Reaktionäre Rebellen
Beim Versuch, Schuldige für das totalitäre Desaster zu finden, landen nicht selten emanzipative Ideen mit auf dem Scheiterhaufen. Teil 1/2.
In einem zweiteiligen Beitrag, der seinen Essay „Menschliches, Allzumenschliches“ fortsetzt, stellt Daniel Sandmann Muster heraus, die sich bei genauer Lektüre als reaktionär im Sinne von anti-emanzipativ erweisen. Beim Versuch, die „Schuldigen“ für die weltweite Repression zu finden, sind diese gleichwohl auch in Kreisen der Dissidenz verbreitet. In Sandmanns Text geht es ausdrücklich nicht darum, neue Gräben aufzutun und solche Muster aus der Debatte auszugrenzen, denn oftmals sind mit diesen auch bedenkenswerte Erkenntnisse und Einsichten verknüpft. Vielmehr ist es das Ziel des Beitrags, reaktionäre Versatzstücke dem Bewusstsein zugänglich zu machen, damit die Überwindung von totalitären Denkmustern eines fernen Tages, falls er kommt, gelingen kann. Wenn jedoch unreflektiert mit Nationalstaat und heilen Familienbildern gegen Global Governance und Genderismus „gekämpft“ wird, dann bleibt dieser Tag definitiv fern.
Was war das? Und wann begann es? Und wer trieb es voran? Welches Wir? Vielleicht tatsächlich wir? Oder eher die Anderen? (Wozu sonst sind andere da?)
Welche Zivilisation? Welche Kultur? Welche Ideologie? Welche Macht?
Dass ein Bedürfnis besteht, diese Fragen zu klären ― vor allem das Wer beziehungsweise das Wir ― ist evident und wohl mit eine Voraussetzung dafür, die Bahnen möglichst schnell zu verlassen; Raserpisten, die ans Ende des Menschen qua emanzipatives Wesen führen und darüber hinaus womöglich überhaupt ans Ende der Menschheit, wobei mir vorstellungsmäßig ein Ende lieber wäre als eine entseelte technofaschistische Digitalapparatur, in alle Ewigkeit einstrahlend. Für dieses Wesen einzustehen und dabei nicht selbst Muster zu bedienen, die diesem Wesen den Garaus machen, darin besteht die Kunst und die Denkkunst und die Denknotwendigkeit dieser Tage. Und diese Kunst ist auch angesichts einer die vorangehende Maskerade noch toppenden Ukraineshow kein Luxus.
Vorrede
Für einen irgendwie gearteten früheren Sympathisanten der politischen Linken wie mich ― genauer wohl eher als „Salonlinker“ zu titulieren ― war Corona die letzte Bestätigung und die letzte Überraschung, die weder bestätigt werden brauchte noch überraschen konnte. Die Linke, insbesondere die sogenannte Sozialdemokratie ― wenn ich in diesen Tagen einen Ralf Stegner mit seiner Ukrainemission am Rednerpult des Bundestags höre, so kann ich mich des Eindrucks kaum erwehren, es handle sich bei der SPD tatsächlich um die Nachfolgeorganisation der NSDAP ―, und die mit ihr lange Jahre assoziierten Grünen erwiesen sich als totalitäre Marionetten einer Maschinerie, die dem Selbstverständnis ihrer Marionetten und dem vorgehaltenen Narrativ des Kapitals nach stets das Gute wollen und ... nein: das Böse natürlich nicht schaffen, stattdessen in einem fort die Opfer erzeugen, die sie brauchen, um sich an die Hebel der Macht zu hieven, da zu halten und daselbst ihre Funktion als Chefmarionetten des Kapitals weiter auszubauen.
Wenn die Verwunderung über diesen sonderbaren Vorgang bereits (oder auch spätestens) mit Blair gefallen war, so blieb indes doch noch die kleine Frage, ob da eine Denkrichtung oder eine Idee oder gar eine politische Agenda usurpiert worden oder ob dieser Gehorsam „links“ nicht vielmehr genuin angelegt gewesen sein mochte, auf dass er sich aus dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und dann für die endgültige Diskriminierungsfreiheit aller erdenklichen technologisch-pharmazeutisch-medial herstellbaren Identitäten als Endfigur hat hochtürmen können.
Ein kleiner Effort war jedenfalls nötig, um zu erkennen, dass es sich beim links-grünen Verhalten während Corona nicht um ein Versagen ― auch die Polizei, auch die Justiz hat nicht versagt ―, sondern um ein Zu-sich-Kommen handelte. Sie haben zu ihrer Bestimmung gefunden. Amen.
Allerdings dürfen auch mit dieser Erkenntnis gewisse Differenzierungen nicht vergessen gehen. Allem voran, dass dieses Bestimmungsurteil hier im Westen Europas ein Urteil über eine Linke ist, die historisch nicht auf einen Marxismus zurückzuführen wäre, sondern deren Wesen sich im Gegenteil aus der empörten Abwendung vom Marxismus speist, ohne dass sie ― diese Linke ― den darauffolgenden und gewissermaßen doch beibehaltenen Glauben in und an den Staat, der nun allerdings ganz und gar ein Kapitalstaat war, durch wesensmäßig liberale oder gar libertäre Züge ― beides Sozialdemokraten gänzlich fremd ― zu besänftigen vermocht hätte.
Auch in diesem Magazin sind viele Thesen gewoben worden, inwiefern die Repression vor allem aus links-grünen Kreisen in geballter Ladung auf die Bevölkerung insbesondere Deutschlands hat herabbrechen können. Und auch ich habe mich an dieser Debatte ― wenn es denn eine war ― zwecks Klärung der Frage beteiligt, ob die politische Links vom Kapital gekapert worden sei oder ob es diese Kaperung gar nicht erst gebraucht hätte und dieser Linken, der Westlinken also, schon immer der Begriff für Freiheit, und also Emanzipation und Autonomie, rein von der Idee und vielleicht auch vom Lebensgefühl her gefehlt habe.
Ingeborg Bachmann, eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Intellektuellenszene des 20. Jahrhunderts und von der akademischen Schulgermanistik verkitscht, entpolitisiert und für sedierende Zwecke verwendet, deutet sowohl in ihrer Erzählung „Unter Mördern und Irren“ als auch im Rahmen eines kurzen Kommentars anlässlich eines Treffens der weitgehend sozialdemokratisch geprägten westdeutschen Autoren-Gruppe 47 ― sie hätte das Gefühl, unter deutsche Nazis gefallen zu sein, so ihre Worte (1) ― bereits in den Fünfzigern sehr deutlich auf diese Option hin. Das Eingehen der Linken in die Konzerne wäre dann folgerichtig und nicht paradox zu nennen, da dieses Eingehen ja das Wesensmerkmal ihrer Absetzung vom Marxismus überhaupt darstellt.
Bei der Suche nach den Ursachen für die ― abgesehen von China, wo die Gründe etwas anders gelagert sein mögen ― in erster Linie im Westen flächendeckend implementierte Repression 2020 darf jedoch die politische Seite, die immer schon das Kapital offen und ideologisch überzeugt vertreten hat, gleichwohl nicht aus dem Fokus rücken. Wenn Linke und Grüne ihrem Wesen eigen und voller Eifer die Repression durchziehen, so ändert dies an der Tatsache, dass sie als Marionetten fungieren, nichts. Und gleichermaßen reduziert die postulierte Affinität linker und grüner Ideologie zum Kapital und seinem Totalitarismus die gleich gelagerte Affinität (und Marionettenfunktion) der politischen Gegenseite ― sollten diese „Seiten“ auch niemals etwas anderes denn ein Gag des Demokratietheaters gewesen sein ― nicht im Geringsten.
Dies möchte ich in dieser „Vorrede“ schon einmal mit ins Zentrum stellen, gibt es bei der Repressionskritik und generell der Dissidenz doch eine Tendenz zu konservativ-kleinbürgerlichen und zu Ende gedacht reaktionären Mustern, die unreflektiert bleiben. Diesen unbeleuchteten Seiten wende ich mich zu. Da indes gerade „linke Inhalte und Positionen“ von dieser reaktionär-kleinbürgerlichen Seite aus ins Zentrum der Ursache für das Desaster gerückt werden ― und zwar von Lenin über Hannah Arendt bis Noam Chomsky (2) ―, bleiben Linke und Grüne beziehungsweise die entsprechenden Denkmuster mit im Fokus dieser gedanklichen Erkundung.
Damit diese Erkundung des Reaktionären verständlich wird, kläre ich zunächst ― im Groben ― den ideologisch-politischen Hintergrund, der mir hierfür wichtig scheint. Dabei steht zunächst die Differenz zwischen Marxisten und systemischen „Westlinken“ im Fokus, eine Differenz, die aus reaktionärer Sicht bezeichnenderweise ignoriert wird. Wenn es einen linken Umgang mit Corona beziehungsweise einen linken Eifer bei der hierbei ausgebreiteten Repression gibt, so ist das ein Eifer der Westlinken. Beleuchtet wird sodann die Systemkritik auf der bürgerlichen Seite. Dabei wird eine liberal-emanzipative von einer reaktionären Ausrichtung unterschieden. Die Muster, die anschließend herausgestellt werden, kennzeichnen diese reaktionäre Ausrichtung teilweise, jedoch nicht durchgehend als Alleinstellungsmerkmal, sondern finden sich durchaus ebenso in Weltanschauungen, die sich ihrem Selbstverständnis nach in keiner Weise als reaktionär verstehen.
Lechts und Rinks darf man nicht velwechsern
Was die „Schuld“ der Linken am Desaster betrifft, so kann eine sorgsame Dekonstruktion des linken Verwobenseins mit eben diesem Desaster nur stattfinden, wenn ideologische und historische Trennungen fundamentaler Art innerhalb der Linken mit reflektiert werden. Wie man auch steht zu Marx, zu Engels, später zu Lenin, so ist es eine Tatsache, dass Kommunisten und Sozialdemokraten ― ich argumentiere historisch holzschnittartig ― spätestens im 20. Jahrhundert, aber wesentlich schon früher, grundsätzlich andere, um nicht zu sagen, gegenteilige Ideologien vertreten.
Eine Rückführung des Coronadurchgriffs kann also für den Marxismus, der politisch in den Bolschewismus übergegangen ist und für kommunistische Strömungen, die weiterhin überwiegend an bolschewistischen Ideen festgehalten haben und nicht in das eingemündet sind, was mitunter als Reformkommunismus ausgesprochen wurde, nicht die gleichen Verantwortlichkeiten ausmachen wie für die Sozialdemokratie und die daraus hervorgehenden grün-identitären Bewegungen, welche sich explizit dem Kapitalismus verschrieben haben und die marxistische Ideologie, soweit sie sich als Klassenideologie versteht, als ihren eigentlichen Gegner sehen und aus diesem Grund ja auch auf exekutiven Sesseln sitzen. Mit wenigen Ausnahmen, die auf die eine oder andere Art entschärft wurden (Brandt, Palme), waren Westlinke stets die militanteren und zuverlässigeren Gegner des Kommunismus und ― diese seltsame Verschränkung wäre gesondert zu betrachten ― auch des Russländischen, das dem Sowjetischen folgte, als der russische Staat zu Beginn der Neunziger im Kapitalismus implodierte, zuverlässiger als die meisten Konservativen.
Dem Schein und einem allgemeinen Feuilletonverständnis nach ist individuelle Freiheit bei den Westlinken (oder nichtmarxistischen Linken) ungleich stärker gewichtet, ja überhaupt gewichtet, wohingegen sie im Marxismus deutlich hinter das Klassenbewusstsein tritt ― aber bei Marx durchaus nicht fehlt, was im Feuilleton vergessen geht. Diese bürgerliche Freiheit ist ein kulissenhaft vorgetragenes Argument der „Westlinken“, vielleicht besser als „Cultural-Freedom-Freiheitslinke“ (3) zu bezeichnen, sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg vom Marxismus-Leninismus abzuwenden.
Was indes in diesen Corona- und Ukraineshowtagen deutlich wurde und wird: Wie reaktionär, totalitär und vor allem auch zutiefst militant diese mit dieser Abwendung einhergehende politische Ausrichtung im Grunde immer schon gewesen ist ― eine Ausrichtung, die indes und naturgemäß zum Durchschlag kommt, sobald flächendeckend oder zumindest großmehrheitlich Marionetten aus diesem Politsegment und deren Erben in exekutive Stellungen gehievt sind.
Bei der Zertrümmerung Jugoslawiens hätte man eine erste deutliche Lektüre in dieser Hinsicht betreiben können ― ich habe sie damals verpasst.
Die Staatsgläubigkeit auf nicht-marxistischer, linker Seite war in meiner Wahrnehmung und meinem damaligen schweizerischen Umfeld quasi eine Naturerscheinung. Sozialdemokratisch und grün geprägte Organisationen, Stiftungen, Institute oder Denkschulen und Schulen überhaupt hingen direkt oder indirekt von finanziellen Zuwendungen des Staates ab. Bloß, dass ich dieser Gläubigkeit in den Achtzigern und teilweise noch in den Neunzigern weniger kritisch gegenüberstand, sie sogar gegen direkte Verbindungen und Abhängigkeiten zum und vom Konzernkapital pries, ohne zu erkennen, dass es sich um das gleiche und gleich monströs generierte Kapital handelt, auf das diese Gläubigkeit schielte. Dennoch blieb diese Staatsgläubigkeit, so lange exekutive Stellungen weitgehend mit bürgerlich-konservativen oder liberalen Marionetten besetzt waren, pseudoaufständlerisch überformt. Sprüche wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ trafen bis 1980 noch auf Sympathien in „Sozikreisen“, denn in den Ämtern saßen da vielerorts nur wenige Linke, stattdessen eben noch Franz-Josef Strauß. Inzwischen ist für Sozis und Grüne ein Nazi, wer den Staat mit Vorliebe als Gurkensalat sieht.
Diese Gläubigkeit in den Kapitalstaat, den es zum Schein dann und wann zu domestizieren galt, und nicht die Freiheit war der Wesenskern der Sozialdemokratie, im Grunde deutlich mehr ― so würde ich retrospektiv nun sagen ― als auf marxistischer Seite, wo der Durchgang zum Anarchismus, wenngleich nicht weit offen stand, so doch deutlich breiter war. Bakunin und Marx liegen immer noch erheblich näher beieinander als Bakunin und ein SPD-Parteiprogramm. Und daran änderte die grün-identitär-multikulturelle und selbstredend vom Kapital implementierte Aufmischung der Sozialdemokratie nichts. Im Gegenteil, die mittlerweile unzählbaren Schutz- und Antidiskriminierungsmaßnahmen bis hinein in die Grammatik sind institutionelle Durchgriffe ohne jeden Freiheitsbegriff.
Auch unter diesem Aspekt erweist sich ein marxistischer Ansatz, sofern er nicht in stalinistischen Terror übergeht und stattdessen zu räterepublikanischen Projekten neigt, als weniger totalitär zumindest in dem Sinne, als im Marxismus nicht das ganze gesellschaftliche Sein und letztlich überhaupt die Existenz in Korrektheitsketten gelegt ist, sondern die Beschneidung der Freiheit durch das Primat der Klassen begründet und darauf beschränkt war oder wäre, gäbe es einen marxistischen Staat noch irgendwo. Ein Staat, soweit er sich von Marx herleitet ― in China gibt der Kapitalismus den Ton an ―, bemächtigt sich des Einzelnen zwar ebenfalls, jedoch, wie mir scheint, nicht so total und totalitär wie das sozialdemokratisch-grün-identitär-multikulturell optimierte und digital bis in die Gehirnströme der Insassen überwachte Political-Correctness-Großflächengefängnis.
Insofern dürften die wirklichen Verhältnisse umgekehrt sein: Die Abwendung der Sozialdemokratie und ihrer Geistesverwandten vom Marxismus war keine Bewegung weg von Diktatur und Totalitarismus, sondern ganz im Gegenteil und dem Wesen des Kapitals entsprechend eine dahin ― auch und gerade, wenn die Abwendung selbst als Show mit Jeans und Cola und schönen Autos daherkam.
Bürger als Partisanen: Lob des bürgerlichen Widerstands
Das undifferenzierte Zusammenschmeißen von marxistisch-bolschewistischen Linken mit West- beziehungsweise von der CIA instrumentalisierten „Culture-Freedom-Linken“ bei der Frage nach der „Schuld“ für das zivilisatorische Desaster ist ein Muster, das für die reaktionäre Kritik der Corona-Repression kennzeichnend ist, ein Muster, das es dieser Kritik erlaubt, den eigenen totalitären Kern, in einem fort und reichlich undifferenziert an „Andere“ auslagernd, bedeckt zu halten. Wie das im Einzelnen geht, versucht dieser Text in zwei Teilen aufzuzeigen.
Vorneweg sei aber uneingeschränkt zugunsten des bürgerlichen Widerstands gegen die Repression herausgestellt: Wie bürgerlich gesinnte Menschen, einige liberal, andere eher konservativ, viele auch politisch ziemlich inaktiv ― die Zustände waren ja lange so, wie sie sich es wünschten ―, kurz: Menschen, in deren Wahrnehmung die demokratische westliche Gesellschaft bis 2020 noch weitgehend funktionierte, angesichts der Corona-Repression ihre Reputation und ihre Karriere aufs Spiel setzten, um politischen Widerstand zu leisten, überraschte mich. Aus einem mitunter mehr oder weniger unkritischen und profitablen Gehen-mit-der-Zeit bildete sich bei nicht wenigen in Windeseile eine Partisanenmentalität heraus ― Bodo Schiffmann wäre hier Pars pro Toto zu nennen ―, die ich bis dahin historisch vornehmlich im linken Spektrum verortet hatte.
Zwar griffen die Coronamaßnahmen konkret in „Freiheiten“ ein, die an die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Menschen gekoppelt waren, wie etwa das Reisen. Aber ihr Widerstand speiste sich, wenn überhaupt, nur marginal durch derlei konkret-materielle Betroffenheit. So zumindest meine Beobachtung. Vielmehr war es der ihnen durch den Coronadurchgriff bewusst werdende grundsätzliche Verlust an Autonomie und Würde des Menschen ― bei vielen „Dissidenten“ christlich oder anderweitig von einem immateriellen, geistigen Ideal geprägt ―, was sie zu Störungen der Megamaschine werden ließ.
Mögen einige wenige auch von Spenden profitiert, den Widerstand zu einem profitablen Business umgeformt und eine erfolgreiche Dissidenzkarriere gestartet haben, so bedeutete der Widerstand für die meisten Exponenten eine beträchtliche finanzielle Einbuße beziehungsweise materielle Einschnitte in ihr bisheriges Leben, bis hin zum Zwang, das Land zu verlassen.
Solch kompromissloses und gänzlich nicht-opportunistisches Kämpfertum habe ich in linken Kreisen in sehr viel geringerem Ausmaß angetroffen. Das soll nicht eins zu eins auf Weltbilder und Ideologien übertragen sein. Unabhängig voneinander sind die beiden Größen aber nicht zu denken. Allein deshalb gilt es, die Wertschätzung für den bürgerlichen Widerstand vorneweg herauszustellen, und zwar selbst dann, wenn Weltbilder und Ideologien drinhängen, deren reaktionäre Seite ich im Folgenden beleuchte. Allein weil ein Noam Chomsky sich monströs-militant über Nichtgeimpfte geäußert hat, allein deshalb verlieren seine Analysen bezüglich der hegemonial-imperialistischen Ausrichtung der US-Politik ihre Bedeutung nicht. Und das gilt ― ideologisch von einem entgegengesetzten Standpunkt aus startend ― auch für eine Kritik am Coronadurchgriff, die in Teilen als reaktionär ausgewiesen wird.
Konservativ-liberale Kritik
Es gab und gibt ― ich verweise hier wiederum holzschnittartig darauf ― eine Kritik am Coronadurchgriff aus konservativ-bürgerlichem Umfeld, die kapitalismuskritisch geworden ist, indem sie im Laufe des Coronadurchgriffs erkannt hat, bestimmt begünstigt durch die spürbare Liquidation des Mittelstandes, dass dieser Kapitalismus seinem Wesen nach totalitär und dass es der Kapitalismus selbst ist, der die Repression bis ins persönliche Umfeld und ins Allerinnerste hineinträgt und nicht der als Verzierung vom Weltwirtschaftsforum (WEF) auf die Verpackung geklebte „Ich-besitze-nichts-und-bin-glücklich“-Sozialismus-Flyer. Diese erkennende bürgerliche Kritik hat begonnen, einen anderen freien Markt zu denken, losgelöst vom Kapital. Geblieben ist ihr überwiegend eine aus meiner Sicht zu naive Sicht auf Technologie, deren wesensmäßige Verschränkung mit dem Kapital weiterhin nicht oder zu wenig bedacht wird. Allerdings scheint mir das kein genuines Problem einer bürgerlich-konservativen Weltsicht, vielmehr ist die erkenntnistheoretische Naivität („Technologie ist neutral, es kommt drauf an, was man daraus macht“) weitgehend an jede materialistische Konzeption gebunden, so auch an die marxistische.
Insgesamt aber war und ist da eine Kritik aus bürgerlich-liberal-konservativem Umfeld zu konstatieren, die in der Durchführung als analytisch und vom Weltbild her als freiheitlich einzustufen ist, mit besonderem Fokus auf die Mentalität des Gehorsams, die gehäuft in Deutschland und daselbst in linksgrünen Kreisen auftritt. Sie deckt sich in ihrer Grundausrichtung mit Kritik, die sich noch immer emanzipativen Idealen und Bewegungen des 20. Jahrhunderts verpflichtet sieht.
Die reaktionäre Kritik
Dagegen aber ― nun bin ich beim Kernthema angelangt, es dauert, zugegeben, ein bisschen ― war und ist eine Tendenz auszumachen, den Coronadurchgriff und seine ihm eingeschriebene Totalität mit Mustern zu „erklären“, die sozusagen auf einer Metaebene deutlich Parallelen zu dem aufweisen, was sie erklären wollen: totalitäre Strukturen und ein unreflektiertes Verhältnis zur Macht.
Die Muster, die ich für diese reaktionäre Kritik (nicht nur die Kritik ist reaktionär, das Weltbild, auf dem sie fußt, ist es) als kennzeichnend einstufe, werde ich nachfolgend ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizzieren. Es sind sowohl Muster auf der Ebene des Argumentierens, also methodische Muster, als auch ideologische Muster, teilweise überlappen sie sich. Allerdings stelle ich damit nicht in Abrede, dass auch eine von mir als reaktionär herausgestellte Kritik Erkenntnisse beinhaltet, die wesentlich sind. Gerade für mein Vorhaben einer anderen, nicht diffamierenden Debatte ist es deshalb entscheidend, dass diese Kritik, auch wenn sie totalitäre Muster im Vorgehen oder in ihrer ideologischen Anlage enthält, Teil des kritischen Diskurses und damit der Debatte bleibt.
Bevor ich mich anschicke, Muster des Reaktionären zu skizzieren, wenige Worte zum Begriff selbst, der ja seinerseits eine Schublade eröffnet. Schubladisierungen ― ich habe darauf bereits in Menschliches, Allzumenschliches verwiesen ― sind mit anthropologischen Konstanten verhängt, haben einen denkfeindlichen Effekt und sind im Grunde Ausdruck eines totalitären Machtstrebens. Eine Präferenz für Schubladen ist mit dem Bedürfnis verhängt, den anderen, den fremden Gedanken, das Nichteigene zu domestizieren, sich anzueignen und als Fremdes und Bedrohliches stillzulegen. Nach meinem Verständnis ist genau das eine reaktionäre Eigenschaft, und zwar insofern, als dadurch der begrifflichen (und damit auch politischen) Kontrolle das Primat gegenüber der freien (Begriffs-)Entfaltung zukommt.
Political Correctness ist zweifelsohne ein ultimativ reaktionärer Auswuchs eines solchen Kontrollbestrebens, paradigmatisch etwa in der Streichung von Wörtern aus Texten Astrid Lindgrens vollzogen.
Das dort gestrichene Wort „Neger“, zum Beispiel, und alle damit verbundenen Denkbewegungen könnten ― im Rahmen augenblicklich nicht vorauszusehender Prozesse ― nämlich die herrschende Moral aus den Angeln heben und vielleicht gar „echte“, unabhängige, emanzipierte Menschen aus Ghana oder Mali oder Tansania anstatt konzerngeschliffenem Personal in Entscheidungspositionen hieven.
Allerdings ― und dies anzuzeigen, darum geht es mir ― setzt sich dieser, mein Text durch den Gebrauch der Schublade „reaktionär“ der Gefahr aus, selbst reaktionär zu sein und konkret Denkmuster und Erkenntnisse, die mein Weltbild stören, mit einem Schubladenbegriff zu sedieren. Was ich dieser Gefahr und einem möglichen und verständlichen Vorwurf entgegensetzen kann, ist das Bemühen, die Muster, die ich als „reaktionär“ bezeichne, anschaulich vorzuführen und zu begründen, weshalb ich sie als reaktionäre Muster herausstelle. Dabei spielen andere, ebenso angreifbare Begriffe exakt für diese Musterung, damit sie kommunikativ fair bleibt, eine wesentliche Rolle. In diesem Fall ganz bestimmt der Begriff des Emanzipativen, den ich mit autonomen Entscheidungen unabhängig von hierarchischen Strukturen in Verbindung setze. Es ist exakt diese sprachliche Arbeit im Vollzug ― deshalb können meine argumentativen Texte selten kurz sein ... ―, in die Einsicht gegeben sein muss und die sich durch diese Einsicht der Kritik öffnet.
Dadurch ist die mit der begrifflichen Schubladisierung „reaktionär“ einhergehende totalitäre Gefahr zwar nicht gänzlich gebannt, aber deutlich gehemmt. Auch insofern gehemmt, als die Einladung, die Debatte weiterzuführen, mit gesetzt ist. Mein inhaltliches Verständnis von dem, was ich „reaktionär“ nenne, wird sodann mit der Zeichnung der Muster deutlich. Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf eine starre Vor-Definition und streiche bloß nochmals als Orientierung heraus, dass im Rahmen eines reaktionären Weltbildes, wie ich es verstehe, der Ordnung und damit der Hierarchie und damit auch Fixierungen und Festgefügtem das Primat gegenüber autonomen Prozessen zukommt. Ausdrücklich nicht gemeint ist eine Rückorientierung an sich. Die Frühromantik etwa war rückorientiert und progressiv zugleich. Ein Bezug auf die Vergangenheit muss keineswegs reaktionär sein.
Methodische Muster des Reaktionären
- Festzustellen ist eine Präferenz für einfache Kausalitäten beziehungsweise Kausalketten, zuweilen nahe an monokausalen Mustern. Dem Schema nach etwa so: Die und die haben das und das geplant und entschieden, haben jene und diese dafür instrumentalisiert und ergo ist es so und so gekommen. Vielschichtigkeit bezüglich Motivation, Intentionalität und Zielsetzung bei Handlungen und Entscheidungen, Rückkoppelungsprozesse und generell ein Verständnis von Gesellschaft als komplexem Geflecht sind zurückgedrängt. Widersprüche, welche einfache Kausalketten infrage stellen, ebenso. Als Submuster dazu fungiert der Mechanismus, alles, was offensichtlich den postulierten Kausalketten zuwiderläuft, entweder auszublenden oder als Maskierung oder Tarnung zu entwerten. In diesem Sinne wird ― ich führe das als Beispiel an ― Noam Chomskys fundamentale Kritik der US-Geopolitik als Schein eingestuft. Und zwar, weil er ― motiviert durch seine Aussage über Ungeimpfte, aber mehr noch durch seine Einstufung aus Sicht dieser Kritik als „Linker“ generell und spezifisch als Establishment-Linker der US-amerikanischen Ostküste ― Teil der einfachen Kausalkette hin zur Global Governance ist. Damit das „haltbar“ bleibt, muss, was nicht passt, umgedeutet werden. Und dafür taugen dann Muster wie „Maskierung“ bis hin zu „Agent der Macht“.
- Geistige, geisteswissenschaftliche, kulturelle, aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse werden zuweilen kochbuchartig auf politische Prozesse umgelegt, als wären sie als solche konzipiert worden, und entsprechende direkte Verantwortlichkeiten ausgemacht. So werden Philosophen dafür, wie ihre Ideen aufgegriffen und (angeblich) in politische Entscheidungen überführt werden, auf der politischen Ebene (und häufig moralisch und ad personam ― dazu später) verantwortlich gemacht. Aussagen von Bertrand Russell beispielsweise, aber auch analytische Beschreibungen von Michel Foucault werden in diesem Sinne als Etappen zum Desaster angeführt, als hätten diese Philosophen bewusst auf eine konkrete politische Umsetzung ihrer „Philosophien“ und erst noch in concreto auf eine totalitäre Global Governance hin gedacht (dabei de-konstruieren viele Foucault-Arbeiten Macht in der Tat und machen sie dadurch dem Bewusstsein erst zugänglich).
- Verknüpfungen und Bezüge werden überwiegend personalisiert. Zwischen Personen und Kulturgütern wie Texten, Ideologien, Philosophien, Geisthaltungen wird nicht unterschieden, mehr noch: Persönliches Handeln wird primär gesetzt, die Kulturgüter werden sodann im Lichte dieses Handelns begriffen. Beispiel: Wenn ein Philosoph eine Stellung im Umfeld der CIA annimmt, dann handelt es sich, so der Schluss, bei seinen philosophischen Konzepten um „CIA-Konzepte“. Erkenntnis qua Erkenntnis, losgelöst von ihren Trägern, bleibt außen vor.
- Verkürzung von Argumenten beziehungsweise Ausblenden von Aspekten, welche die einfache Kausalkette (siehe oben) stören. Das zeigt sich vor allem bei der Auswahl von Zitaten. Diese werden oft ohne Kontext und zeitgeschichtlicher Einbettung ausgewählt und benutzt.
Als strategisches Ziel ist diesen Mustern das Bestreben gemeinsam, eine schnelle, klare Antwort auf die Frage „Wer ist schuld?“ zu geben. Klartext: Das ist die didaktisch angepeilte Mission, die unter den gegebenen politischen Endzeitbedingungen zwar durchaus verständlich ist, aber die gelieferten Antworten nicht präziser macht.
Ideologische Muster des Reaktionären
- Positionen (Aussagen, Zitate, Thesen, Zielformulierungen, philosophische Konzepte), auf der Kausallinie in zum Desaster angesiedelt, werden fast ausschließlich retrospektiv gedeutet. Konkret: Vom Jetztzustand aus und bedroht von einer global-digitalen Dystopie wird nach Etappen, die zu dieser Dystopie geführt haben, gesucht. Das ist erkenntnistheoretisch grundsätzlich eine schwierige Situation, nicht nur für die Kritik, die ich reaktionär nenne, bei ihr freilich insofern zusätzlich erschwert, als die zeitgeschichtliche Einbettung von Motivation, Intention, Zielsetzung bezüglich politischer Konzepte und Entscheidungen, die aus dem Jetzt heraus als Etappen hin zum Totalitarismus gelesen werden, außen vor bleibt. Der Wille, Schuld zu generieren (dazu gleich mehr), schiebt textuelle und historische Sorgsamkeit beiseite. So ist nicht ― wie von der reaktionären Kritik unterstellt ― jede Stellungnahme, die scheinbar eugenische Konzepte befürwortet, zeitgeschichtlich als herbeigewünschte totalitäre Engführung und dienstleistungskettenmäßige Optimierung der Menschheit zu verstehen. Oft sind es humanitäre Bestrebungen, das menschliche Leid zu minimieren * und das Spannungsfeld von technologischer Leidminimierung und technologischer Totalsteuerung ist ja wahrlich bis jetzt gegeben, die philosophischen und ethischen Fragen dazu ungelöst ―, was dazu führt, an genetischen Dingen „herumzuschrauben“ beziehungsweise solche Versuche gutzuheißen. Die reaktionäre Kritik, die ich hier skizziere, geht diesbezüglich zwecks Schuldgenerierung ohne Differenzierung vor (übrigens in Ausblendung ihrer eigenen Technologiegläubigkeit). Auch Stellungnahmen gegen Nationalismus und Nationalstaaten werden aus dem Jetzt heraus und unter Ausblendung zeitgeschichtlicher Umstände, in deren Rahmen Nationalstaat, Militarismus und Despotismus vor allem für die Arbeiterklasse oft Hand in Hand gingen, als gezielte Vorbereitung auf eine Gobal Governance gedeutet.
- Die reaktionäre Kritik ist in erster Linie als Schuldzuweisung konzipiert. Strukturelle Betrachtungen wie etwa institutionelle Gewalt und klassenspezifische Wirklichkeiten bleiben marginal. Es geht um Schuld und nicht um Erklärung ― was naturgemäß das ganze Vorhaben personalisiert und das wiederum spielt der Macht in die Hand: Gesichter sind schnell ausgewechselt. In Verbindung mit dieser Schuld-vor-Erkenntnis-Ausrichtung steht die Generierung von „Anderen“, die schuld sind. Überaus häufig sind diese „Anderen“ Sozialisten, Marxisten oder Bolschewisten beziehungsweise all jene, die man glaubt, in solche Schubladen einteilen zu können. Dabei wird die historisch und ideologisch fundamentale Trennung zwischen Marxismus und Westlinken übergangen. Das ist insofern in sich stimmig, als die reaktionäre Kritik selbst im Kapitalismus und damit der Macht, welche den global-digitalen Überwachungsstaat antreibt, verankert ist. Aus dieser Verankerung heraus und um selbst nicht auf die Schuldlinie zu geraten, bleibt die Westlinke nach 1945, so etwa Denkmuster und politische Ausrichtungen im Umfeld der sogenannten Frankfurter Schule, im Urteil der reaktionären Kritik durchgehend bolschewistisch, obgleich sich diese Westlinke oder „Cultural-Freedom-Linke“ explizit und geradezu glühend dem Kapital verpflichtet hat. Notwendig, wie schon angedeutet, ist diese Groteske für die in der reaktionären Kritik betriebene Verdrängung des Kapitals als Antreiber des totalitären Coronadurchgriffs. Insofern fließen die Muster „Schuldzuweisung“, „Täter stets die Anderen“ und „ausbleibende Selbstkritik“ ineinander. Wäre die Selbstkritik nicht ausgeschaltet, müsste erkannt werden, dass eine Kritik, im Kapitalismus verankert, wesentlich Bestandteil des Problems ist und nicht dessen Lösung.
- Die Kritik ist als Moral angelegt. Das ergibt sich aus dem vorangehend, etwas ausführlicher skizzierten Muster. Speziell füge ich es dennoch an, um zu verdeutlichen, dass reaktionäre Kritik stark auf Empörung ausgerichtet ist. Das Fundament, worauf diese Empörung gedeihen kann, wird zwar benannt, aber unkritisch im Sinne ewiger Wahrheiten gesetzt. Traditionell sind das kleinbürgerliche Werte wie Familie, Nation und Prüderie. Letztere nicht als solche ausgeschrieben, sondern implizit gefasst über negative Abweichungen hauptsächlich sexueller Art in Verbindung mit „dekadenten“ und „ent-arteten“ Erscheinungen ― auch in der Kunst, wozu nahezu alles zählt, was aus einem kleinbürgerlichen Verständnis von „Klassik“ fällt, namentlich abstrakte Malerei und atonale Tonkunst. Dass bestimmte Kunstrichtungen mit einer Ent-sinnlichung einhergehen und dies wiederum in Verbindung mit der Digitalisierung gesehen werden kann: Eine solche Debatte ist zu führen. Unter dem Aspekt von Moral, Schuld und einfachen kausalen Ketten verdreht sie sich allerdings ins Erkenntnislose.
- Die reaktionäre Kritik ist nicht nur schuld- und moralfixiert, sie orientiert sich ebenso an fixen Wahrheiten. In diesem Sinne bedient sie religiöse oder ersatzreligiöse Bedürfnisse und ist weniger Teil einer Aufklärung denn Mythologie oder Religion selbst. Das von ihr mit Platon verknüpfte Wahrheitsideal ist gesellschaftlich weitgehend elitär ausgerichtet, das Verhältnis von Kunst und Macht wird als eine naturgegebene Symbiose verstanden, die in der Renaissance beispielhaft zum Ausdruck kommt. Diese Symbiose stellt den Kern des Reaktionären dar. Dieser „Wahrheitstotalitarismus“, welcher der angeblichen postmodernen Beliebigkeit (an Foucaults Panoptismus qua Analyse eines totalitären Überwachungssystems ist indes nichts beliebig) entgegengestellt wird, setzt unkritisch Größen voraus, die exakt für den globaldigitalen Coronadurchgriff verantwortlich zeichnen: exekutive Macht, Kapital.
- Verbunden mit Wahrheits- und Moralfixierung ist die Mainstreamausrichtung der reaktionären Kritik zu nennen. Zwar scheint die reaktionäre Kritik gerade gegen den heutigen Mainstream gerichtet zu sein (der als dekadent und entartet bestimmt wird), aber nicht grundsätzlich gegen Mainstream. So wird ein „richtiger“ Mainstream (mit der „richtigen“ Wahrheit und der „richtigen“ Moral) als gesellschaftliches Grundmuster gesetzt, aus dem es nicht herauszufallen gilt. „Richtig“ ― im Sinne der reaktionären Kritik ― war dieser Mainstream, solange die kleinbürgerlich-klassischen Werte galten ― also ganz bestimmt noch im 19. Jahrhundert. Ein Ab-fallen aus jenem Mainstream, etwa in Form alternativer Kommunen mit anarchistischer oder zivilisations- und technikkritischer Ausrichtung der Jahrhundertwende, wird als Etappe hin zum Totalitarismus und also zur heutigen Technokratur gedeutet. Kurz: Solange die reaktionäre Kritik den Mainstream als im Übereinklang mit von Platon hergeleiteten Wahrheiten begreift, solange ist die reaktionäre Kritik ein Mainstreamprojekt und alles aus diesem Ab-fallende wird moralisch schuldhaft konnotiert. Darin kommt ― ein wichtiges Merkmal dieses Musters ― ein erstarrtes Weltbild zum Ausdruck, im Rahmen dessen Bewegung und Erneuerung an sich als Bedrohung und Dekadenz eingelesen werden.
- Sozusagen als konkrete Ausprägung des Wahrheitstotalitarismus fungiert ein ausgeprägter Euro- und Anthropozentrismus als unreflektiertes Fundament, überwiegend geknüpft an das Primat einer christlich-abendländischen oder auch einer jüdisch-christlichen Kultur. Damit ist kulturell gesehen dieser Kritik eine imperialistisch-hegemoniale Note mit eingeschrieben, die jedem Exzeptionalismus eigen ist. Anthropozentrismus allerdings ist bei Weitem nicht nur bei reaktionärer Kritik eingelagert, er ist vielmehr weit verbreitet bei dem, was ich als Dissens in diesen Tagen erkennen kann, und kommt auch in emanzipativen Kritikansätzen zum Ausdruck, und zwar, wie mir scheint, aus einer mitunter problematischen Verschränkung heraus: Weil die globale Überwachungsdystopie ― hierfür gibt es reichlich Indizien, wenn nicht gar Belege ― sich dadurch auszeichnet, dass wenige Eliten dabei sind, mehr als 99 Prozent der Menschen zu steuern und, wie es scheint, einen Teil dieser Menschheit, so es dem Erhalt der Macht dient, auch zu liquidieren, wird sozusagen als Gegengeste ein Lob auf die Menschheit gesungen und jeder Gedanke daran, diese zu begrenzen ― zum Beispiel in Anbetracht der Tatsache, dass die Erde endlich ist und dass es andere Lebewesen gibt, die gezwungenermaßen verschwinden, wenn der Ausbreitung des Menschen nicht Einhalt geboten wird; aber auch in Anbetracht der Tatsache, dass die schiere Menge an Menschen mit ein Grund für eine allumfassende Überwachung ist, mindestens aber für akribische Regelungen des Sozialen sein könnte ―, wird als Stellungnahme für die Eliten eingelesen. Wie gesagt, Anthropozentrismus ist in der reaktionären Kritik enthalten, aber bei Weitem kein Alleinstellungsmerkmal, Eurozentrismus dagegen deutlich mehr.
- Sofern die von der reaktionären Kritik als Wahrheit angenommenen Prämissen gesetzt sind und die Macht (die Mächtigen, die Eliten) für diese garantieren, herrscht ein machtaffines Denken vor ― zum Ausdruck kommend etwa in der Bewunderung für die Renaissance und deren enge Verquickung von Macht und Kunst. Von diesem Muster ausgehend überrascht es nicht, dass die reaktionäre Kritik in Gesellschaftsformen, die darauf bedacht waren, Hierarchien abzubauen und Macht breitflächiger zu verteilen, wie das etwa bei Räterepublikprojekten der Fall war, als Etappen hin zum heutigen zivilisatorischen Super-GAU einstuft.
- Die reaktionäre Kritik fußt auf einer in sich widersprüchlichen Technologiegläubigkeit. In technoskeptischen und zivilisationskritischen Bewegungen der Jahrhundertwende, aber auch innerhalb der 68er- und der Anti-Atomkraft-Bewegungen sieht sie Wegbereiter für die digitale Technokratur von WEF und Konsorten. Nun gibt es viele Punkte, die bei diesen Bewegungen und Gruppierungen allenfalls kritisch zu beleuchten wären, bloß: In einem technikskeptischen Ansatz einen Wegbereiter für eine Technokratur zu erkennen, sagt weniger über diesen Ansatz aus als über die Sicht und die mit dieser verhängten Ideologie, die solches postuliert. In dieser paradoxen Figur spiegelt sich nämlich das grundsätzliche Paradoxon der reaktionären Kritik selbst, die darin besteht, einerseits ewige Werte zu propagieren und die Abweichung davon moralisch zu tadeln, auch im Sinne einer sozialen Steuerung, welche Hierarchien und Herrschaften aufrechterhält, und andererseits sich dem technischen Fortschritt qua Errungenschaft der Zivilisation zu verschreiben ― natürlich vorgeblich zum Wohle der Menschheit, vor allem jener, die das Geld haben, sich diese Errungenschaften leisten zu können.
- Der reaktionären Kritik ist eine Präferenz für Kitsch eigen. Das ergibt sich ebenso aus dem Paradoxon, sozial, gesellschaftlich und moralisch auf Bewahrung und Tradition zu setzen, technologisch, wissenschaftlich und wirtschaftlich ― da ideologisch im Kapitalismus verankert ― hingegen auf Fortschritt und Optimierung. Die durch diesen „Fortschritt“ verursachten Schädigungen von Natur, Umwelt, aber auch Gesellschaft und Psyche werden kompensiert mit Traditionsinszenierungen, mit heilen, von gesellschaftlichen und psychologischen Wirklichkeiten abgetrennten Bildern von Familie, Nation und Vaterland, mit Bildern unberührter heiler Natur und reiner, engelhafter und selbstredend asexueller Kindlichkeit. Die hierbei zum Ausdruck kommende Vorliebe für das Einfache bis hin zum Armen hat mit einem Bewusstsein für strukturelle soziale Ungerechtigkeiten oder gar mit einem Klassenbewusstsein nichts zu tun, sondern ist vielmehr Teil einer Maßnahme, um die mit der reaktionären Ideologie einhergehende Schizophrenie durch Kitsch in Feierabendkunst und -kultur ― schöne Konzerte, berührende Dramen, tolle Ausstellungen ― zu übertünchen und dadurch die Sehnsucht nach Beständigkeit, Harmonie und ewiger Wahrheit zu stillen. Exakt in diesem Zusammenhang bin ich gar nicht so selten auf Konzepte wie Nation, Nationalstaat, Familie, aber mindestens implizit auch auf das reine, asexuelle, unschuldige Kind qua Argument im kritischen Coronadiskurs gestoßen, und zwar als dem technoglobal-digitalen Überwachungsstaat und seinem gesellschaftlichen Ideal des Genderismus entgegengestellte Konzepte.
- Als Submuster herauszustellen ist zuletzt der schizophrene Bezug auf Hitlerdeutschland beziehungsweise den Nationalsozialismus. Einerseits fokussiert die reaktionäre Kritik gerne auf biografische Verbindungen von Personen, die sie auf der Kausalkette zum zivilisatorischen Desaster führt, mit Personen, die biografisch mit dem Nationalsozialismus verbunden sind, um über diesen Bezug ad personam gedankliche beziehungsweise weltanschauliche Konzepte negativ zu „framen“ und eben „Schuld“ herauszustellen. In diesem Sinne fokussiert die Kritik auf Westlinke, beispielsweise auf Leute aus dem Umfeld der Frankfurter Schule, die sie einerseits vom Bolschewismus nicht abtrennt und andererseits über biografische Ereignisse in die Nähe des Nationalsozialismus rückt. Martin Heidegger fungiert dabei oft als Schaltstelle, über ihn werden ad personam Leute wie Herbert Marcuse als sein Schüler oder Hannah Arendt als seine Geliebte „gestempelt“ und damit deren geistesgeschichtlichen Beiträge moralisch „geframt“ und in Nazinähe gerückt. Bei diesem strategischen Gebrauch ist das Nazitum selbstredend negativ besetzt. Eine dazu tendenziell entgegengesetzte Wertung kommt allerdings zum Ausdruck, wenn die deutsche Schuld angesichts ausländischer Finanzierungen Hitlers, aber auch angesichts der strategischen „Benutzung“ des Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg eine moralische Relativierung erfährt. Dass auf allenfalls überzeichnete Todeszahlen der Hitleropfer referiert wird und ― in Verbindung damit ― darauf, dass die Konzentrationslager zur Hauptsache Arbeitslager gewesen seien, nicht Vernichtungslager, gehört mit zu diesem Relativierungskomplex. Das wiederum geht zusammen mit Tendenzen, das deutsche Volk beziehungsweise die Bevölkerung von den Verbrechen Hitlers moralisch abzutrennen und sie vielmehr selber als Opfer Hitlers darzustellen.
(Nebenbemerkung 1: Es ist auch beim Coronadurchgriff möglich, diejenigen, die da mitmachen, als Opfer der Propaganda einzustufen.) Diese Relativierung korreliert ihrerseits mit einer Darstellung Deutschlands ab circa 1870, verstärkt aber im Umfeld der beiden Weltkriege als Opfer geopolitischer Konstellationen (Nebenbemerkung 2: Auch heute ist es natürlich möglich, Deutschland als Opfer der US-Hegemonie und deren Terrorakte zu zeichnen ― die Opfer-Täter-Dialektik ist als solche immer komplex.).
Nun werden solche Positionen mindestens in Teilen auch von einer Geschichtsschreibung gestützt, die keineswegs reaktionär ist. Was aber die reaktionäre Kritik dabei kennzeichnet, ist der strategische Gebrauch solcher Argumente mit dem Ziel, die deutsche „Schuld“ zu relativieren, auch die Nazischuld. Diese Zielsetzung entspricht selbstredend grundsätzlich der oben skizzierten Moralausrichtung und wird zusätzlich dadurch problematisch (oder eben reaktionär) aufgeladen, wenn ― wie dies bei der reaktionären Kritik der Fall ist ― der Faschismus als solcher beziehungsweise die Bestandteile seiner Ideologie keiner strukturellen Reflexion unterzogen werden.
Auch wenn der Zwangsarbeitsanteil in den deutschen KZs höher als der Vernichtungsanteil gewesen sein sollte, ist diese Gegenüberstellung angesichts dessen, wie der deutsche Faschismus Lebensgeschichten zerstört hat, markant zynisch, auch wenn ausländische Geldgeber Hitler wesentlich finanziert haben, auch wenn bestimmte Kreise den Holocaust für ihre Zwecke instrumentalisiert haben (und es weiterhin tun), auch wenn Deutschland geopolitisch, sei es von den USA, sei es von Großbritannien, benutzt und vor allem gegen Russland in Stellung gebracht worden ist (und wird), so ändert dies an der Ungeheuerlichkeit des Nazifaschismus (und jedes Nachfolgefaschismus) nicht das Geringste, und auch nichts an der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen, der mit „Heil Hitler“ gegrüßt hat. Ein solches Bewusstsein fehlt, wie mir scheint, in der reaktionären Kritik gänzlich.
Emanzipation auf dem Scheiterhaufen
Den meisten Mustern ist das strategische Ziel eigen, die Etappen hin zum Desaster durch „Andere“ zu belegen. Was dazu im Widerspruch steht, was stört, wird ausgesondert. Im Rahmen dieser Zielsetzung wird Klartext angestrebt und wo Klartext das Ziel ist, sind personalisierte Konzepte nicht fern. Der Begriff Klartext ist, wie mich dünkt, im Widerstand allgemein positiv konnotiert. Er wird als Gegenkonzept zur Machtverschleierung begriffen. Das allerdings ist in der Tat eine Verkürzung der Verhältnisse.
Das Weglassen von Argumenten und Fakten, welche die eigene Sicht und Ideologie stören, ist eine Strategie der Macht selbst und also der Machtverschleierung. Was ARD und ZDF bezüglich Corona-Berichterstattung (schon der Begriff an sich ist ein Hohn) nicht vorgeworfen werden kann: Sie hätten nicht Klartext gesprochen. Sie haben unentwegt Klartext gesprochen. Die Wodargs und Bhakdis, von den Urteilen dieser Klartexte überzogen, können Lieder davon singen.
Als weiteres übergeordnetes Moment, das mir in diesen Mustern angelegt scheint, ist die deutliche Tendenz, spezifisch emanzipatorische Leistungen ― solche, die Strukturen von Totalitarismus herausgestellt haben wie etwa Machtanalysen einer Hannah Arendt oder eines Michel Foucault; weiter auch emanzipatorische Bewegungen insgesamt wie etwa den Feminismus und verschiedene zivilisationskritische Lebensentwürfe ― zu Etappen auf dem Weg zum Totalitarismus zu verklären.
Nicht das Bürgerliche oder Kleinbürgerliche, vielmehr das Emanzipative hat aus reaktionärer Sicht den Gau heraufbeschworen. Das scheint mir nicht so viel weiter von einer Geschichtsklitterung entfernt zu liegen, als die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus und spezifisch von Auschwitz als US-amerikanische Leistung auszugeben. Dass emanzipative Ansätze usurpiert und instrumentalisiert worden sind ― darin ist der Kapitalismus Meister ― und dass Autoren emanzipativer Ideen dies zuweilen nicht erkannt haben und sich zuweilen auch gerne instrumentalisieren ließen, ändert am emanzipativen Gehalt einer Idee oder eines Gedankenkonzepts nichts. Wer diese Ideen mit oder wegen ihren Trägern opfert, ebnet dem Totalitarismus und der weltweiten Repression den Weg.
In Folge 2 werde ich zuerst kurz auf die vor der Coronazeit formulierte Kritik des US-amerikanischen Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlers Guido Giacomo Preparata am Neoliberalismus und dessen Totalitarismus als Beispiel einer in vielerlei Hinsicht sehr gescheiten, indes mit reaktionären Versatzstücken versehenen Kritik blenden. Im Zentrum steht aber als Modell einer reaktionären Kritik ein Text des sogenannten Schiller-Instituts. Dass ich Elemente aus dieser Kritik auch in sehr klugen Artikeln angetroffen habe, möchte ich nicht verschweigen, auch nicht, dass ich es nicht ausschließe, dass in meiner eigenen Coronakritik reaktionäre Elemente, wie ich sie ausgeführt habe, (unbedacht) mit dabei sind. Deshalb kann ich nur wiederholen: Diese meine Kritik an reaktionären Mustern der Kritik zielt nicht auf Diskursausschluss oder Debattenverengung. Ich plädiere im Gegenteil dafür, solche Muster in der Debatte zu halten. Denn: Sehnen sich nicht alle Menschen nach ewigen Wahrheiten?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“, Berlin/Wien 2003.
(2) In der Folge 2 werde ich den Bezug auf einzelne Autoren anhand einer mir exemplarischen scheinenden Kritik aufzeigen.
(3) Der Kongress für kulturelle Freiheit (Congress for Cultural Freedom) war eine Organisation beziehungsweise ein antikommunistisches Unternehmen linksliberaler Intellektueller hauptsächlich in Westeuropa, gegründet 1950 in Westberlin, eine Organisation, die sich dem Verständnis ihrer Mitglieder nach gegen die kommunistische Ideologie und die mit dieser verhängten Kunst und Kultur richtete. Der Kongress finanzierte namhafte europäische Intellektuelle, so auch die deutschen Schriftsteller Heinrich Böll und Siegfried Lenz. Konzipiert, gegründet und finanziert wurde er durch die CIA, was aber viele aus dem Umkreis des Kongresses nicht wussten. Der Kongress, als CIA-Einrichtung, welche die gesamte westeuropäische Linke wesentlich prägte und formte, richtete sich nicht nur gegen den Feind im Osten, also die Sowjetunion, sondern auch gegen Kritiker der USA wie Jean-Paul Sartre, Pablo Neruda oder Thomas Mann, also mitunter auch gegen Nichtkommunisten, die sich der US-PR verweigerten. Bemerkenswert ist, dass es heute, obgleich die führende Rolle der CIA bekannt und tatsächlich unbestritten ist, sich noch immer „Intellektuelle“ in Europa finden, welche von einer echten Freiheitsbewegung ausgehen.