wir zum PAG.
Er zuckt nur mit den Schultern und meint, er habe davon noch nichts gehört – er sei in den Hashtag-Trends noch nicht darauf gestoßen. Da stößt ihm seine Freundin in die Rippen.
„Wie kannst du davon noch nichts gehört haben?“ Sie blickt ihn vorwurfsvoll an.
„Was meinst du, warum ich endlich keine Selfies mehr schießen muss? Ich habe einen Deal mit der Polizei! Gegen eine kleine Verwaltungsgebühr schicken die mir alle durch Überwachungskameras von mir entstanden Aufnahmen direkt an meine Cloud. Das ist erst seit dem PAG möglich. Außerdem liegt Polizeiästhetik wieder voll im Trend. Von meinen Kollegen beim Bayerischen Rundfunk weiß ich, dass die jetzt sogar den Monaco Franz neuverfilmen möchten.“
In dem Moment schlurft der griesgrämig dreinblickende Münchner aus der Hacker-Pschorr-Werbung an uns vorbei und brummt:
„Minga – du mochst mi fertig!“