Rechte für die Schwächsten
Vor 30 Jahren wurde der Schutz von Kindern Teil des Völkerrechts.
„Errungenschaft“ — das Wort sagt sich so leicht, aber hier passt es besonders. Denn Kinderrechte mussten gegen Jahrhunderte der Widerstände und des Ignorierens elementarer Bedürfnisse von Mädchen und Jungen errungen werden. 1989 wurde die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen aus der Taufe geholt. Mitgefühl mit den Leiden von Kindern ist dagegen zum Glück keine Neuerfindung unserer Epoche. Die Autoren erinnern an Pioniere wie Jean-Jacques Rousseau, Charles Dickens, Eleanor Roosevelt und Audrey Hepburn, die sich der Nöte von Heranwachsenden annahmen.
von Gunther Moll und Benjamin Moll
Im November 1989 wurde von den Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes verkündet. Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens beschreiben und erklären wir in einer Beitragsserie die wesentlichen Inhalte dieser Völkerrechtskonvention für die Lebensspanne der Kindheit eines jeden Menschen.
Dies ist dringend nötig, denn die Rechte der Kinder werden auch in unserem Lande von allen Regierungen und Parlamenten weiterhin missachtet und täglich millionenfach verletzt. Dies kann sich nur ändern, wenn diese Rechte Allgemeingut werden und ihre Gewährleistung von uns allen mit Nachdruck eingefordert wird.
In unserem ersten Beitrag zeichnen wir den Weg zu den Kinderrechten nach …
Die erste Idee — Jean-Jacques Rousseau
Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten. Dies schrieb der Philosoph, Pädagoge und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau (1) in Emile oder über die Erziehung Mitte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit der Aufklärung, des Glaubens an Fortschritt und Vernunft, der Freiheit der Bürger und freien Entfaltung der Persönlichkeit wurde die Kindheit als eigene, entscheidende Lebensspanne eines Menschen erkannt. Im Kontrast zu dieser Erkenntnis wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber nicht nur Erwachsene, sondern ebenso Kinder immer rücksichtsloser als Arbeitskräfte ausgebeutet und wie ein Stück Seife verbraucht.
Die große Notwendigkeit — die industrielle Revolution
Während der industriellen Revolution stiegen Wachstum und Gewinn zu neuen Götzen auf. Der Großteil der Menschen entfremdete sich von der Arbeit. Familie und Arbeit wurden immer stärker getrennt, die Menschen an sieben Tagen der Woche ausgenutzt. Soziale Missstände spitzten sich zu, immer mehr Kinder verwahrlosten. Es war die Zeit der Entweihung des Sonntags, der Zerstörung sozialer Beziehungen, der Entstehung einer neuen Armut und — auch heute ein brandaktuelles Ziel von Wirtschaft und Politik — der Notwendigkeit, die Kinder in der Arbeitszeit ihrer Eltern unterzubringen.
Fürsorgeerziehung und Jugendschutz wurden nicht nur zum Vorteil der Kinder, sondern auch zu deren Disziplinierung und Unterordnung eingesetzt. Vorrang der Arbeitswelt und des Materiellen, gehorsam und leistungsfähig machen von klein auf, so lautete — und lautet auch heute in der Zeit der institutionellen Ganztagsbetreuung — die Devise.
Nicht nur die Erwachsenen, auch unendlich viele Kinder wurden als billige Arbeitskräfte missbraucht, wie David Copperfield, Oliver Twist und ihre Leidensgenossen, beschrieben vom großen Charles Dickens (2). Ausbeutung von Mensch und Natur für unbegrenztes Wachstum und immer höhere Produktivität der Wirtschaft sowie — ganz besonders — für das große Geld.
Unter diesen Umständen war es für die VertreterInnen der Menschenrechte — aus einer tiefen Menschlichkeit heraus — höchste Zeit geworden, nicht nur die Kindheit zu einer ganz besonderen Lebensspanne eines Menschen zu erklären, sondern allen Kindern den nötigen Schutz, die erforderliche Fürsorge und die bestmögliche Unterstützung für eine gute Entwicklung zu schenken.
Ein erster Meilenstein — Eglantyne Jebb
Ein erster Meilenstein zum Schutz der Kindheit glückte der britischen Sozialreformerin Eglantyne Jebb (3) wenige Jahre nach Ende des ersten Weltkrieges. Im Jahre 1923 überreichte sie dem Völkerbund ihre Deklaration der Rechte der Kinder. Diese konnte als Erklärung der Kinderrechte am 24. September 1924 in Genf durch die Generalversammlung des Völkerbundes verabschiedet werden. In dieser Charta wurde betont, dass alle Nationen ihren Kindern das Beste, was sie zu geben haben, schulden.
24 Jahre später — und damit nur kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges — gelang 1948 ein zweiter Meilenstein für die Betonung und Wertschätzung der Kindheit, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Nach Ausarbeitung durch die UN-Menschenrechtskommission unter dem Vorsitz der US-amerikanischen Delegierten Eleanor Roosevelt (4) wurde diese von der Präsidentenwitwe in der Generalversammlung am 10. Dezember 1948 im Palais de Chailot in Paris verkündet und mit 48 Stimmen bei acht Enthaltungen und keiner Gegenstimme verabschiedet.
Die Menschenrechte — Eleanor Roosevelt
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, so setzt es der erste der 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eindeutig fest. Der Grundsatz der Französischen Revolution — alle Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es — war 159 Jahre später zu einem Völkerrecht für Kinder geworden. Nicht erst Erwachsene, nein schon Kinder wurden von ihrer Geburt an zu richtigen, vollständigen Menschen erklärt, weltweit gültig in den damals 56 Mitgliedsländern der Vereinten Nationen.
Aber nicht nur das: Die Generalversammlung ging über diesen allgemeinen Grundsatz noch hinaus. Sie verkündete, dass Kinder Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung haben. Was für eine Feststellung! Kinder sind nicht mehr unfertig und unmündig, beliebig zu behandeln, auszunutzen und auszubeuten. Nein, sie sind mit denselben Rechten geboren wie Erwachsene und haben ganz besondere Ansprüche, die erfüllt werden müssen!
Die Kinderrechte — Audrey Hepburn
200 Jahre nach der Französischen Revolution, 65 Jahre nach der Genfer Erklärung der Kinderrechte, 41 Jahre nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 30 Jahre nach der Erklärung der Rechte des Kindes und 10 Jahre nach dem Internationalen Jahr des Kindes gelang dann in einer eigenen Erklärung für den ganz besonderen Zeitraum der Kindheit der große Wurf. Diese Konvention über die Rechte des Kindes wurde am 20. November 1989 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am UN-Hauptquartier am United Nations Plaza von der UNICEF-Sonderbotschafterin und Oscar-Preisträgerin Audrey Hepburn (5) verkündet und von der Versammlung einstimmig angenommen.
Nur ein Jahr später verpflichteten sich auf dem New Yorker Weltkindergipfel 150 Staatschefs und Regierungsvertreter aus der ganzen Welt zur Anerkennung dieser Konvention. So hätte ab dem 1. Oktober 1990 ein neuer Umgang mit Kindern und ein neuer Wert der Kindheit beginnen können, ja müssen — als verbrieftes Völkerrecht, als der Beginn einer neuen Zeitrechnung für jeden Menschen von seiner Geburt an, als höchstes Recht auf Erden, welches über allen nationalen Vorschriften und Rechten steht.
Die Kinderrechtskonvention — Kofi Annan
Nachdem am 6. März 1992 die UN-Kinderrechtskonvention von der Bundesrepublik Deutschland mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat durch Gesetz vom 17. Februar 1992 in Berlin unterzeichnet wurde, konnte am 5. April 1992 die Ratifizierungsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt werden.
Die ganz besonderen Menschenrechte der Kinder waren damit auch in unserem Lande in Kraft getreten. Eine völkerrechtliche Übereinkunft, in der es, wie der ehemalige UNO-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger Kofi Annan (6) einmal sagte, um nichts weniger als um die Zukunft der Menschheit geht.
Ausblick
Im zweiten Beitrag unserer Serie zum 30-jährigen Bestehen des Übereinkommens über die Rechte des Kindes werden wir die Kernaussagen der Präambel der UN-Kinderrechtskonvention hervorheben …
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag erschien zuerst auf dem auf dem Portal „Neue Debatte. Journalismus und Wissenschaft von unten“.
Benjamin Moll ist aktuell Berater bei einer der weltweit führenden Unternehmensberatungen. In seiner Projektarbeit fokussiert er sich primär auf die Bereiche Social Impact und Nachhaltigkeit. Im August diesen Jahres beginnt er seinen Master of Business Administration an der Columbia University in New York. Gemeinsam mit seinem Vater veröffentlichte er 2012 im Papeto Verlag das Buch „DieKinderwagenRevolution“ und 2016 „Der Umbruch: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten“.
Gunther Moll ist Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen. Er setzt sich für die Rechte der Kinder ein. Gemeinsam mit seinem Sohn Benjamin veröffentlichte er 2012 im Papeto Verlag das Buch „DieKinderwagenRevolution“ und 2016 „Der Umbruch: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten“. 2018 publizierte er zusammen mit Sarah Benecke und Günter Grzega „Die Vorstufe zum Paradies für uns alle“. Gunther Moll ist politisch aktiv. Für die Freie Wählergemeinschaft Erlangen ist er im Stadtrat.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war ein Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist. Er hatte bedeutenden Einfluss auf die Pädagogik und die politische Theorie des späten 18. sowie des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa. Rousseau war zudem ein Wegbereiter der Französischen Revolution. (2) Charles Dickens (1812-1870) war ein englischer Schriftsteller. Seine Werke David Copperfield, Bleak House, Große Erwartungen und Dombey und Sohn zählen zu den bedeutendsten britischen Romanen.
(3) Eglantyne Doey Jebb (1876-1928) war eine britische Aktivistin. Sie setzte sich für die Kinderrechte ein, war Gründerin der Organisation Save the Children und Wegbereiterin der UN-Kinderrechtskonvention.
(4) Anna Eleanor Roosevelt (1884-1962) war eine US-amerikanische Diplomatin und Menschenrechtsaktivistin. Sie war Ehefrau des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Politikerin in der UNO.
(5) Audrey Hepburn (1929-1993) war eine mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin britisch-niederländischer Herkunft. 1988 wurde sie von der UNICEF zur Sonderbotschafterin ernannt.
(6)Kofi Atta Annan (1938-2018) war ein ghanaischer Diplomat. Von 1997 bis 2006 war Annan Generalsekretär der Vereinten Nationen. Für seinen „Einsatz für eine besser organisierte und friedlichere Welt“ erhielt er 2001 gemeinsam mit den Vereinten Nationen den Friedensnobelpreis.