Russlands Wirtschaft wächst

Gemessen daran, wie gut es dem größten Land der Erde geht, kann es man es geradezu als Erfolgsmodell betrachten, sich vom Westen sanktionieren zu lassen.

Wieder einmal haben Weltbank und Internationaler Währungsfonds die Schätzungen für das russische Wirtschaftswachstum angehoben. Wie ist zu erklären, dass nicht nur die Sanktionen nicht zum erwarteten Zusammenbruch führten, sondern zudem Russlands Wirtschaft stärker wächst als die europäische?

Fragwürdige Experten

Was da im größten Land der Erde passiert, hätte nach den Theorien westlicher Experten gar nicht eintreten dürfen. Hatten nicht alle ausgewiesenen Experten in dasselbe Horn geblasen, dass dieser bisher niemals dagewesene Sanktions-Tsunami Russland „in den Ruin treiben“ würde, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock es formuliert hatte? Hatte einer von ihnen öffentlich widersprochen, als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die russische Wirtschaft bereits „in Fetzen“ sah? Hatte einer der Fachleute gewarnt, dass eine solche Sanktions-Orgie in die Hose gehen könnte?

Im Gegenteil: Sie haben sich überboten in Schätzungen, um wie viele Prozente das russische Bruttosozialprodukt einbrechen wird. Sie haben sich unterboten in der Zahl der Monate, wie lange Russland sich die Kosten des Krieges wird leisten können. Die Fachmänner und -frauen der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft haben gewaltig daneben gelegen — nicht zum ersten Mal, wenn es um grundsätzliche Einschätzungen wirtschaftlicher Entwicklung geht.

Die gewaltigen Geldmengen, die die Notenbanken zur Rettung des Finanzsystems nach der Lehman-Pleite in die Märkte gegeben hatten, hatten nicht zu der prophezeiten Hyperinflation geführt. Aber selbst die wesentlich kurzfristigen Inflationsprognosen haben die Genauigkeit eines Würfelspiels, sodass unlängst der Chef-Volkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, kritisierte:

„Auf jeden Fall besteht bei der EZB in Sachen Inflationsprognosen großer Handlungsbedarf — so wie es ist, darf es nicht bleiben“ (1).

Auch hoch verschuldete Staaten wie Japan und die USA sind bisher nicht zusammengebrochen unter ihrer Schuldenlast, obwohl die Grenzwerte der Wirtschaftswissenschaft seit Jahren schon überschritten sind. Nicht einmal die Aussage des früheren Chefs der US-Notenbank Ben Bernanke, dass mit der Geldpolitik der FED der Kapitalismus krisenfrei geworden sei, hatte sich bewahrheitet. Von ihm würde jeder Laie erwarten, dass er sein Fach versteht. Dieser Aussage Bernankes folgte die größte Krise des Kapitalismus seit 1929. Dazu hatten ganz erheblich gerade jene ABS-Zertifikate beigetragen, die die Rating-Agenturen sogar als ausfallsicher ausgelobt hatten.

Moralisten sehen darin einen Beweis für betrügerische Machenschaften der Eliten. Aber es ist schlimmer:

Die Führungskräfte des Kapitalismus verstehen ihn nicht. Sie erkennen seine inneren Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte nicht.

Die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler haben ihre Modelle und Theorien und glauben, dass sie den Kapitalismus verstehen, weil sie diese Theorien kennen. Aber die Funktionsweise dieses Wirtschaftssystems ist ihnen ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Die Grundlagen ihrer Theorien entsprechen nicht der Wirklichkeit.

So verwundert es nicht, dass auch ihre Voraussagen über den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft nicht eingetreten sind. Vielmehr wächst und gedeiht sie trotz Sanktionen, Kriegskosten und der Theorien der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler. Viele dieser Entwicklungen waren sicherlich im Vorhinein nicht zu erkennen. Aber jetzt im Nachhinein sollte man von sogenannten Experten wenigstens eine Erklärung erwarten können.

Fragwürdige Erklärungen

Ein Ansatz wird in der Umstellung der russischen Wirtschaft auf Kriegswirtschaft angeboten. Aber das erklärt nichts. Der Westen verfügte schon vor dem Krieg über die höchsten Rüstungshaushalte, ein Mehrfaches des russischen, und hat diese nun noch weiter aufgebläht. Aber trotzdem dümpelt besonders die europäische vor sich hin im Gegensatz zur russischen. Im Westen wachsen die Schulden, wohingegen Russland trotz Sanktionen und Kriegslasten seine Auslandsschulden tilgte (2). Verblendet durch ihre eigenen Theorien erkennen die bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler die einfachen Wahrheiten der Wirklichkeit nicht.

Die Entwicklungen und Erscheinungen der Weltwirtschaft sind zu mannigfaltig, um darüber langfristige Voraussagen machen zu können. Die meisten dieser Prognosen sind müßig und kaum jemand erinnert sich an sie, wenn die Weissagungen nicht eingetreten sind. Denn neue Erfindungen, neu entwickelte Technologien, neu entdeckte Lagerstätten oder neu entflammte Konflikte haben unvorhersehbare Auswirkungen auf wirtschaftliche und auch politische Entwicklungen.

Die Prognosen der meisten Meinungsmacher und Wirtschaftswissenschaftler über die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen entstammen einem Russlandbild aus der Zeit des Kalten Krieges. Ihnen scheint jedoch noch nicht bewusst geworden zu sein, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, die von den Weltmärkten und internationalen Geldgebern abgeschnitten war.

Sie halten Russland immer noch für so rückständig, dass es ohne westliches Kapital und Know-how nicht bestehen kann.

Dieser Eindruck entstand, weil das Land weiterhin seine Deviseneinnahmen in erster Linie aus dem Export von Rohstoffen erwirtschaftete und weniger aus Industrieprodukten. Westliche Unternehmen hatten nach dem Zerfall der Sowjetunion durch ihre Investitionen eine starke Marktstellung in Russland erworben. Sie waren willkommen, ihre Waren begehrt. Damit konnten die russischen Produkte kaum noch mithalten, sie waren im Weltmaßstab nicht konkurrenzfähig. Beispielhaft dafür war die Autoindustrie. Russische Autos wurden Ladenhüter.

Dennoch erwirtschaftete das Land Überschüsse, wenn auch nur aus dem Export von Rohstoffen und Energieträgern. Daraus war bei vielen sogenannten Experten im Westen das Bild einer Tankstelle mit Atomwaffen entstanden. Von diesem Bild ließen sie sich blenden, als sie glaubten, Russlands Einnahmen abwürgen zu können, wenn sie seine Rohstoffexporte durch Sanktionen unterbinden. Sie wurden Opfer ihres selbstgeschaffenen Trugbildes.

Westliche Fehleinschätzungen

Russlands Erträge stammten zwar aus seinen Rohstoff-Exporten, es verfügt aber trotzdem über eine recht hoch entwickelte Industrie, wenn bisher auch nicht auf Weltmarkt-Niveau. Das aber ist der entscheidende Unterschied zu Ländern, wo die Sanktionen mehr Erfolg gezeigt hatten, wie Kuba, Venezuela oder dem Iran. Deren industrielle Basis war noch nicht so hoch und in der Breite entwickelt wie die russische. Diesen Unterschied erkannten aber die Sanktionsbefürworter im Westen offensichtlich nicht.

Die Sanktionen betrafen nicht nur die Exporte Russlands, sondern verboten auch westlichen Unternehmen, weiterhin in und mit Russland Geschäfte zu machen. Das aber führte dazu, dass nun russische Unternehmen in jene Märkte eindringen konnten, die vorher von den westlichen Firmen beherrscht worden waren.

Diese Marktveränderung war möglich, weil das russische Finanzsystem über ausreichend Kapital verfügte, um die eigenen Unternehmen mit Krediten für die Ausweitung der Produktionskapazitäten unterstützen zu können. Das Kapital, das der Sowjetunion zu ihrer Entwicklung gefehlt hatte, ist in Russland vorhanden.

Als weiteres war nicht beachtet worden, dass die westlichen Unternehmen zwar Markennamen, Kapital und Produktionsverfahren mitgebracht hatten. Aber es sind die russischen Arbeiter, die die Produktion durchführen und gewährleisten. Als die westlichen Unternehmen ihre Tätigkeit einstellen mussten, waren die Produktionsanlagen immer noch im Land und ebenfalls die Arbeitskräfte, die sie bedienen und damit die Produktion weiterführen konnten.

In der dem Westen eigenen Überheblichkeit war man sich dessen offensichtlich gar nicht bewusst, weil man die Bedeutung der Arbeiter für die Produktion gering schätzte. Im Westen zählen nur Unternehmer. Zum Produzieren brauchen die Russen, die über ein sehr hohes Niveau an Bildung und Fertigkeiten verfügen, jedoch nicht unbedingt westliche Unternehmer. Sie können es auch selbst, denn sie haben die notwendigen Fähigkeiten.

Aussichten

Zwar waren die Sanktionen im ersten Jahr des Krieges ein Schock für die russische Wirtschaft, aber schon im zweiten Jahr erholte sich das Land davon. Auf lange Sicht könnten sich diese sogar als Vorteil herausstellen. Denn entweder wird die Produktion von russischen Unternehmen übernommen, weil diese die westlichen Betriebe übernehmen, oder der Marktanteil russischer Unternehmen wächst, weil diese und deren Produkte keine westliche Konkurrenz mehr im Lande haben. Das bedeutet, dass die in Russland erwirtschafteten Gewinne ehemals westlicher Unternehmen nun in Russland bleiben und nicht zurückfließen an die Konzernzentralen im Westen. Das stärkt die Finanzkraft des Landes.

Zudem ist der Westen immer noch in vielen Wirtschaftsbereichen auf Importe aus Russland angewiesen. Dass die Sanktionen die Einnahmen Russlands schwächten, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Sie führten aber auch zu einer finanziellen Zweiteilung des Weltmarktes. Wenn der Westen weniger russisches Öl kauft, so steigt der Preis nicht-russischer Sorten wie Brent (3) oder WTI-Öl (4). Gleichzeitig aber gehen die Überkapazitäten der russischen Ölförderung zu niedrigeren Preisen an die Konkurrenten des Westens, hier besonders China.

Die Drosselung der Ölförderung im Rahmen der Organisation OPEC+ hat ein Übriges dazu beigetragen, die russischen Einnahmen aus dem Ölgeschäft nicht in bedrohliche Bereiche fallen zu lassen. Zwar sinken Russlands Einnahmen aus dem Ölgeschäft, liegen aber immer noch über dem vom Westen verfügten Preisdeckel. Die westliche Vorstellung, mit den Sanktionen Russland zu schwächen und es an der Fortführung des Krieges zu hindern, hat sich nicht bestätigt und dürfte sich eher ins Gegenteil wenden.

Zwar leidet Russland unter den Sanktionen, doch ebenso der Westen, besonders die europäische Wirtschaft. Die Exportbeschränkungen gegenüber russischen Produkten haben nicht nur für Verknappung im Westen gesorgt, sondern auch für steigende Preise.

Für Russland gilt das nicht. Es verfügt neben den Rohstoffen auch über die Industrie und die finanziellen Mittel, diesen Krieg vermutlich länger zu führen, als der Westen dachte und vielleicht selbst durchhalten kann. Jedenfalls haben Finanzierungsprobleme und die mangelnden industriellen Kapazitäten westliche Siegesgewissheit inzwischen erheblich gedämpft.

Für die chinesische Industrie, besonders deren Autohersteller war der Rückzug der westlichen Unternehmen wie ein Sechser im Lotto. Ohne in teure Konkurrenzkämpfe einsteigen zu müssen, konnten chinesische Autobauer die Marktanteile, zum Teil sogar Produktionsanlagen übernehmen, die die westlichen Autohersteller kampflos hergegeben haben. Die Chinesen stießen vor in ein Marktvakuum, das ihre Waren aufsaugte.

Dort wo westliches Know-how und Kapital das Land verlassen hatten, sprang China mit seinem Wissen, seiner Industrieproduktion und seinem Kapital ein, so weit es den Russen selbst fehlte. Beide ergänzen sich in ihren Möglichkeiten und Bedürfnisse bestens. Wie das Centre for Strategic and International Studies feststellt, haben „chinesische Lieferungen vollumfänglich solche aus Europa, den Vereinigten Staaten, Südkorea und Taiwan ersetzt“ (5).

Was China an Rohstoffen fehlt, das hat Russland, und mit seinen Einnahmen aus den Rohstoff-Exporten bezahlt Russland die Importe aus China. Deren Bilanzen sind im Gegensatz zu denen zwischen China und dem Westen weitgehend ausgeglichen. Hier gibt es keine protektionistischen Behinderungen, wie China und Russland es von ihren Wirtschaftskontakten mit dem Westen kennen. Dementsprechend blühen Handel und Entwicklung.