Snowdens Appell

Am 17. September ist Edward Snowdens Autobiographie erschienen. Conrad Knittel fasst die Kernaussagen zusammen. Teil 2/3.

„Ich habe ja nichts zu verbergen“. Mit diesem biederen Mantra wehren wir gern das Grauen ab, das uns beschleicht, wenn wir uns die Realität der Massenüberwachung bewusst machen. Erstmals in der Geschichte sind heute die technischen Mittel vorhanden, um eine totale Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Selbst wenn wir uns wirklich unser ganzes Leben lang lammfromm benehmen – wollen wir das? – genügen mitunter kleine Fehler bei Surfen im Netz, Missverständnisse und Unterstellungen, um uns daraus einen Strick zu drehen. Der Whistleblower Edward Snowden zeigt auf, warum Massenüberwachung ein tragischer Fehler ist. Sie ist nicht im Sinne des Individuums und nicht im Sinne der Demokratie. Und warum sich gerade die Bevölkerung Deutschlands dagegen wehren sollte.

Der moralische Kompass

Snowdens Enthüllungen basierten nicht auf einer Kurzschlussreaktion, sondern waren das Ergebnis eines längeren innerlichen Ringens mit sich selbst. In seinem Buch kommt Snowden immer wieder auf seine Beweggründe zu sprechen, sein erfolgreiches und äußerlich betrachtet bequemes Leben aufzugeben, um Whistleblower zu werden und ins Exil gehen zu müssen – wobei er natürlich jederzeit auch Gefahr lief, erwischt und eingesperrt zu werden.

Im Allgemeinen würde man vielleicht davon ausgehen, dass mit solchen Enthüllungen eher von älteren Menschen zu rechnen ist, die am Ende ihres Lebens stehen, die nicht mehr viel zu verlieren haben oder zu haben glauben, die vielleicht sterbenskrank sind und ihr Gewissen erleichtern wollen. Snowden hingegen war – wie auch Chelsea Manning – noch sehr jung, und gerade darin, sagt er, liege ebenfalls eine „Gefahr“: junge Menschen zu viel sehen zu lassen, bevor sie die Zeit hatten, zynisch und pragmatisch zu werden und ihren Idealismus über Bord zu werfen.

Um Whistleblower zu werden, musste Snowden also über einen funktionierenden moralischen Kompass verfügen, der ihm die Frage aufdrängte, ob er nicht moralisch verpflichtet sei, das Gesetz zu brechen (1). Denn mit seinen Enthüllungen hat er zugegebenermaßen gegen geltendes Recht in den USA verstoßen.

Ein tragischer Fehler

Wenn Snowden die Massenüberwachung im Internet einen „tragischen Fehler“ nennt, können wir davon ausgehen, dass er sich der genauen Bedeutung des Wortes „tragisch“ bewusst ist, welches unverdientes Leiden impliziert. Ein tragischer Fehler bringt Unheil hervor, welches aber vom Handelnden nicht gewollt wurde. Man könnte es vielleicht so ausformulieren: Die Ausführenden der Massenüberwachung – wie auch ihre Apologeten und Mitläufer – glauben, damit etwas Gutes zu tun – mutmaßlich, mehr Sicherheit zu schaffen (2) –, ohne sich der negativen Folgen bewusst zu werden (3).

Es stellt sich nun die Frage, mit welcher Begründung Snowden so viel riskierte und das Gesetz brach, um das zu tun, was ihm moralisch richtig erschien. Was sind die negativen Folgen?

Seine Begründung ist die Verteidigung des Rechts auf Privatsphäre. Er musste feststellen, dass überall auf der Welt sogenannte fortschrittliche Regierungen dieses seines Erachtens grundlegende Menschenrecht immer weniger ernst nahmen. Zugleich nehmen auch viele Bürger der westlichen Welt dieses Recht nicht ernst und tun die Enthüllungen über Massenüberwachung im Internet mit einem Achselzucken ab; sie hätten ja nichts zu verbergen.

Damit wiederholen sie den tragischen Fehler, der auf einem Mangel an klarer Vorstellungsbildung bezüglich der möglichen und wahrscheinlichen Konsequenzen beruht.

Snowden bietet uns in seinem Buch drei Antworten auf unser Achselzucken, die ich im Folgenden ausführen möchte. Erstens stimme es in aller Regel nicht, dass wir nichts zu verbergen haben. Zweitens gehe es nie nur um die eigene Privatsphäre, sondern auch um die der anderen. Und drittens unterlaufe die Massenüberwachung den Anspruch einer Demokratie, das Volk solle der Souverän sein.

Metadaten

Das Achsenzucken verstärkt sich noch, wenn uns bewusst wird, dass es bei der Massenüberwachung in erster Linie um Metadaten geht, die gesammelt werden, und erst in zweiter Linie um den tatsächlichen Inhalt unserer Kommunikation. Sind diese Metadaten denn überhaupt Teil unserer Privatsphäre?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns klar machen, welche Metadaten entstehen, wenn wir technisch kommunizieren. Bei einem Telefonanruf beispielsweise wären Metadaten: der genaue Zeitpunkt und die Dauer des Anrufs sowie Nummer und Aufenthaltsort des Anrufers wie des Angerufenen. Bei einer E-Mail – statt der Nummer ist hier die E-Mail-Adresse bekannt – kann darüber hinaus noch abgelesen werden, wann und an wessen Computer sie erstellt wurde, zum Beispiel auch das Betriebssystem, wem dieser gehörte und wo er stand. Entsprechendes gilt für andere Formen der digitalen Kommunikation. Da wir dank Smartphone die ganze Zeit kommunizieren, decken wir somit unseren gesamten wachen Tagesablauf ab. Wem alle diese Daten über dich zur Verfügung stehen, weiß also, wenn er will, genauer als du selbst, wann du wo bist, mit wem du kommunizierst und welchen Mustern dein Verhalten folgt.

Hinzu kommt, dass die Metadaten bereits in einem digital und automatisch auswertbaren Format vorliegen. Anders als der Inhalt der Kommunikation können sie ohne großen Aufwand ausgewertet werden. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der Inhalt ja nicht unantastbar ist, sondern in sozusagen zweiter Instanz ebenfalls überwacht werden kann, wie ich in meinem ersten Artikel ausgeführt habe.

Nichts zu verbergen?

Laut Snowden haben fast alle Internetnutzer gemeinsam, dass sie Bildmaterial über Familienmitglieder gespeichert und dass sie Pornos geguckt haben. Beides sind Bereiche der Privatsphäre, von denen die meisten Menschen eher nicht wollen würden, dass sie öffentlich gemacht werden.

Wenn eine Regierung also Zugriff auf diese Informationen hat, besteht die ständige latente Bedrohung: Wenn Du Dich gegen uns wendest, können wir Dein Privatleben offenlegen. Genau dies passiert laut Snowden mit Dissidenten in den USA bereits: Hast Du je Wut ausgedrückt, bist du verbittert; einen Psychologen aufgesucht? Psychisch krank; je betrunken gewesen? Alkoholiker; je untreu geworden? Moralisch verkommen und/oder sexuell pervertiert.

In anderen Worten, Du musst überhaupt nichts wirklich falsch gemacht haben, um etwas zu verbergen zu haben. Weil Dein Verhalten von anderen immer dahingehend interpretiert werden kann, dass etwas mit Dir ganz tiefgehend nicht in Ordnung ist.

Als Lehrer vielleicht mal auf einen Link bei Pornhub geklickt, in dem das Wort „teen“ vorkam – weil Du ja sicher warst, dass diese Filme nur Teens zeigen, die mindestens 18 sind? Oder auf einen Link mit dem Wort „punished“, weil das interessant klang? Oder homosexuelle Pornos aufgerufen, weil Du mal wissen wolltest, ob Dich das eigentlich anturnt? Analoges gilt natürlich für jedes andere Stichwort, das Du je bei Google eingegeben hast. Wer genug Informationen über Dich sammeln kann, hat die Macht, das öffentliche Bild von Dir zu sabotieren. Falls Du tatsächlich eine vollkommen weiße Weste haben solltest, könnten sie sogar einfach Beweise fabrizieren.

Die Zukunft der Überwachung

Vor allem stellt sich aber auch die Frage, wo dieser Trend hinführen wird. Wenn wir immer mehr Überwachung als normal akzeptieren, wird es keinen Halt geben, bis alles vollständig überwacht ist. Alle unsere Geräte werden uns ständig ausspionieren, unser Kühlschrank genauso wie unser T-Shirt und unsere Armbanduhr.

Auf eine zynische Art und Weise würde die Welt dadurch vielleicht sogar gerechter, bemerkt Snowden, denn unter vollkommener Überwachung – unterstützt durch immer raffiniertere künstliche Intelligenz – würde jedes Gesetz durchgesetzt und jede Übertretung zur Kenntnis genommen und automatisch bestraft werden. In einer solchen Welt wäre aber jeder Mensch ein Krimineller, da wir alle – wenn auch meistens nur im Kleinen – Gesetze übertreten. Und auch wenn es jetzt gerade vielleicht auch gar nicht angebracht erscheint, Gesetze zu übertreten, so ist nicht jedes Gesetz automatisch gerecht. Sollte unser Land sich je wieder in eine Diktatur verwandeln, in der keine Rechtsstaatlichkeit mehr herrscht, würden wir uns dann noch wünschen, dass alles über uns bekannt ist?

Wo endet meine Privatsphäre?

Noch nicht überzeugt? Dann hilft vielleicht Snowdens zweites Argument. Selbst wenn Du selbst wirklich nichts zu verbergen hast und auch nie etwas zu verbergen haben wollen wirst, könnte es doch sein, dass Dir nahestehende Menschen etwas verbergen wollen. Deine Privatsphäre ist nämlich nie nur die Deine, sondern auch die der Menschen, mit denen Du Dich umgibst: Deine Familie, Freunde, Arbeitskollegen, et cetera. Oder, wie Snowden es formuliert: Deine Privatsphäre aufzugeben heißt, auch die aller anderen aufzugeben.

Snowden vergleicht die Idee, keine Privatsphäre zu brauchen, weil man nichts zu verbergen habe, mit der, keine Meinungsfreiheit zu brauchen, weil man keine Meinung habe, keine Redefreiheit, weil man nichts zu sagen habe, keine Pressefreiheit, weil man eh nicht lese, keine Religionsfreiheit, weil man nicht religiös sei, keine Versammlungsfreiheit, weil man antisozial sei.

Alle diese Rechte betreffen nicht nur, vielleicht nicht einmal hauptsächlich das Individuum, sondern die gesamte freie und offene Gesellschaft.

Genauso wie eine Regierung natürlich manche Dinge geheim halten muss – Snowden nennt die Identitäten von Undercover-Agenten und Truppenbewegungen im militärischen Kontext – müssen auch Mitglieder der Gesellschaft etwas geheim halten können – Journalisten ihre Quellen, Firmen ihre Betriebsgeheimnisse, Privatleute ihre legalen Privatvorlieben.

Gefahr für die Demokratie

Snowden glaubt an demokratische Prinzipien, wozu die freie Presse als vierte Instanz gehört. Deshalb habe er keine Dokumente direkt veröffentlicht, sondern alles nur über erfahrene Journalisten laufen lassen. Er kämpfe auch nicht für die Abschaffung der Geheimdienste, auch nicht gegen die Machtposition der USA in der Welt, sondern strebe eine Reformierung derselben an, die mit den demokratischen Prinzipien der Verfassung vereinbar sei. Die Intelligence Community habe die Verfassung „gehackt“ und sich damit über das Gesetz gestellt. Dies sei in zweierlei Hinsicht eine Gefahr für die Demokratie.

Erstens untergrabe es die Rechtsstaatlichkeit – „rule of law“ –, wenn die Exekutive zu viel Macht erhalte. Zweitens basiere das Vorgehen auf Geheimhaltung und Verschwiegenheit, sodass es nicht möglich sei, öffentliche Debatten darüber zu führen, ob das Volk eigentlich dieses Ausmaß an Überwachung wolle.

Die grundlegenden Gesetze einer offenen und freien Gesellschaft seien nicht dazu geschaffen, die Durchsetzung von Gesetzen einfacher zu machen, sondern schwieriger. Sie dienten maßgeblich dem Schutz der Privatperson vor dem Staat, weil die Verfasser moderner Verfassungen die Gefahren kannten, wenn der Staat sich beispielsweise in die Ausübung der Religion oder die Lebensweise seiner Bürger zu sehr einmischt, oder lieber Unschuldige bestraft, als Schuldige laufen zu lassen. Die Unschuldsvermutung sei essentiell für einen Rechtsstaat und dürfe nicht dadurch aufgeweicht werden, dass Polizei und Geheimdiensten immer weitreichendere Verfügungsgewalt im Namen der Sicherheit zugestanden werde.

Das Beispiel Deutschland

Nach Snowdens Enthüllungen sei auf der ganzen Welt zu beobachten gewesen, wie Bevölkerungen empört über die Überwachung durch die NSA waren, ihre demokratisch gewählten Regierungen jedoch Mittäter. Ein Land, in dem Überwachung gegen den Willen seiner Bevölkerung zur Kontrolle derselben genutzt werde, habe im Grunde das Recht verloren, sich eine Demokratie zu nennen, so Snowden.

Deutschland sei dafür ein erstklassiges Beispiel. Hier herrsche aufgrund der Vergangenheit im 20. Jahrhundert ein aufgeklärtes Bewusstsein über die möglichen Folgen von massenhafter Überwachung – durch die Gestapo während der NS-Zeit und die Stasi in der DDR. Deshalb sei hier in der Bevölkerung eine ganz klare Ablehnung der Massenüberwachung zu beobachten, während aber Deutschlands Geheimdienst – BND – eng mit der NSA zusammengearbeitet habe und trotz des Lippenbekenntnisses maßgeblicher Politiker, diese Praxis habe zu enden, dies auch weiterhin tue. Umfragen und Statistiken scheinen zu zeigen, dass sich tatsächlich ein wachsender Anteil der Bevölkerung Deutschlands von der politischen Führung nicht ernst genommen fühlt. Das heißt am demokratischen Maßstab gemessen aber, dass selbige ihren Job nicht macht.

Umdenken ist möglich

Es besteht kein Grund zu Pessimismus. Seit 2013 ist die Kommunikation im Internet laut Snowden insgesamt sicherer geworden. Allerdings wäre es fatal, sich darauf ausruhen zu wollen, sich zurückzulehnen und davon auszugehen, dass irgendwann alles gut wird, auch wenn man nichts dafür tut. Wenn Massenüberwachung erst einmal durchgesetzt und akzeptiert worden wäre, so Snowden, sei dies sehr schwer rückgängig zu machen, weil so viel Macht bei den Überwachern liege.

“Wenn wir den Anspruch auf unsere Daten jetzt nicht zurückfordern, wird es für unsere Kinder vielleicht zu spät sein. Dann werden sie und ihre eigenen Kinder selbst in der Falle sitzen: Jede künftige Generation wird vom Datengespenst der vorherigen verfolgt und der ungeheuerlichen Anhäufung von Informationen unterworfen sein. Informationen, deren Potential zur Kontrolle der Gesellschaft und der Manipulation jedes Einzelnen nicht nur die gesetzlichen Beschränkungen sprengt, sondern auch jegliche Vorstellungskraft.”

Im letzten Teil dieser Artikelserie werde ich darauf eingehen, was wir laut Snowden in diesem Sinne tun können.

Weiter zu: Teil 3/3 Informelle Selbstverteidigung im Netz


Quellen und Anmerkungen:

(1) Die Beschäftigung mit dem Konflikt zwischen Moral und Recht ist so alt wie unsere Kulturgeschichte. Schon im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung widmete sich Sophokles in der Tragödie Antigone diesem Thema. Die titelgebende Figur steht in dem Konflikt, entweder in Übereinstimmung mit ihrer Moral ihren im Krieg gefallenen Bruder Polyneikes zu beerdigen, oder dies in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu unterlassen – ihr Bruder hatte gegen seine Heimatstadt Theben gekämpft und daher hatte der Herrscher Kreon das Begräbnis verboten. Sie entscheidet sich für das Begräbnis und wird lebendig eingemauert, woraufhin sie, ihr Verlobter und dessen Mutter – Kreons Sohn und Gattin – Suizid begehen.

(2) Wobei fraglich ist, ob wir überhaupt sicherer geworden sind. Es ist schwierig, diese Frage zu entscheiden, noch schwieriger ist es aber, sich klar zu werden, was Sicherheit überhaupt heißt und welche Form der Sicherheit wir wollen und welche nicht. Ein vollkommen sicheres Leben scheint mir sterbenslangweilig zu sein, echte Risiken einzugehen eine Anforderung an den Menschen, um sich überhaupt entwickeln zu können. Um wirklich zu leben, muss man auch das Risiko zu sterben annehmen.

(3) Die Parallele zur griechischen Tragödie ist frappierend. Während beispielsweise Ödipus gerade deshalb in die Situation kommt, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu ehelichen, weil er dies zu verhindern versucht, geben westliche Demokratien im Streben nach mehr vermeintlicher Sicherheit ihre freiheitlichen Werte auf, die sie doch eigentlich gerade zu verteidigen suchen.