Selbstbestimmung statt Stimmabgabe
Statt Befreiung von Tyrannei hat uns repräsentative Demokratie vor allem das Recht gebracht, wählen zu dürfen, wer uns künftig tyrannisiert. Eine Alternative wäre ein Rätesystem.
Politische Konzepte respektieren entweder die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung — dann werden sie in den Medien als „unrealistisch“ dargestellt —, oder sie gelten als „realistisch“ — dann fehlt dieser Respekt völlig. Jedenfalls könnte sich ein solcher Eindruck aufdrängen, wenn man den momentanen Zustand unserer „repräsentativen Demokratie“ anschaut. Zunehmend benehmen sich die Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten als Erziehungsberechtigte, nicht als Angestellte, die deren Willen zu exekutieren haben. Viele räumen sogar ein, dass „unsere Demokratie“ durchaus unvollkommen sei; stets folgt auf derartige Verse jedoch der immer gleiche Refrain: Die Demokratie — und zwar in der jetzt vorherrschenden Form — sei nun mal die beste aller real möglichen Staatsformen. „Alternativlos“, um eine beliebte Vokabel der Merkel-Ära zu zitieren. Aber ist das wirklich so? Eine Demokratievariante, über die in der Geschichte viel nachgedacht und die immer wieder ausprobiert wurde, ist die Rätedemokratie. Sie funktioniert radikal von unten nach oben. Politiker in einem solchen System sollten sich nicht nur gewählt ausdrücken — sie wurden einzig dazu gewählt, um auszuführen, wozu sie von ihren Wählern beauftragt wurden. Ein Prinzip, das heutigen machtbewussten Elitenvertretern völlig fremd geworden ist. Angesichts der fundamentalen Vertrauenskrise, die etablierte Politik derzeit durchläuft, und angesichts von Entscheidungen, die geradezu als Kampf der Herrschenden gegen die Bürger interpretiert werden können, wäre es allerdings an der Zeit, neu über Elemente eines Rätesystems innerhalb der Demokratie nachzudenken. Heute geben wir bei Wahlen unsere Stimmen ab, sodass sie uns im weiteren Verlauf einer Legislaturperiode weitgehend verloren gehen. Besser wäre es, diese Stimmen für uns zu behalten und sie immer wieder zu erheben: bei Sachentscheidungen und durch Entsendung von Vertretern, die diesen Namen wirklich verdienen.
„Alle Macht den Räten“ lautete eine Parole der russischen Bolschewiki. Besser nicht, könnte man antworten, wenn man sich anschaut, was „Bürgerräte“ heutzutage so alles fabrizieren. Ein von der Bertelsmann-Stiftung finanzierter Rat mit dem Namen „Forum gegen Fakes“ legte der Bundesregierung unlängst ein Papier mit so kruden Thesen vor, dass selbst die Politik Nancy Faesers damit verglichen noch von außerordentlichem Respekt vor der Meinungsfreiheit durchdrungen scheint.
In einem „Bürgergutachten“, das das Forum am 12. September 2024 Nancy Faeser persönlich überreichte, werden umfangreiche Hürden und Kontrollen für alle persönlichen Meinungskundgebungen auf Social Media gefordert:
„Vor dem Posten soll es eine angemessene Bedenkzeit (2–5 Minuten) für alle Inhalte auf Social-Media-Plattformen geben. Innerhalb dieser Bedenkzeit überprüft eine KI den Inhalt auf mögliche Desinformation, beispielsweise im Hinblick auf Schlagwörter, welche auf sensible Themen (wie beispielsweise Wahlbeeinflussung, Migration) hinweisen. (…) Wenn der Inhalt unbedenklich ist, wird er nach der Bedenkzeit veröffentlicht. Besteht ein Verdacht auf Desinformation, soll ein Warnhinweis erscheinen, welcher darauf aufmerksam macht, dass der Inhalt nicht unbedenklich ist.“
Eine Warnung ist zwar noch keine Zensur, aber …
„Entscheidet sich die Verfasserin/der Verfasser, trotzdem zu posten, wird der Inhalt zurückgehalten und durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Plattform final geprüft. Bei einer Einstufung des Beitrags als Desinformation wird der Post nicht veröffentlicht. (…) Alle Social-Media-Plattformen müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, eine Bedenkzeit mit den genannten Schritten einzuführen. Die konkrete Einführung und Umsetzung der Schritte obliegt den Unternehmen (zum Beispiel durch die Aktualisierung der Nutzungsbedingungen). Die gesamte Empfehlung ist auf deutscher und EU-Ebene zu erlassen.“
Das ganze Prozedere ist als freiwilligkeitserzwingende Maßnahme konzipiert:
„Die Plattformen werden sich nicht freiwillig selbst reglementieren, aus diesem Grund benötigt es eine gesetzliche Regelung.“
Bürger an der Hundeleine
In der Praxis könnte dies bedeuten: Wer auf Social Media schreibt, was er selbst für richtig hält, gegen den könnten sich künftig ungefragt mahnende Zeigefinger erheben: „Bist du sicher, dass du das posten willst? Anständige Menschen halten derartige Ansichten für nicht unbedenklich. Du riskierst, Desinformationen zu verbreiten.“ Dem Anschein nach wird die Entscheidung, das „Falsche“ dann dennoch zu posten, immer noch dem Nutzer selbst überlassen. Aber: Im Ernstfall können statt KI-generierter Mahnungen dann lebende Mitarbeiter und Mitarbeiter der Plattform einschreiten und das Posting vereiteln. Der Vorgang gleicht der Anbindung der Social-Media-Autoren an eine Hundeleine. Solange sich ein Vierbeiner nicht zu weit von seinem Herrchen entfernt, kann er sich frei fühlen. Erst wenn er zu weit ausschert, spürt er das schmerzhaft zerrende Gefühl an seinem Hals, das ihm die Grenzen seiner Bewegungsfreiheit unmissverständlich anzeigt.
Das Löschen unbotmäßiger Meinungen wäre aber mitunter nicht das Schlimmste, was „Täterinnen und Tätern“ — so werden Falschdenker vom Bürgerrat allen Ernstes bezeichnet — geschehen kann. Die Ratsmitglieder fordern die Bundesregierung zudem auf, zu prüfen, ob „strafrechtliche Verfolgung oder anderweitige Sanktionierung als Reaktion auf Desinformation möglich sei“.
Sind derartige Vorschläge nur Schnapsideen machtloser Laien, die ohnehin nie zur Umsetzung gelangen? Nicht unbedingt. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, schrieb in einer Stellungnahme:
„Die zunehmende Verbreitung von Desinformation als Teil einer hybriden Kriegsführung ist zunehmend eine echte Gefahr für unsere Demokratie. Hierauf muss unser Rechtsstaat sehr entschlossen reagieren. Er muss Nutzerinnen und Nutzer, öffentliche Diskurse und demokratische Willensbildungsprozesse gerade im Kontext von Wahlen schützen. Regulierung bleibt das Gebot der Stunde.“
Der Weg in ein deutsches Kalifat
Meinungslenkung wird hier definiert als der „Schutz“ der Bevölkerung vor staatlicherseits nicht erwünschten Meinungen. Das Ergebnis wäre: Meinungsfreiheit für diejenigen, die sowieso im Sinne der Macht „richtig“ denken. Es braucht hier kaum betont zu werden: „Desinformation“ ist immer Information, die Herrschenden nicht gern hören. Eine Republik nach dem Gusto von Konstantin von Notz käme einem Kalifat gleich — insofern als die Inhaber weltlicher Macht zugleich die Kontrolle über die Glaubensvorstellungen innehätten, die im Volk vorherrschen und Ketzerei entsprechend sanktionieren. Von Notz fährt fort:
„Notwendig ist ein ganzes Maßnahmenbündel — von der effektiven Plattformregulierung durch gute Gesetzgebung, die Stärkung unabhängiger Aufsichtsstrukturen samt echter Sanktionsmöglichkeiten und einer verbesserten Rechtsdurchsetzung im Digitalen, über Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und mehr altersunabhängige Medienkompetenzvermittlung.“
Das kommt einer Lizenz zum Töten der Meinungsfreiheit gleich.
Das Fazit, das man aus all dem ziehen könnte, lautet: Hier scheint sich der Vorschlag Bertolt Brechts zu bewahrheiten, die Regierung könne sich doch ein anderes Volk wählen, wenn sie mit dem bisherigen unzufrieden sei. Nach Angaben des „Forums gegen Fake“ wurden 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer „zufällig ausgewählt“. Das Verfahren bleibt jedoch höchst intransparent, was Raum für Spekulationen lässt.
Mir scheint folgende Deutung plausibel: Über Vermittler, die im Prinzip derselben Glaubensgemeinschaft angehören — hier die Bertelsmann-Stiftung —, wählen Herrschaftseliten eine Gruppe von Bürgern aus, die deren Grundüberzeugungen bestätigen. Oder die, indem sie offensichtlich über ihr Ziel hinausschießen, bei der gequälten Restbevölkerung geradezu Sehnsucht erwecken, zukünftig doch lieber von Profis beherrscht zu werden anstatt von grundrechtsfernen Laiendarstellern.
Ein weiterer Stein in der Mauer
Das Votum dieser „Räte“ wird Andersdenkenden dann als Beleg dafür unter die Nase gerieben, dass das Volk selbst ganz ähnlich denkt wie seine Vertreter. „Zufällig“ ist Thema einer solchen Veranstaltung dann nicht etwa die Ausweitung der in Deutschland mittlerweile massiv gefährdeten Meinungsfreiheit, sondern deren Einschränkung. Nur noch über das „Wie“ dieser Einschränkung wird verhandelt. Kritiker werden so in eine Ecke getrieben, in der sie sich wie völlig isolierte politische Geisterfahrer vorkommen müssen — gar als „Demokratiefeinde“, wenn sie sich weigern, den Thesen der Räte als den Vertretern einer mutmaßlichen Mehrheitsmeinung zuzustimmen.
Dieser Vorgang ist brandgefährlich. Denn auch wenn es Kritik an diesem neuerlichen Angriff auf die Freiheit gibt und wenn wir hoffen dürfen, dass nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde: Der Vorstoß des Bürgerrats ist doch eher ein „weiterer Stein in der Mauer“ — um hier eine Textzeile der Band Pink Floyd zu übersetzen. Jener Mauer, die unsere Gedanken zunehmend erstickend umschließt und uns von jeder Frischluftzufuhr durch unkonventionelle Gedanken abzuschneiden versucht.
Wie ein Rätesystem wirklich funktioniert
Es ist wichtig festzustellen, dass besagter „Bürgerrat“ von Bertelsmanns Gnaden nichts mit einem Rätesystem im ursprünglichen Sinn zu tun hat. Einfach deshalb, weil Bürger ihn nicht gewählt haben. Selbst wenn die Auswahl der Teilnehmer nicht manipuliert war — etwa im Sinne eines Schäfchen-Bonus, der den Angepassten die besten Chancen böte, teilzunehmen —, so war sie doch gewiss nicht basisdemokratisch. In einer echten Rätedemokratie werden Funktionsträger von jenem Kollektiv, das sie vertreten sollen, direkt gewählt. Sie bilden dann Exekutive, Legislative und Judikative in einem, was man kritisieren kann, weil eine Gewaltenteilung auf diese Weise von vornherein nicht vorgesehen ist. Andererseits verfügen Rätesysteme über einen Sicherungsmechanismus, nach dem wir uns heute als Untertanen eines „repressentativen“ Systems nur sehnen können: die Möglichkeit, Räte abzuberufen, wenn sie nicht nach dem Willen der Basis agieren. Wie wohltuend wäre das im Fall einiger unserer derzeitigen Politiker!
Außerdem gilt in Rätesystemen das Rotationsprinzip, um Machtkonzentrationen und sich über viele Jahre etablierende „Erbhöfe“ zu vermeiden. Macht wird radikal von unten nach oben vergeben, was der heutigen politischen Praxis völlig fremd geworden ist. Das oberste Gremium — man könnte es den „Zentralrat“ nennen — wird aber nicht direkt vom ganzen Volk gewählt. Vielmehr wählt die Basis zum Beispiel Dorfräte, dies wählen Bezirksräte, diese wiederum Räte auf Landes- und Bundesebene. Die Übertragung dieses Systems auf die Situation im heutigen Deutschlands ist vorerst ein reines Gedankenspiel, weil es dergleichen bisher nicht gegeben hat.
„Sowjets“ für Deutschland?
Der Begriff „Rätesystem“ klingt für diejenigen, die auf diesem Ohr hellhörig sind, nach Steinzeitkommunismus. Neoliberale wie Julian Reichelt, die sich mit gutem Grund über die jüngste Show der „Bürgerräte“ geärgert haben, werfen gern ein, das russische Wort für Räte sei „Sowjets“. Damit sind Räte für sie ein für alle Mal vom Tisch.
Räte — das hängt vermeintlich irgendwie mit Planwirtschaft und dem Gulag-System in der Sowjetunion zusammen. Eigentlich ist damit aber ein ganz einfaches Prinzip gemeint, über das sich unter anderem einige Naturvölkern organisieren. Bestimmte Gruppen von Menschen entsenden gewählte Räte in ein Gremium, das einer höheren Organisationseinheit angehört. Wichtig dabei ist das „imperative Mandat“. Das bedeutet: Räte tragen im Rat nicht ihre eigene Meinung vor; sie halten sich getreulich an die Auffassung derer, von denen sie gewählt wurden. Und sie stimmen auch in deren Sinne ab. Das „Gewissen“, das bekanntlich ein sehr wolkiges und manipulierbares Gebilde ist und häufig im Sinne der Mächtigen votiert, ist somit nicht höchste Richtschnur eines wirklichen Volksvertreters.
Neu ist dieses Prinzip nicht. Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth nimmt an, dass „matrifokale“ — auf Mütter fokussierte — Gesellschaften als Rätedemokratien funktioniert hätten, und zwar lange bevor die Sowjetunion aus der Taufe gehoben wurde. „Angelegenheiten, die das Clanhaus betreffen, werden von den Frauen und Männern in einem Prozess der Konsensfindung, das heißt durch Einstimmigkeit entschieden“, erzählt Göttner-Abendroth.
„Dasselbe gilt für Entscheidungen, die das ganze Dorf betreffen: Nach dem Rat im Clanhaus treffen sich Delegierte der einzelnen Clanhäuser im Dorfrat. Sie sind keine Entscheidungsträger, sondern nur Delegierte, die miteinander austauschen, was die einzelnen Clanhäuser beschlossen haben.“
Wichtig ist hierbei: „Delegierte“ in matrifokalen Gesellschaften waren tatsächlich nur ausführende Organe, die den Willen der Dorfgemeinschaft exekutierten. Sie übten ein „imperatives Mandat“ aus, wie es in der Sprache moderner Politik heißt.
Das Interessante an den Thesen der Matriarchatsforschung ist zunächst die daraus zu ziehende Schlussfolgerung, dass hierarchische Organisationsformen — einschließlich der repräsentativen Demokratie — offenbar eher patriarchalisch geprägten Denkmustern folgen. Wo Frauen im Zentrum stehen oder zumindest voll gleichberechtigt sind, könnten egalitäre, basisdemokratische Modelle eher eine Chance haben. Andererseits zeigt der Blick in die ferne Vergangenheit — wir reden von einer Gesellschaftsform, die vor 12.000 Jahren und früher en vogue war —, dass zwei wesentliche Vorwürfe gegen Rätedemokratie wahrscheinlich nicht zutreffen: Es handelt sich nicht um eine Schnapsidee einiger europäischer Denker und Hobbypolitiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, und man kann nicht pauschal sagen, dass dergleichen nur über sehr kurze Zeiträume funktioniert.
Demokratie als Herrschaft einer Minderheit
So negativ die Erfahrungen in der Sowjetunion oder mit Bürgerräten von Bertelsmanns Gnaden auch waren — wir sollten uns zunächst vor Augen führen, auf welchem berechtigten Anliegen die Idee eine Rätesystems beruht. Unsere heutige repräsentative Demokratie ist de facto die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit — also das Gegenteil des ursprünglich mit dem Begriff „Demokratie“ Gemeinten. Diese Minderheit besteht aus den „Eliten“ eines Mehrparteiensystems, die die Wahlbürger fortwährend mittels einer ihnen nahestehenden veröffentlichten Meinung in ihrem Sinne manipulieren. Ein Machtwechsel kann zwar im Prinzip demokratisch herbeigeführt werden, in der Praxis aber nur sehr schwer, weil die alten Kartelle diesbezüglich Sicherungssysteme eingebaut haben.
Dazu gehört auch, dass die Parteien häufig denselben Wein in verschiedenen Schläuchen anbieten. Dazu gehören die 5-Prozent-Hürde und Schikanen gegen parlamentarische Parias, was derzeit vor allem die AfD betrifft. Hinzu kommt die dominante Rolle der Medien. Bürger können zwar im Prinzip wählen, wen sie wollen, sie werden aber dahin gebracht, kaum mehr zu wollen, was ihren ureigensten Interessen und Werten entspricht.
Staatliche Organe agieren gern nach dem Motto: „Ihr dürft uns jederzeit kritisieren und Vorschläge machen; nur erwartet nicht, dass wir uns danach richten!“ Ohne bindende Macht ist Mitsprache der Zivilgesellschaft aber nur Fassade. Demokratie bedeutet derzeit, unter verschiedenen Bewerbern diejenigen zu wählen, die uns beherrschen dürfen. Richtig wäre, die zu wählen, die unseren Willen ausführen. Wer als Politiker damit nicht einverstanden ist, ist als Volksvertreter fehl am Platz. Er vertritt dann ja nur sich selbst oder bestimmte Interessengemeinschaften, denen er sich verpflichtet fühlt, die jedoch mit „dem Volk“ nichts zu tun haben.
Der machtlose Souverän
Moderne Demokraturen funktionieren nach dem Motto „Ich nehme deine Stimme und mache dann damit, was ich will“. Demokratie findet hier, wenn überhaupt, nur in stark abstrahierter Form statt, weil sich Gewählte vor ihren Wählern in neblige Höhenregionen geflüchtet haben. Sie funktionieren nicht zuletzt auch durch Gewaltandrohung gegen diejenigen, die andere Entscheidungen treffen, als von der Staatsmacht vorgegeben wird. Ihr unausgesprochenes Motto lautet: „Alle Macht geht vom Volke aus, um dann nie mehr zu ihm zurückzukehren.“
Wer eine Reform des häufig vereinfachend als „unsere Demokratie“ bezeichneten Gebildes wünscht, sollte sich ernsthaft mit den aus der Geschichte bekannten Rätesystemen beschäftigen. Diese mit autoritären Staatsgebilden des historisch gescheiterten, „real existierenden Sozialismus“ in Verbindung zu bringen, wäre verfehlt. Rätedemokratien sind eher eine von anarchistischen Gedanken beeinflusste basisdemokratische Einrichtung, die mit dem Staatszentralismus kommunistischer Färbung traditionell auf Kriegsfuß steht. Der Aufstand der in einer basisdemokratischen Kommune organisierten Matrosen von Kronstadt gegen den Vormarsch der leninistischen Staatsdiktatur kostete 1921 ungezählte Menschen das Leben. Überhaupt lebten Gemeinschaften, die mit Varianten eines Rätesystems experimentierten, in der Regel gefährlich. Derartige Experimente waren meist kurzlebig, aber nicht, weil sie an ihren eigenen Widersprüchen gescheitert wären, sondern schlicht deshalb, weil Beteiligte immer wieder von Gegnern einer solchen Demokratieform abgeschlachtet wurden.
Die Blutorgien der „Anständigen“
Als ein Vordenker der modernen Rätedemokratie gilt der französische Philosoph und Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809 bis 1865). Er empfahl ein politisches System, das auf selbstverwalteten kleinen Einheiten beruhte — quasi das Gegenteil des heutigen bürokratischen, zentralistischen Riesenstaats EU. Im März 1871, während der Wirren des deutsch-französischen Kriegs, konnten im Rahmen der sogenannten Pariser Kommune erstmals solche Ideen in die Tat umgesetzt werden. Im Angesicht der heranrückenden preußischen Truppen entstand in der Stadt ein Machtvakuum, das in einer spontanen Revolte von einer selbstverwalteten Arbeiterschaft ausgefüllt wurde.
Schon bald zeigten sich jedoch Spaltungstendenzen. Wahre Anarchisten, die am liebsten das Fehlen jeder Herrschaft verstetigt hätten, standen einem eher autoritären Flügel gegenüber, dem es auf funktionierende, zentralistische Strukturen ankam. Das Experiment dauerte 70 Tage an, bevor die französische Regierung von Versailles aus eine 45 Tage andauernde Rückeroberung der Hauptstadt veranlasste. Der anarchistische Autor Horst Stowasser spricht diesbezüglich von einer regelrechten „Blutorgie“, bei der 20.000 Kommunarden ums Leben kamen.
Stowasser beschwört in seinem Bericht (1) aber auch den Zauber des Aufbruchs, der diese aus den üblichen politischen Abläufen völlig herausgehobenen Wochen in Paris prägte:
„Es war jene andere Seite dieser siebzig Tage: die jäh entfesselte, intuitive und heitere Suche nach Freiheit durch die einfachen Menschen aus den Pariser quartiers. Ihre spontane Erhebung, ihre Solidarität, ihre naiv-euphorische Art, mit der sie in die neu errungene Freiheit sprangen, der trunkene Taumel, mit dem sie sie genossen, und die gefasste Konsequenz, mit der sie bis zum Ende kämpften — all das macht den Mythos aus, der sich bis heute um die Pariser Commune rankt.“
Mühsame Gehversuche einer Räterepublik
Ein anderes derartiges Experiment war die Münchner Räterepublik, die sich in den politischen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg gründete. Sie hatte nur vom 7. April bis zum 3. Mai 1919 Bestand. In der bayerischen Metropole hatten sich damals Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die sich aus Mitgliedern der Partei USPD rekrutierten, einer „radikalen“ Abspaltung der SPD. Das Experiment orientierte sich teilweise am Vorbild der damals im Entstehen begriffenen Sowjetunion und stellte, obwohl ihr Wirkungsbereich kaum über die Stadtgrenzen Münchens hinausging, sogar eine „Rote Armee“ auf.
Die Münchner Räterepublik wurde vor allem auch wegen einiger illustrer Persönlichkeiten bekannt, die an ihr mitwirkten. Teilweise konnte man wirklich von einer Regierung der Dichter und Vordenker sprechen. Beteilig waren unter anderem Gustav Landauer, anarchistischer Philosoph, Ernst Toller, Schriftsteller, Dramaturg und USPD-Mitglied, Silvio Gesell, bis heute einflussreicher Zinskritiker, der kurzfristig den Posten eines Finanzministers der Räterepublik innehatte, sowie natürlich der großartige und mutige Dichter Erich Mühsam, der wegen seiner Mitwirkung an dem Demokratieexperiment fünf Jahre Festungshaft durchlitt und 1934 von den Nazis im KZ Oranienburg ermordet wurde.
Die Münchner Räterepublik wurde Anfang Mai 1919 von einrückenden reaktionären Freikorps blutig niedergeschlagen. Etwa 600 Menschen fielen den Auseinandersetzungen auf beiden Seiten zum Opfer. Gerichtsverhandlungen, Gefängnishaft und in vielen Fällen Misshandlungen stellten die Rache der Vertreter der alten Ordnung dar. Beide Ereignisse — in München und in Paris — können auch als Versuche von Bürgern gewertet werden, innerhalb eines bestehenden Staatsgebietes aus dem etablierten Ordnungsgefüge auszuscheren und selbstverwaltet ihr „eigenes Ding“ zu machen.
Der solcherart „delegitimierte“ Staat sieht sich in diesen Fällen sofort in der Pflicht, zu zeigen, wer Herr im Haus ist. Rätedemokratien endeten, weil ihre führenden Vertreter von Machteliten in Monarchien, in autoritären sozialistischen Systemen oder auch in repräsentativen Demokratien getötet wurden. Ob sie langfristig funktionieren würde, wissen wir deshalb nicht mit Sicherheit. Der häufig frühe und brutale Tod der Demokratie-Erneuerer übte auf Menschen späterer Generationen, die mit dergleichen „kokettierten“, natürlich eine abschreckende Wirkung aus.
Diener, die sich zu Herren aufschwingen
Die alles bestimmende Frage bei Rätesystemen ist natürlich: Würde dergleichen heute funktionieren? Ein Nachteil des imperativen Mandats liegt sicher darin, dass Volksvertreter damit scheinbar gezwungen werden, gegen ihr Gewissen zu handeln. Das Gewissen von Politikern allerdings ist durch Propaganda, Anpassungsdruck und Geldinteressen fast beliebig formbar. In der jüngeren deutschen Geschichte flüsterte es Volksvertreten erstaunlich oft ins Ohr, sich eher für das Wohl von Eliten einzusetzen, etwa der Rüstungs- und IT-Giganten oder der Finanzindustrie. „Gewissen“ — das war allzu oft die pathetische Selbstbeweihräucherungsfloskel der Gewissenlosen.
Selbst wo wirklich tiefgehende ethische Überlegungen einen Politiker motivieren, kann man berechtigterweise fragen, ob es legitim ist, als gewählter Volksvertreter am Ende das zu tun, was man selber will, nicht was Wähler explizit wünschen. Der Volksvertreter hat gegenüber dem Volk eine dienende Funktion. Wem dies nicht behagt, weil er für sich eine Art Geistesadel beansprucht sowie das Recht, auf den „Pöbel“ herabzublicken, der möge bitte einen anderen Beruf ergreifen.
Ein weiterer Einwand gegen basisdemokratische Elemente in einem Gemeinwesen lautet: Wenn zu viel Unruhe durch ständig wechselnde Delegierte innerhalb von „Räten“ sowie durch Volksabstimmungen in Sachfragen erzeugt wird, dann sind Politiker nicht mehr imstande, eine längerfristig angelegte Politik „aus einem Guss“ zu gestalten. Hin- und hergerissen von den jeweiligen Launen der Mehrheit könnte sich ihre Politik in Widersprüche verwickeln. Politiker wären — noch mehr als bei Wahlen im Vierjahres-Rhythmus — gezwungen, „auf Sicht zu fahren“. Dieser Einwand ist prinzipiell berechtigt. Es ist in einem Rätesystem leichter, kurzfristige Korrekturen an einem einmal eingeschlagenen politischen Weg vorzunehmen. War dieser Weg ein guter, so könnte seine „Korrigierbarkeit“ Bedauern auslösen; war er dagegen falsch, bedeutet die enge Anbindung der Politik an den Volkswillen Hoffnung auf schnelle Abhilfe.
„Ihr seid der Chef“
In einem Rätesystem wäre die Bevölkerung nicht jahrelang an eine bestimmte unfähige „Elite“ gekettet, nur weil sie früher einmal den Fehler gemacht hat, diese zu wählen. Ein Karl Lauterbach, eine Annalena Baerbock, ein Robert Habeck wären vielleicht in ihren Glanzzeiten einmal in einer Aufwallung kollektiver Begeisterung zu Räten gewählt worden — mittlerweile aber, nach erwiesenem Versagen und Dutzenden höchst unpopulären Entscheidungen, wären sie längst weg vom Fenster. Nancy Faeser wäre wohl ohne das Recht des Kanzlers, quasi nach Gusto Minister zu ernennen, nie in die höheren Ränge der Politik aufgestiegen, denn wirklich beliebt und geeignet war sie nie.
Ein Beispiel dafür, aus welchem Geist eine Rätedemokratie gestaltet werden könnte, kommt in einem Wahlplakat des FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl zur Nationalratswahl 2024 zum Ausdruck: „Ihr seid der Chef — ich euer Werkzeug“ heißt es da. Auch wenn bezweifelt werden kann, ob Kickl dieses Motto, würde er österreichischer Bundeskanzler, tatsächlich in die Tat umsetzte — interessant ist es allemal. Denn unsere deutschen Politiker halten selbst das Vortäuschen von Respekt vor dem Wahlvolk mittlerweile für entbehrlich. Mithilfe einer sich distanzlos an sie anschmiegenden Presse und einer gut abgerichteten Bevölkerungsmehrheit setzen sie darauf, selbst mit den menschenfeindlichsten Entscheidungen immer irgendwie durchzukommen.
Das anfangs angeführte Beispiel des von der Bertelsmann-Stiftung zusammengestellten Bürgerrats zeigt, wie es auf keinen Fall laufen sollte: nämlich, dass sich Machthaber über Mittelsleute eine bestimmte Auswahl aus dem Volk nach ihrem Geschmack zusammenstellen — vergleichbar einem Produzenten, der Darsteller für einen Film castet. Klar ist aber: Auch ein in einem absolut sauberen demokratischen Verfahren gewählter Rat kann Dinge tun, die mir oder auch meinen Lesern nicht gefallen. In einer wirklichen Demokratie würden gewiss nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen werden, aber es wären dann wenigstens die Richtigen, die entscheiden.
Kommt Zeit, kommen Räte
Was die Rätedemokratie betrifft, so lohnt es, ihre Geschichte und ihre Ideen zu studieren und daraus Vorschläge für eine Blutauffrischung jener beharrlich als „unsere Demokratie“ bezeichneten Verwaltungsstruktur zu entwickeln. Der Vorteil an den Grundsätzen eines Rätesystems ist, dass sie problemlos in kleinen Gemeinschaften von Menschen ausprobiert werden können. Gewiss dürften sich Olaf Scholz und Nancy Faeser unbeeindruckt zeigen, wenn irgendwo ein paar Bürger einen Rat wählen und beanspruchen, unabhängig vom Staat ihre Geschicke in ihre eigenen Hände zu nehmen. Frei gewählte Räte würden gegenüber der „wirklichen“ Regierung wohl weitgehend machtlos sein — so wie Klassensprecher letztlich nicht gegen ihre Lehrer, den Lehrplan und die innerhalb einer Schule gültigen Verhaltensregeln ankommen.
Aber: Kommt Zeit, kommen Räte.
Erich Mühsam hat uns aus den dunklen Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts eine zeitlose Weisheit mit auf den Weg gegeben:
„Wenn ihr eure Ketten nicht zerreißt — von selber brechen sie nicht!“
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