Selbstverschuldete Unmündigkeit
Deutschland hat sich nach zwei verlorenen Kriegen ganz in die Obhut der USA begeben — jetzt werden die Schattenseiten dieses Vasallenstatus überdeutlich.
Der ewige Verlierer Deutschland wollte mit dem großen Bruder aus dem Westen endlich auf der Siegerstraße fahren. Im 20. Jahrhundert immer der moralisch Verurteilte, wollte das Land einmal auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Und damit konnte nur der Westen gemeint sein, mit seiner Schutzmacht USA. Das Problem war, dass die beiden großen Ideologien der Nachkriegszeit — der Kommunismus im Ostblock und der Liberalismus in den westlichen Staaten — im Laufe der Zeit ihre Untauglichkeit erwiesen haben, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Notwendig wäre entweder ein Kompromiss gewesen, zu dem Deutschland wegen seiner geografischen Mittelstellung in Europa prädestiniert ist, oder der Mut, einen neuen, ganz eigenen Weg zu gehen. Beides ist dem Land jedoch nicht gelungen, und so sieht es sich jetzt von einem Abwärtssog erfasst. Seine Bedeutung ist global im Schwinden begriffen, und Nibelungentreue zu einem Amerika, das moralisch abgewirtschaftet hat, kann die Lösung nicht sein. Deutschland muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Zwei schwere Niederlagen Deutschlands schwächten zunächst nach dem Ersten Weltkrieg das politische System des preußischen Militarismus und nach dem Zweiten Weltkrieg das System des Nationalsozialismus; beide Systeme waren seinerzeit selbst gewählten Überzeugungen entsprungen, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Übernahme des amerikanischen Sieger-Systems des liberalen Verfassungsstaats führte zu weitestgehender Aufgabe nationaler Identität. Durch die Integration des Verliererstaats Deutschland in das Militärbündnis der USA-dominierten NATO sank der Westteil des Landes endgültig zum Vasallen der USA herab. Durch die Wiedervereinigung erwachte schemenhaft die Rückerinnerung an einstige nationale Größe, doch das nach wie vor unveränderte Vasallentum des nunmehr wiedervereinigten Landes gegenüber den USA verstärkte sich dadurch eher noch.
Unverändert glauben die deutschen Massen schon seit Längerem und scheinbar mehr denn je eisern daran, mit dem amerikanischen liberalen System jetzt endlich auf der sicheren Seite der Geschichte zu stehen. Die Feinde der Amerikaner sind auch die Feinde der Deutschen.
Die Stabilität des liberalen Systems in Politik und Gesellschaft scheint gesichert. Sollten die deutschen Massen eines Tages jedoch des liberalen Systems, dauernden Parteienhaders, des Parlaments als perspektivlosem Debattierklub und Hort der Korruption obendrein, permanent wechselnder Regierungskoalitionen und enervierend wie auch des dauernden Dreinredens aus Brüssel überdrüssig werden und die Feindbilder der Amerikaner nicht mehr übernehmen wollen, wirklich wieder neue nationale Eigenständigkeit, Größe und Würde ersehnen — welche Alternativen gäbe es dann? Und wie würde das Experiment eines fundamentalen Wandels verlaufen? Friedlich oder kriegerisch? Würde eine revolutionäre Linke dabei eine Rolle spielen können? Oder gäbe es wieder nur die faschistische Lösung?
Krise des Liberalismus
Eins ist sicher, so wie jetzt wird es nicht weitergehen. Der Liberalismus ist überall auf der Welt am Ende, am augenfälligsten im Mutterland, in den USA selbst, wo er tatsächlich seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Kalten Kriegs wie in keinem anderen Land ohne Unterbrechungen funktioniert hat. Aber seitdem sinkt sein Stern. Es besteht die Gefahr, dass Deutschland mit in den Abgrund gerissen wird, wenn es nicht imstande ist, sich zeitgerecht auf eigene Beine zu stellen.
Dafür ist es notwendig zu klären, wo Deutschland heute als geschichtlich gebeutelter Zentralstaat Europas geostrategisch anzusiedeln wäre. Der Kalte Krieg ist vorbei. In Ernst Noltes äußerst hellsichtigem Buch „Deutschland und der Kalte Krieg“ (1) finde ich das dritte Kapitel benannt als „Der erste Staat der Linken: die USA“ und das fünfte „Der Marxismus als Staat: die UdSSR“. Hier ist nicht der Ort, 750 Seiten brillante Geschichtsschreibung zu referieren, aber seinem Hauptwerk aus dem Jahr 1963, „Der Faschismus in seiner Epoche“ (2), hat er 1999 ein Vorwort vorangestellt, in dem er kurz und bündig die Leitgedanken des Kalter-Krieg-Buchs zusammenfasst:
„Das Verhältnis zwischen den beiden Mächten — Nolte nennt die USA und die UdSSR ‚moderne Ideologiestaaten‘ — ist also (…) ein Verhältnis der Nähe und der Feindseligkeit zugleich. Die Nähe findet ihren Ausdruck in dem gemeinsamen Kampf gegen die faschistischen Mächte, der aus dem marxistischen Denkansatz unerklärlich ist und der die Epoche des Faschismus an ihr Ende bringt. Die Feindseligkeit tritt von dem Augenblick an immer unverkennbarer hervor, wo der Gegner niedergeworfen ist. Sie erreicht ihren Höhepunkt in dem Ringen um das Land und um die Einstellung der Besiegten, das heißt um Deutschland“ (Nolte, Epoche XI).
Am Ende von Noltes Buch zum Kalten Krieg aus dem Jahre 1974 steht die These, „dass mit der freilich nicht uneingeschränkten ‚Anerkennung der Teilung Deutschlands‘ durch die sogenannten Ostverträge der Kalte Krieg nicht an sein definitives Ende gelangt, wohl aber in eine ‚Latenzphase‘ eingetreten sei, in der bereits das Scheitern der großen Ideologiestaaten erkennbar sei, deren Universalismus sich als partikular bestimmt erwiesen habe“ (Nolte, Epoche XII).
Weder der amerikanische Liberalismus noch der Marxismus-Leninismus der UdSSR haben es geschafft, sich weltweit auszudehnen, und Nolte stellt nicht ohne eine gewisse Häme fest, „eine ganze Reihe von Marxisten wurde zu entschiedenen Vorkämpfern des ‚Westens‘, aber sie verstanden sich zum überwiegenden Teil bald nicht mehr als orthodoxe Marxisten“ (Nolte, Epoche XI).
Betrachtet man die USA als „den Staat der Linken“, was in Gegenüberstellung zum nationalsozialistischen Deutschland eine gewisse Berechtigung hat, dann wird schlagartig klar, warum die neuzeitlichen kriegerischen Handlungen der USA gegen solche als quasifaschistische Ideologiestaaten eingestufte Länder wie Slobodan Miloševićs Serbien oder Saddam Husseins Irak oder das Afghanistan der Taliban keine linke Friedensbewegung ausgelöst haben.
Diese Kriege wurden als „gerecht“ empfunden, da bei der geringsten Abweichung vom liberalen System bei den im Geist des Liberalismus erzogenen Menschenmassen des „vereinigten Westens“ der Ruf nach entschlossenem Eingreifen laut wird.
Das ist Ausfluss des Schulunterrichts, wo gelehrt wird, dass der Krieg gegen den europäischen Faschismus „in Ewigkeit. Amen“ für alle Zeit gerecht war und sich so als eine bloße Verirrung der Geschichte tief im Bewusstsein der Massen eingeprägt hat. Diese selbstgerechte Betrachtung des Faschismus und überhaupt von Geschichte als immer schon überwunden geglaubte Episoden eines unaufhaltsamen Fortschritts führt zu ewigem Hinterherhinken der Volksmassen gegenüber historischen Veränderungen. Die Massen bekommen diese schlicht und einfach nicht mit. Daher ist insbesondere den deutschen Volksmassen der kriegerische Konflikt mitten in Europa in der Ukraine in seiner Dimension völlig unerklärlich.
Noltes Bücher, die ihn verständlich machen würden, gehören nicht zum deutschen Bildungskanon. Das Handeln der deutschen Staatselite, egal welche Parteien gerade die Zügel in Händen halten, ist ein Nichthandeln. Die Regierungspferde bewegen sich nicht vom Fleck. Das Denken steckt fest in längst außer Kraft gesetzten Doktrinen.
Nicht nur die UdSSR ist als „moderner Ideologiestaat“ längst untergegangen, auch die Hybris der USA, den Kalten Krieg „gewonnen“ zu haben, hat sich längst als Illusion erwiesen. Längst sind die Kriegsgespenster des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt. Europa noch einen Tag länger als „Friedensprojekt“ zu bezeichnen, ist unverschämt gegenüber dem Rest der Welt. Ein Kontinent mit einer derart umfangreichen militärischen Armada wie der NATO und mit seinem uralten kapitalistischen Bestreben, so viel Reichtum aus den weniger entwickelten Ländern herauszupressen wie nur irgendwie geht, um seine Völker bei Laune zu halten, kann logischerweise niemals ein Friedensprojekt sein.
Europa mit seinem Militärbündnis der NATO könnte aber auch keinen Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner durchstehen. Im Kalten Krieg wurden keine Kriege in Europa geführt. In ihm duckten sich der westliche Teil ohne ernsthafte Rüstungsbemühungen unter den Sicherheitsschirm der NATO mit ihrer militärisch superausgestatteten Garantiemacht USA und der östliche unter den Sicherheitsschirm des Warschauer Pakts mit dem ebenfalls bis an die Zähne bewaffneten Hegemon UdSSR.
Weder da noch dort herrschte Kriegsstimmung. Die jeweiligen Militärverbände der Länder blieben schwach, die Waffenarsenale dümpelten vor sich hin, das militärische Drohpotenzial Europas glich einem Potemkinschen Dorf, die Verbände waren Alibiformationen, die Drohkulissen Attrappen. Man verließ sich hüben wie drüben auf die militärische Stärke der jeweiligen „Schutzmacht“.
Das Patt garantierte den Frieden. So konnten sich die Völker beiderseits des „Eisernen Vorhangs“, nach zwei Weltkriegen ermattet und friedliebend geworden, in das weiche Polster eines scheinbar ewigen Friedens sinken lassen.
Ausbruchsversuche, lokale Scharmützel wie die „Ungarnkrise 1956“ oder der „Prager Frühling“ durften paktintern geregelt werden, und aus der NATO wollte sowieso niemand ausbrechen, wurde es doch in Westeuropa immer gemütlicher. Und auch so bedeutende „kommunistische“ Parteien wie die KPI und die KPF entdeckten ihre Liebe zum liberalen System der parlamentarischen Demokratie und glaubten allen Ernstes, mit „friedlichen“ Mitteln die Macht erobern zu können. Damit will ich nicht sagen, dass andere Mittel besser funktioniert hätten. Heiner Müller hat das 20. Jahrhundert schlicht und einfach „das Jahrhundert der Konterrevolution“ genannt.
Soll das 21. Jahrhundert die Wiederholung des 19. sein?
Das 20. Jahrhundert ist seit Längerem vorbei, aber seine Gespenster sind wieder da. In Italien regieren die gewiss handzahm und weiblich gewordenen Faschisten, und in Frankreich steht ebenfalls eine rechtsextreme Partei mit einer Frau als Chefin ante portas, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Das politische Spiel entwickelt sich langsam, aber sicher zurück zu jenem des 19. Jahrhunderts.
Und um was ging es damals? Um Sicherung, fallweise um Verschiebung nationaler Grenzen, um „Pufferzonen“, um Rüstung, um Ausgrenzung „falscher“ Rassen und Religionen, um imperialistische Ausbeutung überseeischer, damals als „Kolonien“, heute euphemistisch als „Handelspartner“, bezeichneter subalterner Ökonomien.
Und da stehen sie wieder wie aufgefädelt auf einer Landkarte des 19. Jahrhunderts: Deutschland, Frankreich, England und verstreut Zwergstaaten wie Luxemburg, Andorra, Liechtenstein, die baltischen Staaten und Staaten von mittlerer Größe, Holland, Belgien, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die Balkanländer — allesamt NATO Mitglieder — und drüben im Osten das Riesenreich Russland und die ehemaligen Staaten der UdSSR. Und weit weg, jenseits des Atlantiks: Amerika.
Wie das Beispiel des Zweiten Weltkriegs anschaulich zeigt, war der vereinigte, bis auf die Zähne bewaffnete Faschismus Europas nicht imstande, die UdSSR kriegerisch niederzuringen. Und damals war Europa eine Kriegsmaschine, denn es war das Wesen des Faschismus, den Kontinent, in dem er herrschte, zu einer solchen umzuformen. Warum sollte ein heterogenes Gebilde wie die NATO mit ihren im Geiste des Antifaschismus erzogenen „gesinnungspazifistischen“ (Nolte) Menschenmassen mehr Erfolg haben als durch und durch zum Krieg aufgestachelte faschistische Armeen?
Wenn es aber nicht um eine Rückkehr zum Faschismus, sondern in Wahrheit um friedliche Koexistenz souveräner Staaten auf dem europäischen Kontinent gehen soll, wofür braucht es dann eine NATO?
Im Grund genommen ist die NATO mit dem Ende der „modernen Ideologiestaaten“ obsolet geworden, denn im Falle eines großen Krieges würde sie sich in ihre Bestandteile auflösen, das heißt, die einzelnen Mitgliedsstaaten würden zum Denken und Handeln des 19. Jahrhunderts zurückkehren, entweder auf Kosten anderer massiv aufrüsten, nach Landgewinn streben oder ihr Heil im Opportunismus suchen und sich in die Realität fügen. Dann noch auf die USA als rettenden Engel zu bauen wird sich als trügerische Illusion erweisen. Fraglich ist überhaupt, ob sie es schaffen würden, die notwendigen Kriegsgeräte durch die russische U-Boot-Flotte über den Atlantik zu transportieren. Ramstein jedenfalls würde nicht ausreichen, weil es sehr bald dem Erdboden gleichgemacht wäre.
Es wird Zeit, dass Deutschland aufwacht und anfängt, seinen politischen Standort neu zu bestimmen. So inferior wie heute habe ich das Geistesleben meines großen Nachbarlandes noch nie in den 71 Jahren erlebt, die ich nun schon auf der Welt bin.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974
(2) Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 2000