Schnauze voll von Berliner Schnauze
Berlin ist unverändert die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, allerdings nun im schlechtesten Sinne des Wortes. Die Hauptstadt versinkt unübersehbar in Armut und Elend.
„Das ist so Berlin!“. Diesen Ausruf hört man in der deutschen Hauptstadt sehr häufig von Touristen. Doch was ist damit eigentlich genau gemeint? Was exakt ist denn „so — typisch — Berlin“? Das Unkonventionelle? Das Chaos? Der Mangel an Struktur? All das zusammengenommen evoziert beim ortsfremden Besucher das Gefühl, hier wäre alles möglich. Doch scheint sich dieses weite Feld der Möglichkeiten über die Jahre hinweg in einem entscheidenden Punkt verändert zu haben: Nämlich, dass das grenzenlos für Möglich-Gehaltene nichts mehr Verheißungsvolles ist — sondern etwas Niederschmetterndes. Von der Aufbruchstimmung der 90er Jahre ist nicht mehr viel geblieben. Ganz im Gegenteil. Es liegt der Mehltau einer Abriss-Stimmung über der historisch zerrissenen Stadt. Obdachlosigkeit, Armut und Elend sind zu einem nicht mehr wegzuretuschierenden Bestandteil des Straßenbildes geworden. Der Name „Berlin“ stammt von dem Wort „Birlin“ ab, was so viel bedeutet, wie der Ort in einem sumpfigen Gebiet. Nun wird Berlin selbst zu einem Sumpf. Die kalte Realität in der Landeshauptstadt beschreibt der seit Jahrzehnten in Berlin lebende Autor in der ungefilterten Manier einer „Berliner Schnauze“, die von Berlin die Schnauze voll hat. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“.
Mehr als 30 Jahre lebe ich nun in Berlin, 25 davon war ich als Taxifahrer auf den Straßen der deutschen Hauptstadt unterwegs. Nachdem ich zwei Monate in Kalifornien verbracht und davor einige Zeit in Bulgarien gelebt habe, war ich von November 2023 bis April 2024 ein halbes Jahr wieder in Berlin. In meiner Stadt, in der Anfang der Neunziger alles möglich war, weshalb ich mich als Berliner fühle.
Bereits die Ankunft am Flughafen BER Mitte November 2023 hatte etwas Verstörendes. Nachdem der Flughafen ewig nicht fertig geworden war, schien in ihm jetzt die Zeit stehen geblieben zu sein. Denn direkt neben der Passkontrolle wies zu diesem Zeitpunkt immer noch ein Schild darauf hin, dass man seinen „COVID-19 Testnachweis oder Impfnachweis oder Genesenennachweis“ und seine „COVID-19 Einreiseanmeldung“ bereithalten solle. Ein solches Schild hatte ich weder in Sofia, noch in San Francisco gesehen. Und dass, obwohl bereits Anfang April 2023 die Coronavirus-Einreise-Verordnung für Deutschland ausgelaufen war, in den USA erst einen Monat später.
Meine Verstörung setzte sich fort, als ich sah, wie Sicherheitsleute des Flughafens einen Flaschensammler bis auf den S-Bahnsteig der Deutschen Bahn verfolgten, um ihn darauf hinzuweisen, dass im Flughafengebäude das Sammeln von Flaschen verboten sei. Das war aber nur der Anfang. Auf der Fahrt zu meiner Wohnung im Friedrichshain war es dann nicht mehr zu übersehen. Die öffentlichen Verkehrsmittel und auch die Stadt selbst waren bevölkert von Flaschensammlern, Obdachlosen und Bettlern. Fast fühlte ich mich wie in San Francisco, dessen Zentrum nahezu ausschließlich von Obdachlosen und Suchtkranken bevölkert ist.
Obdachlose neben ihrem Zelt in der Mainzer Straße in Friedrichshain
Nun sah ich auch in meiner Stadt Obdachlose auf Bürgersteigen und Bahnhöfen, Flaschensammler auf den Straßen und Bettler in den Öffentlichen Verkehrsmitteln. Außerdem Zelte im Friedrichshainer Kiez, Matratzen unter Brücken am Ostbahnhof, dem Bahnhof Friedrichstraße und dem in Charlottenburg. Aufgrund des raueren Klimas zugegeben nicht so viele wie in Kalifornien. Auch standen die Zelte nicht lange. Polizei und Ordnungsamt schienen mit der Räumerei noch hinterherzukommen. Später erfuhr ich von der Seite des Mieterbundes, dass es Ende 2023 in Berlin mit 3,87 Millionen Einwohnern etwa 60.000 Wohnungslose gab und rund 7.000 von ihnen auf der Straße lebten. Zum Vergleich: In San Francisco und der gesamten Bay-Area mit 7,75 Millionen Einwohnern gelten aktuell 35.000 Menschen als obdachlos. Alleine im Zentrum von San Francisco leben 8.000 Obdachlose.
Am Bahnhof Lichtenberg
Berlin hatte sich während meiner Abwesenheit zweifellos verändert, wenngleich zum wiederholten Male nicht zum Besseren. Der größte Unterschied zu früher war aber der Umgangston. Wurde ich in Amerika selbst von Fremden mit einem freundlichen „How Are You?“ gegrüßt, lautete in Berlin nun die aggressive Antwort auf dieselbe Frage: „Bist wohl’n Ossi, oder was?“ Wurde man als Ostdeutscher früher nur komisch angesehen, wenn man die Hand zum Gruß reichte, wird man nun regelrecht bedroht, erkundigt man sich nach der Befindlichkeit des anderen. Aggressiv ist dabei keine Übertreibung, den Umgangston nur unhöflich oder respektlos zu nennen, wäre zu milde. Meine Frau, sie kommt aus Kalifornien, hält ihn gar für unmenschlich.
Einst ein großer Fan sowohl der direkten Berliner Art als auch der Berliner Schnauze neige ich nun immer mehr dazu zu sagen, dass der Berliner besser seine Schnauze halten soll.
Meine Stadt, die ich so geliebt habe, ist aber nicht einfach nur heruntergekommen. Sie ist dabei zu verwahrlosen. Dieser Eindruck bestätigte sich stets aufs Neue bei jeder Fahrt mit S- und U-Bahn, den einstigen Markenzeichen Berlins. Immer mehr Menschen leben in der Bahn und/oder auf den Bahnhöfen. Aber das Schlimmste ist, dass diese Entwicklung niemanden wirklich zu interessieren scheint. War ich Anfangs viel mit den Öffentlichen unterwegs, ich hatte mir ein Deutschland-Ticket geleistet, überlegte ich zum Schluss immer öfter, ob ich innerstädtisch nicht besser laufen sollte.
In der Berliner S-Bahn
Sah ich früher einen Bettler pro Fahrt, gaben sie sich nun die Klinke in die Hand. An jeder Haltestelle stieg mindestens einer in den Waggon. Unter ihnen auch Menschen mit Gehhilfen und in Rollstühlen. Sogar einen blinden Bettler habe ich gesehen. Gab früher jeder regelmäßig etwas, gibt heute kaum noch jemand überhaupt irgendetwas. Es sind einfach zu viele. Die Menschen ignorieren die Bettler, sind zunehmend genervt von ihnen. Nietzsches Worte über sie klingen angesichts dessen fast warmherzig:
„Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man ärgert sich, ihnen zu geben und ärgert sich, ihnen nicht zu geben.“
Am U-Bahnhof Spittelmarkt
Die letzten Jahre haben nicht nur meiner Stadt, sondern auch meinen Freunden und Bekannten zugesetzt. Sie sind erschöpft, ausgebrannt und antriebslos. Einer ist wegen einer Depression in Behandlung, muss Medikamente nehmen. Eine Bekannte hat eine mehrwöchige stationäre Reha hinter sich. Zwei Kollegen haben gerade ihre Arbeit verloren und sind auf Jobsuche. Eine andere Bekannte hat zum Glück eine neue Arbeit gefunden, die alte hatte sie völlig ausgelaugt. Zwei Freundinnen schlagen sich mit Bürgergeld durch. Sie suchen keine Arbeit. Die mache sie nur krank, das Schmerzensgeld, auch Gehalt genannt, sei zu gering. Ihre psychische Gesundheit sei ihnen wichtiger.
Einem Schriftstellerkollegen fällt nichts mehr ein, er denkt über eine gänzlich andere Beschäftigung nach. Ein freischaffender Lichtbildkünstler traut sich nicht mehr, an Demonstrationen für den Frieden teilzunehmen, auf die er gerne gehen würde, aus Angst erkannt zu werden und Aufträge zu verlieren. Eine Taxikollegin sammelt Sperrmüll von der Straße, zuletzt eine alte Nähmaschine, die sie im Internet anbietet, weil sie mit dem Taxifahren kaum noch Geld verdient. Ein anderer Taxikollege hält jetzt anstelle von Fahrgästen nach Büchern Ausschau, um sie auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Ein bildender Künstler berichtete von Kunstsammlern, die ihr Geld lieber im Ausland anlegen statt in zeitgenössische Kunst.
Alle meine Freunde und Bekannten eint, dass sie Berlin verlassen wollen. Es sei nicht mehr ihre Stadt, sagen sie unisono. Ihr Motto ist: „Nichts wie weg!“, was auch an ihrem Alter liegen mag. Sie sind alle, so wie ich, zwischen 50 und 60 Jahre alt. Wirklich weg aus der Stadt gehen die wenigsten, zumindest bisher. Immer gibt es da noch etwas, was sie zurückhält: die Kinder, Freunde, auch wenn Corona deren Zahl bei vielen schrumpfen ließ, die noch bezahlbare Wohnung, irgendein Auftrag oder Job oder auch nur das alles andere als bedingungslose Grundeinkommen.
Es gibt aber auch Positives zu berichten. Die Coronazeit hatte einen Berliner Freund und mich auseinander gebracht. Unsere Einschätzungen waren einfach zu konträr geworden. Er war der Mehrheit gefolgt und hatte sich impfen lassen. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es Geimpfte, wenngleich nur wenige wirklich von der Impfung überzeugt waren. Ich hatte es vorgezogen, umgeimpft nach Bulgarien zu gehen. Auch ihn, den Freund, sah ich nun wieder. Bewusst mied ich das Thema. Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten Jahren, dann dass man niemanden von irgendetwas überzeugen kann, sollten die Argumente auch noch so gut sein. Er sprach von sich aus Corona an, und dass er viel nachgedacht habe. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass ich mit dem meisten recht gehabt hätte. Überrascht, ich hatte so etwas das letzte Mal in der DDR erlebt, dankte ich ihm für seine Aufrichtigkeit, von der ich bis heute beeindruckt bin. Das hatte wahrlich Größe.
Als ehemaliger Taxifahrer, der die Stadt immer noch im Blut hat, habe ich natürlich auch das meist junge Publikum in den Bars und Cafés wahrgenommen. Viele von ihnen waren wie gehabt Touristen aus aller Welt, auf die mehr oder weniger dieselbe Frage zutrifft, die ich mir bereits in San Francisco gestellt hatte: Was treibt sie in eine offensichtlich dysfunktionale und dystopische Stadt, die zunehmend von Obdachlosen, Flaschensammlern und Bettlern bevölkert wird? Das T-Shirt eines jungen Mannes in einem Straßen-Café brachte es auf den Punkt. Es zeigte, wie gerade ein Vulkan ausbricht, während junge Menschen immer noch auf ihm tanzen.
Lange habe ich überlegt, ob ich in Berlin einen Gebrauchtwagen kaufen soll. Nicht nur wegen der gestiegenen Preise, sondern auch wegen des Termins für die Zulassung, den man mehrere Wochen im Voraus online buchen muss. Zu der Zulassungsstelle kann man nicht mehr einfach hingehen und seinen Wagen anmelden, selbst wenn man genug Zeit hat. Am Ende habe ich die Anmeldung dem Händler überlassen, was auch mehrere Tage dauerte und mich 100 Euro extra kostete. Kürzlich habe ich denselben Wagen in Bulgarien angemeldet, was keine zwei Stunden gedauert hat. Einen Termin musste ich dafür nicht machen. Ich bin einfach zur Zulassungsstelle gefahren.
Auch die Obdachlosensituation ist in Bulgarien eine andere. Selbst in der Hauptstadt Sofia sieht man nur wenige. Man lebt in Bulgarien traditionell in den eigenen vier Wänden, und das nicht nur auf dem Land. Auch in den Städten ist dies üblich, bereits zu sozialistischen Zeiten konnte man eine Wohnung kaufen. Die allermeisten Bulgaren zahlen bis heute keine Miete. Zugegeben, der Zustand vieler Häuser und Blöcke ist beklagenswert, zumindest von außen. Betritt man allerdings ein Haus oder eine Wohnung, so herrscht dort in aller Regel Sauberkeit und Ordnung.
So ähnlich ist es auch mit der Sofioter U-Bahn. Auch wenn in den Außenbezirken der bulgarischen Hauptstadt mitunter das Chaos herrscht, zumindest für einen Deutschen, so ist die Metro genau das Gegenteil davon. Einem Bettler bin ich in der Sofioter U-Bahn, für die der Einzelfahrschein 1,60 Lewa (80 Cent) und die Tageskarte vier Lewa (zwei Euro) kostet, noch nie begegnet. Selbst auf ihren Straßen muss man sie suchen.
Doch zurück zu Berlin, wo sich Anfang des Jahres die Hausverwaltung kurzfristig bei mir angemeldet hatte. Gleich zu Beginn des Gesprächs, das in meiner Küche stattfand, wurde ich mit der Frage konfrontiert, ob ich schon einmal daran gedacht hätte, auszuziehen. Klar: Mit einer luxussanierten Wohnung, die ich mir nicht leisten kann, ist mehr Geld zu verdienen als mit einem unsanierten Altbau und einem Mieter mit einem alten Vertrag. Nur: Wo soll ich dann wohnen? Vielleicht auf der Straße? Mit einer Matratze? Oder in einem Zelt?
Bürgersteig in Friedrichshain
Aus meiner Berliner Wohnung auszuziehen, über diese Frage habe ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht. Denn meine Wohnung ist, wie die Hausverwaltung richtig feststellte, mein Zuhause. Ob Berlin, meine Stadt, die ich einst so geliebt habe und aus der auch meine Mutter kommt, immer noch mein Zuhause ist, über diese Frage denke ich seither immer häufiger nach. Eines scheint immerhin beim Alten geblieben zu sein. Das Motto der Neunziger: Alles ist möglich!