Skripal 2.0

Der Anschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny könnte für einige nützlich sein — nicht jedoch für Wladimir Putin.

Wir kennen dieses Argumentationsmuster seit Langem: Wenn irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert, ist Putin schuld. Dem russischen Präsidenten wird von westlicher Seite geradezu Allmacht zugeschrieben. Andere Akteure wären offenbar außerstande, ohne seine Unterstützung einen Mord oder Mordversuch zu begehen. Tatsächlich kommt man durch Nachdenken jedoch zu dem Ergebnis: Gerade Wladimir Putin hätte gar kein Interesse an einem toten Alexei Nawalny. Als „Konkurrenten“ um die Macht hat der Präsident seinen Herausforderer weitgehend im Griff. Und ein weiterer medienwirksamer Skandal der Art „Skripal“ könnte dem auf internationale Kooperation angewiesenen Russland in dieser angespannten Gesamtlage nur schaden. Wem also nützt ein toter oder verletzter Nawalny? Man kann darüber Spekulationen anstellen, die mit der Tätigkeit des Anschlagsopfers als Anti-Korruptionsjäger zusammenhängen. Und man kann fragen, wer jetzt am lautesten das Ende der für Deutschland sehr wichtigen Gaspipeline Nord Stream 2 fordert.

Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny brach auf einem Inlandsflug bewusstlos zusammen. Nach einer Erstversorgung durch russische Ärzte liegt er jetzt in der Berliner Charité im Koma. Bundeskanzlerin Merkel und mit ihr das Gros der deutschen und europäischen Medien sprechen von einem Mordversuch und fordern Erklärungen von Russland. Die Frage ist aber: Könnte ein toter Nawalny Russland oder Putin überhaupt nützen?

Geht man mit dieser, zugegeben krassen Frage an die Ereignisse um Nawalny heran, dann öffnen sie sich von einer überraschenden Seite. Als erklärter Anti-Korruptionsjäger, der seine Aufgabe bisher darin sah, mafiotische Seilschaften im Lande bis in Regierungskreise hinein aufzudecken, ist Nawalny eine politische Figur, die sehr widersprüchliche Gefühle auslöst. Und dieser Tätigkeit wird er, sollte er wieder voll zu Kräften kommen, was ihm zu wünschen ist, auch in Zukunft nachgehen. Jetzt war er in Nowosibirsk soeben dabei, die Verfilzungen der örtlichen Baumafia aufzudecken.

Solche und ähnliche Aktivitäten haben ihm Sympathien jugendlicher und liberaler Kreise und selbstverständlich die Gegnerschaft der herrschenden Bürokratie eingebracht. Deren Vertreter belegten ihn immer wieder mit kurzen Haftstrafen, schlossen ihn von der Kandidatur zum Präsidentenamt aus und verwehrten ihm die Gründung einer eigenen Partei. Ihn mit einer längeren Haftstrafe zum Schweigen zu bringen, hielt man seitens der Herrschenden aber offenbar trotz seiner unbequemen und zum Teil provokativen Auftritte über all die Jahre seit seiner Gründung seines „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ im Jahr 2011 nicht für nötig (1).

Vor diesem, zugegeben sehr knapp skizzierten Hintergrund ist ein politisches Interesse Wladimir Putins — oder allgemeiner gesprochen — der russischen Regierung, Nawalny töten zu lassen, nicht zu erkennen, ganz zu schweigen von moralischen Aspekten.

In einer Lage, in der Russland nach wie vor den aus dem Ukraine-Krim-Konflikt resultierenden Dauer-Sanktionen ausgesetzt ist, in der Russland der „Fall Skripal“ nach wie vor nachgetragen wird, in der die Auseinandersetzung um die Fortführung des Projektes Nord Stream 2 — aktuell angeheizt durch die USA — gerade in die Endrunde geht, und in einer Zeit schließlich, in der die Autorität der Regierung im Lande durch das Corona-Regime geschwächt ist, müsste Putin von allen guten Geistern verlassen sein, einen solchen Anschlag zu befehlen oder wissentlich zuzulassen.

Dies umso mehr, als dass dieser Anschlag — wenn es denn einer war, was noch zu untersuchen sein wird — derartig stümperhaft durchgeführt wurde, dass das Opfer vor den Augen der Öffentlichkeit litt und gerettet werden konnte.

Kommt die Tatsache hinzu, dass Putin und generell die russische Regierung keine Einwände gegen die Überführung des im Koma liegenden Nawalny in ein deutsches Krankenhaus erhob, obwohl der Befund der russischen Ärzte nach der Ersten Hilfe bereits vorlag und obwohl Putin nach den Erfahrungen mit dem „Fall Skripal“ damit hätte rechnen müssen, dass die deutsche Seite diesen neuen „Mordfall“ gegen Russland propagandistisch ausschlachten würde.

Da stellt sich eher die Frage, warum Putin und die russischen Behörden diese Überführung des Patienten nicht verhindert haben, sondern umstandslos ermöglichten. Dies ist jedenfalls eher als Zeichen der Naivität zu bewerten, aus der heraus Putin und seine Umgebung offenbar glaubten, sich dieses Mal auf faire Untersuchungen und konkrete Hilfe zur Aufklärung des Vorganges durch die deutsche Seite verlassen zu können.

Wie fair diese Aufklärung verläuft, wird sich erst noch zeigen müssen. Bisher stehen die medizinischen Befunde der russischen und der deutschen Ärzte noch nebeneinander, obwohl sie zum Teil deckungsgleich sind. Klar scheint nach bisherigem Stand nur zu sein, dass die deutschen Mediziner nichts Genaueres gefunden haben als die russischen Ärzte, nämlich sogenannte Cholinesterase-Hemmer. Dagegen wurde von den russischen Ärzte bereits Atropin eingesetzt, so wie später auch von den deutschen — nur dass die deutsche Seite ihren Befund unter dem Sammelbegriff Nowitschok-Gruppe anders klassifizierte. Welches Element dieser Gruppe konkret vorliegt, ist nicht geklärt. Ein kooperativer offener Austausch der Ergebnisse steht noch aus (2).

Wer springt auf?

Dass der „Fall Nawalny“ jetzt von den Gegnern von Nord Stream 2 — angefangen bei den Hardlinern der CDU über die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine bis hin zur NATO und den USA — benutzt wird, um die Verhinderung der zweiten Ostsee-Pipeline damit zu begründen, und für diese Verhinderung Stimmung zu entfachen, hätte sich Putin eigentlich denken können. Insofern ist die Bereitschaft der russischen Regierung, Nawalny auf Wunsch seiner Angehörigen nach Deutschland bringen zu lassen, eher ein Zeichen der Hilflosigkeit der russischen Seite in einer zwittrigen Situation, in der die Weigerung den Kranken nach Deutschland einfliegen zu lassen, den Verdacht hervorgebracht hätte, man habe etwas zu verbergen.

Dagegen ist die Konfrontation der russischen und der deutschen Untersuchungsergebnisse das kleinere Übel. Mehr noch, es enthält sogar eher die Chance — wenn auch, wie sich zeigt, eine geringe — auf einen Austausch der russischen und der deutschen Untersuchungsergebnisse.

Fragt man weiter, wer Interesse am Tod Nawalnys haben könnte, so kommt man ganz schnell, wie oben schon angedeutet, zu Nawalny als hauptberuflichem Rechercheur mafiotischer Verbindungen. Zu verfolgen wäre die Spur, die ins landesweite Gestrüpp der Korruption führt. Da ist ganz offensichtlich, dass selbst Putin in diesem Gestrüpp tatsächlich keinen autoritären Durchgriff hat, auch wenn sich das Niveau der Korruption aus der Zeit Boris Jelzins inzwischen schon, vorsichtig gesprochen, eingeebnet hat, das heißt, aus dem Alltag in die dunklen Ecken der Gesellschaft und in deren Spitzen zurückgezogen hat.

Nawalny ist ja nicht der alleinige Korruptionsjäger. Er ist — es sei erlaubt, das so zu sagen — nur die spontane Kraft, die das von unten ergänzt, was die organisierte Autorität von oben nicht schafft. Hier werden die Grenzen Putin‘scher Macht deutlich, der versprochen hat, mit einer „Diktatur des Gesetzes“ die Zeit der wirren Privatisierung der 1990er-Jahre zu beenden.

Anders gesagt, es ist sinnlos von Putin zu erwarten, dass er das Korruptionsgeschehen hundertprozentig im Griff hat und ihn für mögliche Verbrechen in dieser Szene persönlich in Haftung nehmen zu wollen, sagen wir ruhig, so wenig wie man Angela Merkel für die Toten von Hanau persönlich haftbar machen kann. Im Gegenteil dürfte hier der Grund zu suchen sein, warum Nawalny, dem provokativen Stil seiner Aktivitäten zum Trotz, von Putin und seinem Kommando nicht weggesperrt wurde, wie etwa seinerzeit Michail Chodorkowski, solange er mit seinen Aktivitäten jene Unruhe in der Bürokratie schafft, die Putin, eingesperrt in Verpflichtungen seiner Konsenspolitik und die Pyramide der Wohlverhaltens des politischen Beamtentums gegenüber der Zentralmacht, nicht schaffen kann.

Noch klarer gesagt, Putin braucht Nawalny als Alter Ego, solange der sich an die Grenze hält, von unten her zu agieren, was er bisher auch getan hat. Nawalnys Schweigen wäre ein Verlust für eine lebendige Entwicklung Russlands.

Vor diesem Hintergrund sind alle Versuche des Westens, die jetzt Nawalny, Belarus, Chabarowsk, Nord Stream 2 , Ukraine, Krim, Skripal, Syrien „und alles andere“ (3) in einem Topf zusammenkochen und zum sofortigen Stopp von Nord Stream 2 aufrufen, nichts anderes als politischer Missbrauch eines medizinischen Hilfsgesuches: Aggression statt Unterstützung, begleitet vom Zurückhalten der Informationen, die für eine offene Kooperation zwischen den beteiligten Ärzten unerlässlich wären.

Wem also nützt das ganze Getrommel? Die Frage ist eindeutig zu beantworten: Sie nützt denjenigen, die eine Kooperation Deutschlands mit Russland in Sachen Nord Stream 2 verhindern wollen. Die kann man jetzt am lautesten schreien hören.

Da ist es dann ein bemerkenswerter Umstand, dass die deutsche Kanzlerin, obwohl sie es ist, die Russland am schärfsten aufgefordert hat, sich zu dem von ihr als unbestreitbare Tatsache bezeichneten Mordanschlag gegen Nawalny zu erklären, zugleich das ökonomische Interesse Deutschlands an der Weiterführung der Nord Stream 2 vertreten muss.

Man darf gespannt sein, wohin dieser Spagat führt. Nawalnys Gesundheit und Leben sowie die Rolle, die er in Russland wahrnimmt, spielen in diesen Auftritten nur noch die zweite Rolle, auch wenn Kanzlerin Merkel dem im Koma Liegenden ausdrücklich Gesundheit wünschte. Nun, immerhin.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Nawalny
(2) Siehe dazu den sehr ausführlichen Artikel im Tagesspiegel vom 25. August 2020 https://www.tagesspiegel.de/politik/russische-zweifel-an-der-nawalny-diagnose-wenn-sie-ihn-haetten-toeten-wollen-haetten-sie-ihn-getoetet/26124370.html)
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgaben vom 3. und 4. September 2020.