Rebellion oder Untergang
Wenn wir unsere Zivilisation retten wollen, müssen wir uns weltweit in Ungehorsam üben. Teil 2/2.
In seinem neuen Buch „Rebellion oder Untergang!“ klärt Noam Chomsky eindrücklich über die existenziellen Bedrohungen durch Atomwaffen und den Klimawandel auf. Er stellt diese Bedrohungen in den Kontext einer nie dagewesenen globalen Macht der Konzerne, die mittlerweile die führende Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft übernommen haben und die Demokratie mehr und mehr aushebeln. In diesem Buchauszug geht es vor allem um den schleichenden Demokratie-Abbau, den Chomsky mit Machtergreifungsszenarios der jüngeren Geschichte vergleicht.
Die Aushöhlung der Demokratie
Etwa zweieinhalb Jahre nach seinem Vortrag vor den US-Wahlen von 2016 kehrte Noam Chomsky am 11. April 2019 zur Old South Church zurück, um erneut vor einem vollen Saal zum Thema Internationalismus oder Untergang zu sprechen. Nach einer persönlichen Reminiszenz ergänzte er seine Darstellung der existenziellen Gefahren, vor denen die Menschheit heute steht, durch Überlegungen zum politischen Prozess selbst, nämlich zur Subversion der Demokratie durch die Interessen der fossilen Brennstoffindustrie, der Großkonzerne und die Kräfte des Nationalismus.
— Die Herausgeber
Erlauben Sie mir, mit einer kurzen Reminiszenz an eine Zeit zu beginnen, die der heutigen auf vielerlei unerquickliche Arten gespenstisch ähnelt. Ich meine die Zeit vor ziemlich genau 80 Jahren, zufälligerweise genau der Moment, in dem ich meinen, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, ersten politischen Artikel schrieb. Das Datum ist dabei leicht zu eruieren; es war unmittelbar nach der Einnahme Barcelonas durch die Franco-Truppen im Spanischen Bürgerkrieg im Februar 1939.
In dem Artikel ging es um eine Erscheinung, die damals vielen als der unaufhaltsame Aufstieg des Faschismus auf der ganzen Welt erschien. Im März 1938 hatte Nazi-Deutschland Österreich besetzt. Einige Monate später verrieten die Westmächte mit dem Münchener Abkommen von September 1938 die Tschechoslowakei und überließen sie der Willkür der Nazis.
In Spanien fiel eine Stadt nach der anderen an die Truppen Francos und im Februar 1939 fiel auch Barcelona. Das war das Ende der Spanischen Republik. Die bemerkenswerte anarchistische Volksrevolution von 1936, 37 und 38 war vorher schon gewaltsam zerschlagen worden. Es sah so aus, als würde der Faschismus sich endlos weiter ausbreiten.
Das war nicht exakt dasselbe wie das, was heute vor sich geht, aber wir können uns hier die berühmte Formulierung Mark Twains entleihen: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ — es gibt zu viele unübersehbare Ähnlichkeiten.
Nach dem Fall Barcelonas gab es eine enorme Welle von Flüchtlingen aus Spanien. Die meisten, etwa 40.000, gingen nach Mexiko. Andere emigrierten nach New York und eröffneten anarchistische Büros am Union Square und Secondhand-Buchhandlungen in der 4th Avenue. Ich trieb mich dort oft herum und erhielt so eine Art erster politischer Grundausbildung. Das war vor 80 Jahren, aber die Erinnerungen sind immer noch da.
Obwohl wir das damals nicht wussten, kamen viele in der US-Regierung jetzt ebenfalls langsam zu der Einschätzung, dass die Ausbreitung des Faschismus vielleicht unaufhaltbar war. Allerdings waren diese Leute darüber keineswegs so erschrocken wie ich als Zehnjähriger. Wir wissen heute, dass die Haltung des US-Außenministeriums zum Charakter der Nazi-Bewegung reichlich zwiespältig war. So kabelte der damalige US-Konsul in Berlin ziemlich schwammige Kommentare über die Nazis nach Hause, in denen er die Meinung vertrat, sie seien vielleicht doch nicht so schlimm wie alle behaupteten. Er wurde erst nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor im Dezember 1941 von dort abgezogen und später als Diplomat berühmt wurde; sein Name war George Kennan. Seine Berichte spiegelten die damalige gemischte Haltung gegenüber den Nazis recht gut wider.
Im Gegensatz zu damals wissen wir heute auch, dass das Außenministerium und der Council on Foreign Relations schon kurz nach dem Fall Barcelonas, noch 1939, mit Planungen für die Welt nach dem Krieg und zu der Frage, wie diese aussehen sollte, begannen. Und in den ersten Jahren von 1939 bis 1942 gingen sie davon aus, dass die Nachkriegswelt in einen von Nazi-Deutschland kontrollierten und die meisten Gebiete Eurasiens umfassenden Teil und einen Teil unter Kontrolle der USA aufgespalten sein würde, der die westliche Hemisphäre, das ehemalige britische Imperium — das von den USA übernommen werden würde — und bestimmte Gebiete im Fernen Osten umfassen würde. Das war die Planung für die Welt nach dem Krieg.
Wir wissen heute, dass man, bis es Russland gelang, den Naziangriff von 1941 zurückzuschlagen, weiter von dieser Konstellation ausging. Stalingrad im Winter 1942/43 und die große Panzerschlacht von Kursk etwas später machten klar, dass Russland die Nazis besiegen würde. Damit änderten sich auch die Planungen. Das Bild davon, wie die Welt nach dem Krieg aussehen würde, änderte sich und entwickelte sich zu dem, was wir in der ganzen Zeit seitdem gesehen haben. So sah es also vor etwa 80 Jahren aus.
Was wir heute sehen, kommt natürlich in keiner Weise an den Nazismus heran, aber wir stehen sehr wohl der Ausbreitung eines Phänomens gegenüber, das man als ultranationalistische, reaktionäre Internationale bezeichnen kann, und als genau das wird es von ihren Vertretern wie Steve Bannon, dem Impresario der Bewegung, auch offen herausposaunt. Gerade gestern erst errang diese Bewegung wieder einen Sieg: Mit der Wahl Netanyahus in Israel wurde das reaktionäre Bündnis, das gerade unter Schirmherrschaft der USA und unter Federführung des Triumvirats Trump-Pompeo-Bolton aufgebaut wird, weiter gefestigt. Ich könnte hier zur Charakterisierung dieser drei auf eine Formulierung von George W. Bush zurückgreifen, werde das aber aus Höflichkeit unterlassen.
Im Nahen Osten besteht diese Allianz aus den ultrareaktionären Staaten der Region — Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten unter der brutalsten Diktatur seiner neueren Geschichte — und Israel, die sich alle gegen den Iran verbündet haben. Auch in Lateinamerika sind wir mit ernsten Gefahren konfrontiert. Mit der Wahl Jair Bolsonaros in Brasilien kam der extremistischste und abscheulichste unter den rechten Ultranationalisten an die Macht, die jetzt die Geißel der Hemisphäre sind.
Erst gestern tat der Präsident Ecuadors, Lenín Moreno, einen großen Schritt zum Beitritt seines Landes zum internationalen Bündnis der extremen Rechten, indem er Julian Assange das Aufenthaltsrecht in der britischen Botschaft Ecuador in London entzog. Daraufhin wurde Assange sofort von den britischen Behörden festgenommen und steht nun, wenn es keine starken und breiten Proteste dagegen gibt, vor einer äußerst bedrohlichen Zukunft. Mexiko ist eine der wenigen Ausnahmen in Lateinamerika im Hinblick auf diese Entwicklungen. Ähnliches sehen wir auch in Westeuropa, wo die rechten Parteien, einige davon von einer höchst beängstigenden Sorte, einen Wachstumsschub erleben.
Es gibt aber auch Gegenentwicklungen. So hat eine sehr wichtige Figur, der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis, zusammen mit Bernie Sanders zur Gründung einer Progressiven Internationale aufgerufen, um der sich gerade herausbildenden rechten Internationale etwas entgegenzusetzen. Auf der Ebene der Staaten sieht die Bilanz ganz überwiegend negativ aus, aber Staaten sind ja nicht die einzigen internationalen Akteure. Die Bevölkerung steht oft ganz woanders. Und das könnte am Ende entscheidend sein. Daher müssen wir die funktionierenden Demokratien schützen, erweitern und die Möglichkeiten, die sie bieten, nutzen, um jene Arten von Aktivismus praktizieren zu können, die schon oft zu wichtigen Fortschritten geführt haben und möglicherweise ausschlaggebend für unsere Zukunft sind.