Reaktanz und „Rechtsruck“
Tausendfacher Wolfsgruß bei der Europameisterschaft: Den Rechtsruck, von dem die Politik dauernd spricht, fabriziert sie selbst.
Dienstag, 2. Juli 2024, Tatort Leipzig: In der 59. Minute des Achtelfinalspiels Türkei gegen Österreich erzielt der Spieler Merih Demiral das zwischenzeitliche 2:0 für seine Mannschaft — der Türke läuft über den Platz, reckt seine Arme in die Höhe und zeigt den Wolfsgruß. Dabei legt man den Ring- und Mittelfinger auf den Daumen und spreizt Zeigefinger und kleinen Finger nach oben ab. Symbolisch sieht das auch aus wie ein Wolf — oder wie ein Fuchs, weswegen in Deutschland viele Grundschullehrer im Unterricht den sogenannten Schweigefuchs anzeigen, wenn sie ihre Klasse zur Ruhe auffordern möchten. Der Wolfsgruß gilt als Symbol der Grauen Wölfe. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss türkischer Rechtsextremer. Die Grauen Wölfe werden in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie sind aber hierzulande nicht verboten, auch der Wolfsgruß nicht. Die Empörung danach war dennoch groß. Insbesondere die Bundesinnenministerin war wieder ganz in ihrem Element, sie forderte die UEFA prompt zum Handeln auf. Das tat die UEFA dann auch: Sie sperrte Demiral für zwei Spiele. Ein Gummiparagraf macht es möglich. Der spricht vom guten Benehmen auf dem Platz — was das dann ist, entscheidet die UEFA nach Tagesform.
Hysterie und Willkür
Sucht man den Zusammenschnitt der Partie bei der ARD, ist von dem Gruß nichts mehr zu sehen. Man merkt aber, dass an der Szene herumgeschnitten wurde. Statt jubelnder Kicker wird man euphorisierter Zuschauer ansichtig, dann eine Wiederholung, und schon geht es weiter. Das Land versank für einen Augenblick wieder in Hysterie, ganz so, wie man es seit geraumer Zeit kennt. So mahnte der Lehrerverband an, dass Kollegen auf die Ähnlichkeit zwischen Wolfsgruß und dem oben schon genannten Schweigefuchs aufmerksam gemacht werden müssten — außerdem sollten jetzt Eltern mit ihren Kindern sprechen.
Offenbar gilt es in diesem hochgradig symbolpolitisierten Deutschland als ratsam, kleine Kinder in Deutschland über eine extremistische Vereinigung in der Türkei aufzuklären — noch bevor sie richtig schreiben, lesen und rechnen können.
Zuweilen erklärt sich von alleine, weswegen Kinder aus deutschen Schulen so miserabel bei der PISA-Studie abschneiden: Antifaschismus wird bei dieser Erhebung nämlich nie abgefragt.
Vier Tage nach dem Achtelfinalspiel trafen die Türken auf die Niederlande. Das Spiel fand im Berliner Olympiastadion statt. Ohne den gesperrten Demiral. Schon vorher war zu lesen, dass sich türkische Fans verabredet hatten, kollektiv den Wolfsgruß zu zeigen. Tausende wollten mitmachen. Auf dem Fanmarsch zum Stadion hielten sie ihr Wort, sie zeigten den nicht verbotenen und doch verbotenen Gruß. Die Polizei brach den Marsch umgehend ab. Auf welcher Grundlage bleibt indes fraglich. Denn — wie gesagt — verboten ist der Gruß in Deutschland nicht. Die Polizei hat sich also offenbar mal wieder auf Zuruf der Politik instrumentalisieren lassen. Sie benötigt in Deutschland keinen gesetzlichen Rahmen, um einzuschreiten — sie ist der gesetzliche Rahmen, wenn die Politik es zwischen Tür und Angel genehmigt.
Im Stadion dasselbe Bild.
Tausende zeigten den Gruß. Was selbstverständlich die Frage aufwirft, die dieser Tage Hochkonjunktur in Deutschland hat: Warum sind denn so viele Menschen rechts? Und: Haben türkische Fußballfans ein Rechtsproblem?
Denn nur so erklärt die Berliner Blase solche Phänomene. Nachdem junge Leute auf Sylt zur Melodie eines Hits von Gigi D’Agostino Parolen schwangen, vernahm man das mittlerweile auf öffentlichen Plätzen geächtete Lied an allerlei Stellen. Sogar beim Vorrundenspiel zwischen Spanien und Italien stimmten Fans es an. Alle rechts?
Jetzt! Erst! Recht!
Der Song heißt „L’amour toujours“ und ist aus dem Jahr 2001. 23 Jahre später erlebt er eine Renaissance und war in den Charts auf Platz 8 zu finden — in den Top Ten war er auch schon 2001. Auf verschiedenen Volksfesten und in den „Public-Viewing-Areas“ — ein Begriff, der nicht aus dem Englischen stammt; Englischsprachige würden das nie sagen — war der Song schon mal prophylaktisch verboten. Dennoch vernahm man ihn immer wieder.
Bei YouTube findet man ein kurzes Video, das Jürgen Elsässer zeigt. Elsässer ist der Chefredakteur des Magazins Compact. In der deutschen Öffentlichkeit wird er als rechtsextrem eingeordnet. In dem Clip erklärt er, dass er neulich an der Tankstelle war, dort an die Kasse ging und leise den Song von Gigi D’Agostino vor sich hin summte. Der Mann an der Kasse, einer mit Migrationshintergrund, wie Elsässer sagte, habe nur gesagt, dass ihm dieses Lied auch nicht mehr aus dem Kopf gehe.
Man sieht an dieser Episode schon recht gut, wohin die Hysterie und die Cancel-Culture führen: Sie stärken immer häufiger eine Jetzt-erst-recht-Haltung. Was man im Kleinen sieht, bei leidigen Grüßen oder verbotenen Melodien, scheint auf etwas höherer Ebene, bei Wahlentscheidungen etwa, auch zu greifen.
Der Zulauf zur Alternative für Deutschland (AfD) ist ungebrochen. Auch die Affäre um Maximilian Krah hat die Partei nicht in sich zusammensacken lassen. Seit Jahren erklärt die etablierte Parteienpolitik, dass wir ein zunehmendes Problem mit einem Rechtsruck hätten. Besonders im Osten des Landes. Fest macht man das an den Resultaten, die die AfD an den Wahlurnen erzielt. Dagegen müsse man vorgehen, man müsse um die Demokratie kämpfen — die Bundesregierung unterstützt hierzu Organisationen nach Gutdünken und nennt diese Willkür „Demokratieförderung“. Sie fragt sich nicht, was Menschen dazu bringt, eine Partei zu wählen, die für sie vielleicht gar nicht gut ist — oder mindestens so schlecht wie all jene Parteien, die sich jetzt gegen die AfD in Stellung bringen.
Wenn Arbeitslose für eine Partei stimmen, die in puncto Sozialpolitik eine arg neoliberale Agenda vertreten, dann ist das doch kein Rechtsruck — das ist auch ein gutes Stück Verzweiflung.
Und noch etwas mehr: Es ist Widerstand. Jetzt-erst-recht-Haltung. Wie das Summen einer Melodie, die jetzt plötzlich als nicht mehr statthaft gilt — oder wie das Zeigen des Wolfsgrußes. Die türkischen Fans zeigen doch mit diesem Gruß nicht an, dass sie Anhänger der Grauen Wölfe sind — nein, sie wollen sich nicht von irgendwelchen politischen Gestalten belehren lassen. In der Psychologie nennt man dieses Verhalten Reaktanz. Das meint eine Haltung, die freiheitliche Einengung durch eine Flucht nach vorne weitet. Reaktanz stellt für viele heute eine letzte Möglichkeit zur Bewahrung individueller Freiheit dar. Denn wer sich um nichts schert, wer sich nicht dauernd um Außenwirkungen und pseudomoralische Vorgaben kümmert, lebt beträchtlich freier und ungenierter.
Die Rückkehr der Kontrolle
Der Begriff der Reaktanz korreliert stark mit Spielräumen der Freiheit. Werden diese beschnitten oder auch nur eingeschränkt, ist die Reaktanz eine Motivation, den so Eingeschränkten wieder selbst zu ermächtigen und sich die Kontrolle über seine Handlungen zurückzuholen. Insbesondere Einschränkungen, die mit wohlwollendem Ton vollzogen werden und so auf eine hinterlistig-freundliche oder gar fürsorgliche Art limitieren, münden nicht selten in einer Gegenreaktion, die nicht etwa annimmt und einknickt, sondern klarmacht: Jetzt erst recht! Das Magazin The Inquisitive Mind hat bereits im Jahr 2016 darauf hingewiesen, dass Gesundheitskampagnen am Reaktanzeffekt scheitern könnten — dass zu starke Beeinflussung zu dieser Form des Widerständigen führen könne.
Ohne das vertiefen zu wollen: Das war wohl mit ein Grund, warum viele Menschen die Maßnahmen der Bundesregierung gegen Corona nicht mittrugen. Die einen glaubten, sie würden ihre Autonomie zurückerhalten, alles unter Kontrolle haben, wenn sie sich an genau diese Maßnahmen hielten. Wenn sie Abstände einhalten und Maske tragen würden, wären sie Herr ihrer Situation. Andere holten sich die Kontrolle anders zurück: Indem sie gegen die Bevormundung aufstanden und sich als Individuum ermächtigten. Nicht umarmen? Nicht treffen? Jetzt erst recht!
Tausende Fans, die einen Wolfsgruß zeigen, sind kein Indikator für einen eklatanten Rechtsruck in Deutschland und der Welt: Hier emanzipieren sich Menschen vom politisch-hysterischen Gebrauch einer oberlehrerhaften Moral, die mittlerweile in jeder Lebenslage zum Einsatz kommt.
Die Menschen spüren zunehmend, dass sie in ein enges Korsett moralistischer Überwachung gesteckt werden sollen. Und dass es nur einen Ausweg gibt — und das ist nicht der Hinterausgang, denn der ist längst verriegelt. Sie treten die Flucht nach vorne an. Getreu dem Motto: Wenn ihr uns was verbieten wollt, ist das für uns Motivation genug, uns nicht daran halten zu wollen.
Die Politik fabriziert auf diese Weise selbst den Rechtsruck, von dem sie dauernd spricht — die Moralisten sind insofern der Rechtsruck. Natürlich ist es kein wirklicher Ruck nach rechts. Das ist er nur für die, die mit moralistischem Scheuklappenblick durch das Land laufen. Sie sind das größte Problem für die Gesellschaft. In Wahrheit ist diese Reaktanz eine hochgradig demokratische Übersprungshandlung. Sie holt den Souverän aus der Bedrängnis heraus und gibt ihm die Kontrolle zurück — und die Freiheit, sich nicht wie ein Kleinkind behandeln lassen zu müssen. Wenn Tausende „L’amour toujours“ intonieren, dann tönen sie auch: Wir sind das Volk!