Schlechte Zeichen
Ab Herbst werden Menschen wieder markiert, und es regt sich — endlich — vermehrt Widerstand.
Ab Oktober könnten Aufkleber und die Corona-Warn-App ihr Comeback feiern. Bestimmte Farben geben dem Bürger dann bestimmte Rechte. Oder ihm werden diese Rechte verweigert. Die Empörung darüber wächst, doch selbst wenn es diese Markierungen, aus welchen Gründen auch immer, doch nicht geben wird, stellt sich folgende Frage: Wieso bringt diese Idee erst jetzt relativ viele Menschen auf, obwohl wir das alles doch bereits hatten? Der Autor diskutiert drei mögliche Erklärungen.
Anfang August legten Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) ihren Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes vor. Wer im Herbst zum Beispiel nicht „frisch geimpft“ ist, darf die Maske im Lokal seiner Wahl nicht absetzen, so sah es die ursprüngliche Fassung vor. Ausgerechnet das Justizministerium (!) „weist darauf hin, dass die Betriebe sich zur Unterscheidung der Besucher etwas ausdenken könnten, etwa Aufkleber“ (1).
Einige Tage später sagte Lauterbach, dass es durchaus möglich sei, den Frisch-Geimpft-Status zu kontrollieren, da die Corona-Warn-App auch unterschiedliche Zertifikate mit unterschiedlichen Farben anzeigen wird. Diese App wird also mit einem Update versehen, das dem Nutzer eine bestimmte Farbe und somit auch bestimmte Rechte zuordnen wird. Ein bekanntes System aus China (2).
Der deutsche Sonderweg
Während der Betrieb ähnlicher Apps in anderen Ländern eingestellt wird, soll die Corona-Warn-App hierzulande in neuem Glanz erstrahlen (3). Diese Ankündigungen sorgen für Widerstand. Das Online-Magazin GIGA veröffentlichte den Kommentar eines Mitarbeiters:
„Farbige Impfzertifikate, die den Geimpften je nach Farbe mal mehr und mal weniger Privilegien zugestehen, klingt mir persönlich ein bisschen zu viel nach autoritären Staaten wie China. (…) In der Volksrepublik wird die dortige ‚Gesundheits-App‘ auch dafür eingesetzt, missliebige Personen zu drangsalieren und festzusetzen. Ohne die richtige Farbe in der App geht in vielen chinesischen Großstädten nichts mehr. Die Corona-Warn-App fliegt also von meinem Handy. Nicht weil sie technisch schlecht ist — ich habe die Corona-Warn-App immer gegen ihre Kritiker verteidigt – sondern weil sie absehbar zu einem Werkzeug wird, das die Gesellschaft spaltet. Da mache ich nicht mit — und ihr solltet es auch nicht.“ (4)
Dominik Galander, der mehrere Bars in Berlin betreibt, sagte gegenüber der WELT: „Momentan erwäge ich, alle Regeln zu boykottieren. Ob ich das tue, hängt von den möglichen Konsequenzen und wirtschaftlichen Risiken ab. Ich will, dass in meinem Laden gilt: Hier ist jeder willkommen“ (5).
Aus Alt mach Neu
Interessant hierbei ist, dass diese Markierungen erst jetzt mehr Gemüter zu erregen scheinen. Denn all das, die Aufkleber und die farblichen Markierungen in der Corona-Warn-App, gab es doch bereits zur Zeit der 3G-, 2G- und auch 2Gplus-Regeln. In dieser App gab und gibt es grüne und rote Kacheln für die Risiko-Begegnung und die blaue oder graue Farbe für das Impfzertifikat.
Die Technische Universität Berlin setzte bereits zu Beginn des Wintersemesters auf Aufkleber. Unter „Einhaltung der 3G-Regel auf dem Campus“ steht:
„Studentinnen, die vollständig geimpft sind, erhalten zu Beginn des Semesters einen entsprechenden Aufkleber auf ihren Studierendenausweis, der für das gesamte Wintersemester 2021/22 Gültigkeit hat. Dieser Aufkleber erleichtert und beschleunigt die Zugangskontrolle zu den Lehr- und Lernräumen. Für die Vergabe der Aufkleber für vollständig Geimpfte wird Anfang Oktober eine entsprechende Ausgabestelle im Foyer des Hauptgebäudes eingerichtet. Um Warteschlangen zu vermeiden, wird es eine Terminbuchung dafür geben“ (6).
Interessanterweise bezeichnete selbst Karl Lauterbach die Einführung eines Impfpasses als diskriminierend (7). Niemand sollte dieser Diskriminierung ausgesetzt werden. Doch selbst wenn die Aufkleber und die App im Herbst und Winter nicht mehr zum Einsatz kommen sollten, bleibt die Frage: Wieso lehnen sich jetzt mehr Menschen gegen das auf, was sie letztes Jahr noch tolerierten? Ein Versuch der Klärung aus drei Blickwinkeln:
Die Angst verblasst
Am 24. April 2020 erklang in der Sendung Panorama der folgende Satz: „Alle Menschen, die uns begegnen, sind eine potenzielle Gefahr. Nähe, jede Umarmung kann tödlich sein“ (8). Mittlerweile beklagt sich die Berliner S-Bahn auf Twitter, dass die Maskenpflicht im ÖPNV nicht mehr eingehalten wird (9). Und in Zwickau „sind Fahrer der Städtischen Verkehrsbetriebe sogar angewiesen, nichts zu unternehmen“, wenn Fahrgäste keinen Mund-Nasen-Schutz mehr tragen (10).
Je länger es die Regeln gibt, je deutlicher sich ihre Willkürlichkeit herausstellt, umso weniger sind die Bürger hierzulande offenbar bereit, diese umzusetzen.
Andere Länder zeigen, dass ein Leben ohne Corona-Maßnahmen möglich ist. Als der Bayerische Rundfunk Mitte August die Corona-Regeln der europäischen Länder verglich, musste er feststellen, dass sie, abgesehen von Deutschland, im „Rest von Europa kaum ein Thema“ sind (11).
Wer weniger Angst hat, wird sich wohl auch nicht (mehr) impfen lassen. Der Impfdruck nimmt weiter ab. Das ZDF berichtete erst kürzlich, dass an der vierten Spritze nur noch ein geringes Interesse besteht (12).
Nebenwirkungen
Vielleicht wird aber auch nur eine Angst gegen eine andere getauscht. Kurzum: Die Angst vor der Ausgrenzung tauscht mit der Angst vor (weiteren) Nebenwirkungen.
Unter den 3G- und auch 2G/2Gplus-Regeln ließen sich einige Menschen auch deshalb impfen, weil sie ins Fitnessstudio oder in den Urlaub wollten (13). Bevor sie also Ausgrenzung erfahren konnten, nahmen sie sogar mögliche Nebenwirkungen in Kauf.
Diese Angst vor der Einsamkeit könnte auch wegen der abnehmenden Furcht vor COVID nun mit einer anderen Angst tauschen: In letzter Zeit gab es immer mehr Berichte über Nebenwirkungen (14). Wer sich also im Herbst und Winter keinen vierten, fünften oder auch sechsten „Pieks“ abholen möchte, könnte demnach Angst vor (weiteren) Nebenwirkungen haben. Nur müssen diejenigen, die dieses Angebot nicht annehmen, dieses Mal keine Ausgrenzung befürchten, da die vierte Impfung wie erwähnt kaum auf Nachfrage trifft (12). Wer die nächsten COVID-Injektionen ablehnt, wird also nicht ausgegrenzt, da er dieses Mal zur Mehrheit gehören wird.
Wegfall der Privilegien
Wer die G-Regeln einhielt, konnte mehr Aktivitäten ausführen. Man kann das als Privilegien ansehen. Diese Privilegien würden aber ab Herbst verschwinden, wenn selbst Personen, die schon drei COVID-Injektionen bekommen haben, mit denen gleichgestellt würden, die keine haben. Wer nicht „frisch“ geimpft ist, dürfte dann nicht in das Restaurant seiner Wahl.
Würde ein signifikanter Teil der Bürger immer noch an den Maßnahmen festhalten, wenn sie weiterhin beziehungsweise wieder gewisse Privilegien hätten? Steigt die Empörung also nur, weil ein großer Teil der Bürger im Herbst ohne diese Privilegien dastehen würde? Ihre Geisteshaltung hätte sich nicht wirklich geändert, denn es ging und geht ihnen nicht um die Benachteiligung bestimmter Gruppen. Es ist der Verlust der eigenen Privilegien, der hier im Grunde beklagt wird, der sie nun empören lässt. Die bereits erbrachten Handlungen (x-fach geimpft) bringen ihnen keinen Vorteil mehr.
Sicherlich gibt es hier keine pauschale Antwort. Aber dass sich erst nach zweieinhalb Jahren zunehmend mehr Personen über die Markierung von Menschen empören, zeigt zumindest, wie lange eine Gesellschaft Regeln dieser Art mitträgt. Gleichzeitig könnte diese Aufregung ein Zeichen für ein nahes Ende der Corona-Maßnahmen sein. Damit sich das, was seit März 2020 geschah, nicht wiederholt oder sogar noch intensiviert wird.
Quellen und Anmerkungen:
Anmerkung: Dieser Text stellt nur einen Ausschnitt aus anderen Texten dar und ist dementsprechend gekürzt.
(1) Bei diesen neuen Corona-Regeln ist der Ärger programmiert. Veröffentlicht am 04.08.2022: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus240282699/Corona-Regeln-ab-Oktober-Bei-diesen-Punkten-ist-der-Aerger-programmiert.html
(2) Corona-Warn-App: Impfstatus wird an Farbe erkennbar sein. 10.8.2022: https://www.berliner-zeitung.de/news/corona-warn-app-impfstatus-wird-an-farbe-erkennbar-sein-karl-lauterbach-impfung-infektionsschutzgesetz-li.255036
(3) Beispiel Schweiz: Auf der Website des Bundesamtes für Gesundheit BAG steht zur SwissCovid App: „Was soll ich als Nutzerin oder Nutzer der SwissCovid App tun? Soll ich die SwissCovid App deinstallieren? Ja. Sie können die App deinstallieren.“ Unter: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/swisscovid-app-und-contact-tracing.html – In Norwegen stoppte die Datenschutzbehörde die erst im April 2022 eingeführte Corona-App „Smittestopp“ (Infektionsstopp): https://businessportal-norwegen.com/tag/smittestopp-norwgen/
(4) Warum ich die Corona-Warn-App vom Handy werfe – und ihr es auch tun solltet. Kaan Gürayer, 10. Aug. 2022: https://www.giga.de/news/warum-ich-die-corona-warn-app-vom-handy-werfe-und-ihr-es-auch-tun-solltet/ — Archiviert: https://archive.ph/Gkc3w
(5) „Der Gesundheitsminister scheint mir zunehmend planlos und unberechenbar“ https://www.welt.de/politik/deutschland/plus240440731/Kultur-Gastronomie-Corona-Regeln-Meine-Mitarbeiter-sind-keine-Erfuellungsgehilfen-des-Staates.html
(6) Informationsbriefe des Krisenstabs der TU Berlin für Angehörige der Universität. Übersicht aller bisher veröffentlichen Rundmails. Siehe unter: Informationsbrief vom 24. September 2021 — Angepasste Hygiene- und Pandemieregeln / Informationen zu Studium und Lehre im Wintersemester 2021/2022: https://www.tu.berlin/themen/coronavirus/informationsbriefe/informationsbriefe-krisenstab/
(7) Lauterbach am 06.05.2020: „Ich bin selbst ein klarer Gegner eines sogenannten Impfpasses. […] Das wäre eine Zweiklassengesellschaft. [...] Das ist natürlich eine Riesendiskriminierung.“ (05:31-07:50min.) Account von Louisa Dellert https://www.instagram.com/tv/B_18ZQRKw3z/
(8) Panorama, 24.04.2020 - 00:58-01:05 min.: https://www.youtube.com/watch?v=QiqtV5dVp0o&t=1s&ab_channel=ARD
(9) Berliner S-Bahn „betrübt“: Maskenpflicht wird nicht eingehalten https://www.berliner-zeitung.de/news/berliner-s-bahn-betruebt-maskenpflicht-wird-nicht-eingehalten-li.249675
(10) Maskenpflicht: Bus- und Bahnfahrer in Zwickau sollen wegschauen: https://www.freiepresse.de/zwickau/zwickau/maskenpflicht-bus-und-bahnfahrer-in-zwickau-sollen-wegschauen-artikel12359093?cvdkurzlink=x
(11) Neue Corona-Regeln? Im Rest von Europa kaum ein Thema: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/neue-corona-regeln-in-europa-kaum-ein-thema,TE1NIkJ
(12) Hausärzteverband-Vizechef Beier: „Nachfrage nach vierter Impfung zu gering.“ Datum: 08.08.2022 11:19 Uhr: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfung-hausaerzte-beier-100.html – Siehe auch: Impfkampagne in Deutschland : Wie viele bisher gegen Corona geimpft wurden. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfung-daten-100.html
(13) Im Beitrag „ENDLICH GUTE CORONA-NACHRICHTEN! Mehr als 100 000 Erstimpfungen an einem Tag“ der BILD vom 25.11.2021, ist weiter unten im Text ein Video eingebettet. Dieses Video (Dauer: 01:25 min.) trägt die Überschrift: „BESSER SPÄT, ALS NIE Die Gründe für den Impf-Ansturm“. Eine Auswahl: Sprecher: „Die Zahl der Erstimpfungen in Deutschland steigt weiter an. Nach 2G-Regeln, drohendem Lockdown und den Bildern aus den Intensivstationen der Krankenhäuser, holen sich viele jetzt den Pieks gegen COVID-19. Lange Schlangen vor den Impfzentren. Bild hakt nach in Berlin und Stuttgart, warum sich die Menschen jetzt vor Corona schützen wollen.“ Frau: „Ich lasse mich erst jetzt impfen wegen gesellschaftlicher Druck. Weil ich weder arbeiten, noch in die Geschäfte, noch woanders reingehen kann, ohne die Impfungen zu haben.“ Mann: „Ich kann nicht mehr trainieren gehen und zu arbeiten wird auch schwieriger.“ Junger Mann: „Ist jetzt meine erste Impfung und der Grund ist tatsächlich, eigentlich nur, dass ich Bahn fahren kann.“ Mann: „Ich lass mich jetzt doch impfen, dass man nicht diskriminiert wird, ganz einfach.“ (00:00 bis 00:42 min.) Mann: „Ich möchte im Januar verreisen und es geht nicht. Ja na klar, nur deshalb, ansonsten hätte ich es nicht gemacht.“ (01:11 bis 01:17 min.) https://www.bild.de/ratgeber/2021/ratgeber/corona-erfolg-mehr-als-100-000-erstimpfungen-an-einem-tag-78348932.bild.html – Siehe auch: https://twitter.com/behindthematrix/status/1557754116880965633 – Siehe auch: MANCHE GEHEN SOGAR LEER AUS Ansturm auf die Impfzentren! Von: Michael Sauerbier, 14.11.2021, 08:48 Uhr: „‚Ich will in meiner Freizeit nicht allein zu Hause sitzen', sagt Leonard Kuhlmey (17), ‚nur geimpft kann ich mit Freunden ins Kino und Konzert.'“ https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/hunderte-stehen-stundenlang-fuer-den-3-piks-an-das-ist-brandenburgs-impfschlange-78233630.bild.html
(14) Auch das Bundesgesundheitsministerium schrieb am 20. Juli 2022 auf Twitter: „Korrektur: Die Melderate für schwerwiegende Reaktionen beträgt laut @PEI_Germany 0,2 Meldungen pro 1.000 Impfdosen.“
https://twitter.com/BMG_Bund/status/1549797012064854019