Schule — ohne mich!
Auf das wachsende Problem der Schulverweigerung wird mit Aktionismus reagiert, ohne den Ursachen auf den Grund zu gehen.
„We don’t need no education“ sang die Band Pink Floyd. Immer mehr Schüler scheinen ähnlich zu empfinden. Sie erscheinen nicht nur nicht pünktlich zur Schule, sie verkriechen sich und sind in keiner Weise mehr ansprechbar. Schon immer gab es schwierige Kinder und „Schulschwänzer“. Was wir heute erleben, sind allerdings keine Einzelfälle mehr, es gleicht eher eine Epidemie. Aber haben wir es überhaupt mit einem Krankheitsbild zu tun oder vielmehr mit der Weigerung, sich an ein krankes System anzupassen? Vielleicht haben sich die gesellschaftlichen Autoritäten zu wenig gefragt, ob junge Menschen die Anforderungen, die an sie gestellt werden, überhaupt erfüllen wollen. Man ging einfach davon aus, sie zwingen zu können. Das funktioniert jedoch immer weniger.
Da gibt es Eltern, für die nur Leistung zählt. Wehe, es hagelt schlechte Noten. Katastrophe! So flößt Schule nach und nach Angst ein. Wenn’s geht, drückt man sich. Schulangst bis hin zur Schulverweigerung ist kein neues Phänomen. Aktuell jedoch nimmt es stark zu. Und wird diffuser. Eindeutige Ursachen, wie Angst vor schlechten Zensuren, lassen sich nicht mehr ausmachen. Das zeigt das Beispiel einer Jugendlichen, die ich Lilian nenne. Lilians Fall ist krass. Doch keine Ausnahme.
An Lilian kommt niemand mehr ran. Schon lange nicht mehr. Die Jugendliche blockt alles ab — Fragen, Bitten, Aufforderungen. Tagelang verkriecht sie sich in ihrem Zimmer. Ihre Eltern sind hilflos. Und nicht nur sie. Kein Therapeut schafft es, sie zu „knacken“. Eine Maßnahme nach der anderen scheitert. Wenn es nicht anders geht, begibt sich Lilian zwar dahin, wo man sie haben will. Etwa in eine Tagesklinik für psychisch kranke Teenies. Da hockt sie dann mit ihrem dunklen Hoody. Die Kapuze hochgezogen. Sie spricht nicht. Sie weigert sich, zu essen. Selbst aus der Jugendpsychiatrie wurde sie ziemlich bald wieder weggeschickt. Weil man absolut nichts mit ihr anfangen konnte.
Schon immer gab es Kids, die, wie man so schön sagt, auf die schiefe Bahn gerieten. Sie strolchten lieber durch die Gegend, als im Unterricht zu hocken. Trieben Unfug. Machten vielleicht lange Finger.
Auch Kids mit Schulangst gab es schon immer. Die aktuelle Dimension allerdings ist neu. Und erschreckend.
Ein Mitarbeiter jener Tagesklinik, in der Lilian war, berichtet mir davon. Seit mehr als zwei Jahrzehnten macht er seinen Job. Er erinnert sich, dass er es in der Anfangszeit vielleicht mal mit einem Schulverweigerer im Jahr zu tun hatte. An dem Tag, an dem ich ihn besuche, wurde just ein halbes Dutzend Schulverweigerer in dieser Einrichtung behandelt. Fast jeder Zweite, der anwesend war. Bei einem lag der letzte Schulbesuch drei Jahre zurück.
Plus von 50 Prozent
Zahlen zu bekommen, ist schwierig. Zum einen existiert keine fest umrissene Definition, was genau ein „Schulverweigerer“ ist. Manche Forscher gehen davon aus, dass das Problem allenfalls drei Prozent aller Schüler betrifft. Andere, die den Begriff großzügiger auslegen, sprechen von 25 Prozent. Schulabsentismus-Forscher verweisen auf die aktuelle PISA-Studie. Aus ihr sei herauszulesen, dass die Problematik auf elf Prozent aller Schüler zutrifft.
Konkrete Angaben machte 2023 das Kultusministerium in Sachsen. Dort registrierte man in der Zeit der Coronakrise einen massiven Anstieg. 4.530 Fälle von Schulverweigerung wurden 2021 in Sachsen bekannt. Ein Jahr später waren es 6.789. Die Dunkelziffer nicht berücksichtigt, betrug der Anstieg unglaubliche 50 Prozent.
In unzähligen Projekten wird versucht, Schulverweigerer aufzufangen. Das Kinderdorf Marienheim der Caritas hilft durch eine „Intensivpädagogische Wohngruppe“. Unter dem Namen „apeiros“ firmiert ein in Wuppertal angesiedelter Verein, der an deutschlandweit mehr als 20 Standorten Hilfe durch Beratung und einen „softwarebasierten Präventionsansatz“ anbietet. „Lernstandort Auszeit 2” heißt ein „Motivationsprojekt” des Internationalen Bunds (IB) in Osnabrück. Ein weiteres IB-Projekt in Bad Kreuznach nennt sich „Stellwerk”. Es umfasst Beratung und ein „Outdoor-Training mit Reflexionseinheiten“ zu Themen wie Teamfähigkeit. Dutzende weitere Initiativen ließen sich aufzählen.
Kein Berufsabschluss
Es ist nie gut, zu dramatisieren. Für das Gros der Kinder und Teenies gilt: In die Schule zu gehen, da ist doch nichts dabei. Dennoch: Wie stark die Zahl der Schulverweigerer in die Höhe schnellte, gibt zu denken. Vor allem schnellte sie nicht nur in Sachen Schulverweigerung in die Höhe. „Inzwischen haben wir 80.000 junge Leute pro Jahr, die keinen Schulabschluss mehr schaffen“, sagt Bildungsexperte Josef Kraus im Gespräch mit „Manova“. Die gesellschaftlichen Folgen sieht er als „gravierend“ an.
Wer keinen Schulabschluss hat, wird wahrscheinlich auch keinen Beruf erlernen. Inzwischen gibt es ein Heer junger Leute ohne Qualifikation.
Das bestätigt das Bundesinstitut für Berufsbildung im „Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2024”. Demnach haben aktuell 2,9 Millionen Bundesbürger unter 35 Jahren keinen Berufsabschluss. Vor zehn Jahren lag diese Zahl laut Arbeitsagentur bei 1,3 Millionen. Die Gesellschaft ließ also zu, dass sich das „Heer“ binnen Zehnjahresfrist mehr als verdoppelte. Josef Kraus ist schleierhaft, warum dagegen so wenig getan wird: „Stattdessen heißt es, wir brauchen mehr Zuwanderung.“
Wobei der Blick auf nackte Zahlen und den Schaden für die Gesellschaft das Eine ist. Der Blick auf junge Leute ist das viel wesentlichere Andere. Der Blick auf junge Leute wie Lilian, die alle Fragen abblockt. Niemand weiß mehr, was in ihrem Kopf vorgeht. Meist ist sie in ihrem Zimmer. Meist liegt sie auf dem Bett. Meist hat sie die Bettdecke über sich gezogen. Vielleicht würde sie ebenso gern in die Schule gehen. Vielleicht würde sie insgeheim sogar lieber in die Schule gehen. Als ständig allein zu sein. In ihrem Zimmer. Wäre Schule anders.
Von Lehrern verachtet
Vor wenigen Jahren, als die Probleme anfingen, jedoch noch mit Lilian zu reden war, erzählte das Mädchen davon, wie sie ihre Lehrer erlebte. Kommt jemand nicht gleich mit, hält jemand den Leistungsdruck nicht aus, versteht jemand eine Aufgabe nicht gleich — das kommt nicht gut an. Meinte sie damals. Sie sprach sogar von „Verachtung“. Seitens ihrer Lehrer. Sie habe nicht das Gefühl, sagte Lilian, als sie noch sprach, dass es in der Schule um „Inhalte“ geht. Dass es darum geht, irgendetwas tiefer zu verstehen.
Auch um Selbstentfaltung geht es nicht, beobachtete sie damals, als sie noch bemüht war, zur Schule zu gehen. Es wird was vorgesetzt. Das muss geschluckt werden. Das muss gecheckt werden. Das ist wichtig, denn es geht ja um gute Noten. Es geht um ein gutes Zeugnis. Es geht darum, dass man dann der Wirtschaft nutzt. Das sagte Lilian vor wenigen Jahren. Erzählen ihre Eltern. Das sagte sie, bevor sie verstummte. Bevor sie es aufgab, mit irgendwelchen Erwachsenen irgendetwas zu besprechen. Heute schweigt Lilian gegenüber ihren Therapeuten. Gegenüber ihren Eltern. Vor allen Lehrern hat der Teenager absolut nichts mehr zu sagen.
Wenn man was sagt, heißt es ja doch nur: Was fabelst du da wieder?
Wer hätte Zeit, sich mit Grundsatzfragen zu beschäftigen! Stress ist angesagt in den Schulen. Denn wie überall im sozialen, psychosozialen und im Gesundheitsbereich mangelt es an allen Ecken und Enden an Personal.
Nicht, weil niemand mehr Lehrer werden will. Es gibt durchaus noch junge Leute, die sich kühn auf dieses Studium einlassen. Obwohl es, je nach Bundesland, hart ist. Aber nicht alle münden dann in der Schule. Und die, die in der Schule münden, bleiben oft nicht lang.
Der WDR berichtete darüber soeben mit Blick auf Nordrhein-Westfalen. Dort haben 2024 fast 700 Lehrer den Schuldienst wieder quittiert. Dies sei die „logische Konsequenz eines unhaltbaren Zustandes“, kommentierte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) diese Zahlen.
Game statt Teacher
Das Game im Kinderzimmer ersetzt dieweil für immer mehr Kids den Lehrer am Whiteboard. Sogenannte soziale Medien kompensieren den Kontakt zu Klassenkameraden. Die Kids tauchen ab. Und zwar immer tiefer.
Die Erwachsenenwelt reagiert mit immer neuen Projekten. Unter dem Motto „Deine Stärken Aktivieren“ startete Ende 2020 eine neue Initiative gegen Schuldistanz im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Im südlichen Niedersachsen können sich Schulen neuerdings als “Modellschule für Schulabsentismus” positionieren. Dafür müssen sie einen Leitfaden im Umgang mit Schulabsentismus verankern und zwei fortgebildete Beauftragte für Schulabsentismus stellen.
Ob wohl irgendjemand Hoffnung hat, damit zu erreichen, dass die Zahlen sinken? Das alles kann getrost unter Aktionismus verbucht werden. Besser unter: Ignoranz der Problematik.
Vielleicht hätte man Lilian zuhören sollen. Damals, als sie noch sprach. Vielleicht hätte man ernst nehmen sollen, als sie sagte: Überlegt euch doch mal, ob es euch noch um Inhalte geht!
Überlegt euch doch mal, ob ihr wirklich wollt, dass wir junge Leute irgendetwas tiefer verstehen! Überlegt euch doch mal, ob ihr wollt, dass wir fähig werden, uns selbst zu entfalten! Oder wollt ihr etwas anderes. Dann vergesst doch ganz einfach all eure tollen Projekte.