Querfront der Gefühle

Die Gretchenfrage, die sich jeder Friedensaktivist stellen muss, lautet: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Frieden?“

Der Wille zum Frieden ist eigentlich Konsens, sollte man meinen. Doch da sich die Friedensbewegung insbesondere hierzulande öfter als Atome spaltet, müssen wir vor allem uns die Gretchenfrage stellen, was eigentlich unsere Triebfeder für das Friedensengagement ist und ob uns überhaupt – die Frage mag ungeheuerlich erscheinen – nach Frieden ist. Ist die Friedensbewegung nur ein Trittbrett für ganz eigennützige, egoistische Ziele? Und könnte es vielleicht sein, dass ganz tief in unserem Inneren ein Verlangen nach einer kleinen Dosis Krieg schlummert, der Wunsch, den Krieg zumindest einmal aus sicherer Distanz und dennoch so nah zu erleben, dass wir einen realistischen Eindruck von ihm erhalten? Eine kleine kriegerische Achterbahnfahrt? Eine selbstkritische Analyse.

Redaktionelle Vorbemerkung: Wie fern, wie uneinnehmbar wirken die Festungen der Mainstream-Medienlandschaft aus junger Perspektive, wie durchgetaktet ihr redaktioneller Duktus. Gastbeitrag? Vielleicht nach drei Praktika! Doch in einer Demokratie sollten auch wir Jugendlichen ein Mitspracherecht haben. Der Rubikon setzt hierfür einen Grundstein. Unsere Jugendredaktion veröffentlicht daher in ihrer Kolumne „Junge Federn“ beständig Beiträge junger Autorinnen und Autoren, denen thematisch kaum Grenzen gesetzt sind. Wenn dich das anspricht, schreib uns gerne an: jugend@rubikon.news.


Friedensarbeit ist selbst für den sporadischen Friedensdemobesucher weiß Gott kein leichter Job. Wenn es auf den deutschen Straßen gerade nicht zum Bibbern kalt ist, verfügen in jeder deutschen Großstadt die Organisatoren der Friedensdemos über einen liebenswürdigen, aber hoffnungslos untalentierten Friedensmusiker, der in den Pausen zwischen den Redebeiträgen seine kakophonischen Klänge zum Besten gibt und damit den einen oder anderen Demonstranten in die Flucht schlägt. Hinzu kommen die Hosentaschen, die vor lauter Informationsmaterial und kommunistischer Broschüren – welche nie gelesen werden – beinah aus den Nähten platzen, sowie die Schilder und Banner über den Köpfen, die sowohl vom Inhalt wie auch vom Design in den 80ern konserviert wurden und heute genauso aussehen wie damals.

All das, um dann am darauffolgenden Tag resignierend feststellen zu müssen, dass die gesamten Strapazen im Grunde genommen keinerlei Auswirkungen auf das Weltgeschehen hatten.

Die Verlockung, einer Friedensdemo fernzubleiben ist massiv!

Nicht selten geschieht es, dass man daraufhin der Straße frustriert den Rücken zuwendet und sich in Büchern und dem Cyberspace verliert. Das Friedensengagement erschöpft sich dann in der bloßen Informationsbeschaffung an dessen Trog das Ego gierig mitfrisst. Sich viele Informationen anzueignen mag durchaus gegen Propaganda immunisieren, aber wirklich geholfen ist damit noch lange keinem. Vielmehr kann man sich nach einer ausführlichen NachdenkSeiten-Lektüre oder einer Ausgabe „Me, Myself and Media“ in Spielfilmlänge dabei ertappen, wie man sich nun in der Rolle eines besonders Aufgeklärten und gut Informierten wähnt. Es ist eine Falle, in die man tappen kann, in der man sich suhlt, wie viel klüger man als „die Anderen“, die „Schlafschafe“, die „naiven Systemlinge“ doch nun sei. Ob nun im realen Leben oder in den Schützengräben der Kommentarspalten entsteht ein Disput, der sich nur noch um eines dreht:

Ich hab recht und du nicht!

Man kann mit dem Finger auf die NATO deuten, auf die Militärparaden am Roten Platz, doch vergessen wir leider nahezu immer die Kriegstreiber und Provokateure im eigenen Kopf.

Das Ego und der Neid sind zwei uns auf Schritt und Tritt folgende Begleiter, die auch auf Friedensdemonstrationen nicht von uns ablassen. Ihr verstohlener Blick geht durch das Meer aus Fahnen und Bannern hin zur Bühne, auf deren Podium der Redner besser sprechen kann als man selber oder zu dem Demonstranten mit der hübscheren Begleitperson, beide gut gekleidet, woraus sich ableiten lässt, dass beide die vorhin vorgetragene Kapitalismuskritik überhaupt nicht verstanden haben! Die Augen eines alten Hasen der Friedensbewegung mustern vielleicht die neu hinzugekommen jungen Karnickel, die noch voll im Saft stehend, jedoch völlig naiv alles umstellen wollen und „die alten Hippies“ nicht mehr für voll nehmen.

Frieden kommt von innen!

Auch wenn diese Phrase mindestens so abgedroschen ist wie die Friedensplakate aus den 80ern, ist sie doch so wahr wie simpel! Es gilt, diese Ego-Kämpfe im Inneren zu überwinden und sich auf das eigentliche Ziel zu konzentrieren.

Ein Krieg zerstört alle Gärten, ganz gleich welcher grüneres oder weniger grünes Gras auf der anderen Zaunseite besitzt. Und anstatt mit dem Blick auf die grünere Seite ebenso grün vor Neid zu werden, müssen wir lernen, uns an diesem Grün zu erfreuen. An dem Grün samt aller Blumen, die auf diesem Grün wachsen und verwelken würden, würden wir sie für uns beanspruchen und sie pflücken.

Bevor diese Metapher die Höhe einer Friedenstauben-Flugbahn erreicht, eine simple Decodierung:

In der Friedensbewegung darf kein Wettkampf stattfinden! Weder in der Frage, wer die bessere Rede gehalten hat, wer mehr oder weniger recht hatte, wer den besseren Videobeitrag zu Demonstration X produziert hat noch wer das aussagekräftigere Banner gemalt hat. Auch darf sich kein Graben zwischen Jung und Alt auftun, so wie man das in der Rentenfrage versucht. Die junge Generation hat die Leistungen und vor allem das Durchhaltevermögen, die Beharrlichkeit und die Geduld der älteren Friedensbewegten zu respektieren, zu achten und wertzuschätzen. Schließlich hat diese Generation ohne die Hilfe sozialer Medien weitaus größere Massen auf der Straße mobilisieren können. Auf der anderen Seite müssen die alten Friedensveteranen sich den Ideen und Innovationen der neuen Friedensgeneration öffnen und diese zulassen. Nur wenn sich frische Ideen mit den Erfahrungen der alten Friedensbewegung vereinen, kann etwas entstehen, dass einen gewissen Impact auf die Weltpolitik auszuüben vermag.

Leider verläuft die Querfront der Emotionen auch noch auf einer anderen Linie.

Der politische Krisen-Voyeurismus

Insbesondere in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts befand sich Europa historisch wie geopolitisch größtenteils in einer Art Winterschlaf. Geschichte galt nicht mehr als etwas Fortlaufendes, sondern als eine abgeschlossene Handlung vergangener Ereignisse, die zu kleinen Wissensfragmenten komprimiert in den Schulen auswendig gelernt werden musste, ohne dass man sich mit diesen Geschehnissen auch nur in irgendeiner Weise identifizierte oder sich selber als Teil dessen betrachtete.

Man lebte in einer geschichtslosen Epoche. Den Krieg, den kannten nur noch die Alten. Nur aus den vagen Erzählungen der Großeltern und alter Schwarzweißaufzeichnungen konnte man den Geist des Krieges erahnen, der zweimal durch Europa spukte. Häufig wirkte das Ganze wie eine Sage, eine Gruselgeschichte, die man sich am Lagerfeuer erzählt.

Der Krieg ist für all jene, die ihn nicht erlebt haben, etwas Abstraktes, schwer Vorstellbares. Und vielleicht rührt genau daher der innerliche Drang, das Verlangen nach einem Nervenkitzel, einem kleinen Adrenalin-Kick, den Krieg zumindest für einen kurzen Augenblick mitzuerleben. Aus einer sicheren Entfernung versteht sich! In Israel ist man mittlerweile schon in den „Genuss“ gekommen (1).

Die Kernfrage dieses Absatzes soll lauten, ob nicht selbst bei uns Friedensaktivisten ganz tief im Inneren eine Sensationsgier, ein Kriegs-Voyeurismus schlummert? Nicht alle Friedensbewegten, aber viele, eint ein großes Interesse an historischen Ereignissen und was diese anbelangt, leben wir aktuell doch in sehr ereignisreichen, turbulenten Zeiten. Das Gefühl historischen Winterschlafes wurde durch sich überstürzende Ereignisse hinweggefegt.

Muss man sich Sorgen machen, weil man sich keine Sorgen macht?

Auf Verstandesebene ist sich sicherlich ein Jeder der Gefahr eines nuklearen Krieges bewusst. Nur wirklich vorstellen kann man es sich eben nicht. Dass morgen die Uni wegen Atomkrieg ausfällt. Es ist einfach so unfassbar abstrakt! Dass man im Dunklen überfallen und ausgeraubt, man im Bus angepöbelt wird, das kann man sich irgendwo noch vorstellen. Manchmal auch deshalb, weil es Teil der eigenen Erfahrung ist. Aber das Empfangen einer SMS, die einem mitteilt, es drohe ein Raketenangriff und man solle sich schnell ins Innere begeben, Radio und Fernseher anschalten und weitere Meldungen abwarten, ist einfach unvorstellbar. Unvorstellbar war das bis vor wenigen Wochen auch für die Bewohner von Hawaii, bis diese – durch einen Fehlalarm ausgelöst – die Angst vor einem atomaren Fallout über eine halbe Stunde am eigenen Leibe erlebten (2).

Eben jenes Unfassbare wird erst in dem Moment fassbar, in dem es droht, zur Realität zu werden. Die in uns arbeitenden Verdrängungsmechanismen spiegelten sich in dem Verhalten der Hawaiianer, die nach Bekanntwerden der Tatsache, dass es sich um einen Fehlalarm handelte, zu allererst auf Pornhub ihren Druck abließen (3).

Erst wenn unsere Mikrowelt (4) bedroht wird, beginnen wir etwas verändern zu wollen .

Hierzu zwei persönliche Erfahrungen.

Als Donald Trump vergangenen April beschloss, seinem Nicht-Kriegstreiber-Dasein abzuschwören und Syrien angriff, vermutete ich aufgrund einer Vielzahl von Analysen und realistischer Einschätzungen, dass der Inhalt des brodelnden Topfes des Stellvertreterkrieges in Syrien überkochen und auf Europa und die gesamte Welt überschwappen könnte. Die Symbolträchtigkeit des gewählten Zeitpunkts – am Jahrestag des Beitrittes der Vereinigten Staaten in den 1. Weltkrieg – lösten in mir nie dagewesene Ängste aus!

Der Syrienkrieg war für mich bisher immer Gegenstand geopolitischer Überlegungen gewesen, aber nie vermochte dieser Konflikt in mir Emotionen oder helle Aufregung zu erzeugen. Erst als mein Mikrokosmos in Gefahr zu geraten drohte, konnte es für mich nicht genügend Protestaktionen und Möglichkeiten der Konfliktbeilegung geben. Doch nicht einmal die gab es. Es gab ausschließlich ein lähmendes Ohnmachtsgefühl.

Es war Samstag der 8. April. Auf der Liege im Garten fläzend, die ersten Strahlen der Frühlingssonne im Gesicht, scrollte ich durch sämtliche Artikel, die ich zu diesem Thema finden konnte, ungläubig, dass alles, was ich kannte, nun ein Ende nehmen könnte. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Welt aus dem Winterschlaf erwachte. Mit so einer endgültigen und alle Lebensbereiche umfassenden Problematik, wie der eines anstehenden Krieges, war ich noch nie konfrontiert worden. Wen sollte man da auch um Rat fragen? Die Nummern, die ich bei Liebeskummer wählen konnte, waren angesichts einer solchen Bedrohung sinnlos.

Aufgrund meiner Chancenlosigkeit, auf einen drohenden Atomkrieg einzuwirken, handelte ich ähnlich wie die Hawaiianer. Statt Pornoseiten besuchte ich jedoch Freunde, suchte die Gemeinschaft, die Ablenkung. Und tatsächlich verblieb dieser Abend trotz seines vergleichsweise ereignisarmen Verlaufes als eine sehr positive Erinnerung in meinem Gedächtnis . Das friedliche, gesellige, lustige Beisammensein bildete einen so schönen Kontrast zu der globalen Bedrohung rund um den Kokon des behaglichen Zimmers, in dem sich meine Sorgen um einen Atomangriff mit dem Dampf der Shisha auflösten.

Die Sterne scheinen am dunkelsten Firmament nun mal am hellsten.

Eines kann ich mit Gewissheit sagen: Mein Kriegs-Voyeurismus ging an diesem Tage gegen Null! Mir war nicht nach einer militärischen Achterbahnfahrt!

Viele Monate sind seither vergangen, bisher flog keine Atomrakete – von wem auch immer – über meinen Kopf. Doch vor wenigen Wochen holte mich diese Angst – zumindest zuteilen – erneut ein.

Ich befand mich bei meinem half-day-digital-timeout in den Wäldern, die sich an kleine Hänge ringsum die kleine Universitätsstadt Erlangen schmiegen. Durch die Natur wandernd, versuchte ich meinen Kopf frei zu bekommen. Und plötzlich, erst ganz leise, dann immer lauter werdend, ertönte es. Von unten von der Stadt, durch die dichten Tannenbäume bahnten sich die Schallwellen ihren Weg zu meinen Gehörgängen und transportierten den schaurigsten, angsteinflößendsten Laut, den der Mensch jemals entwickelt hatte (5). Der Bombenalarm.

Augenblicklich erhöhte sich mein Pulsschlag. Zugleich entschloss ich mich, nun meine Gefühle zu beobachten. In mir brodelte ein Cocktail aus Furcht und gleichzeitiger, perverser Neugier. Was passiert jetzt? Geht er jetzt los? Der Dritte Weltkrieg? In meiner Lernpause?

Ich zückte mein Smartphone und tat genau das, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte, nicht zu tun. Online gehen . Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Flugmodus deaktiviert und die Daten empfangen wurden. Die Sirenen heulten indes ungestört wie dämonische Wölfe aus einer anderen Dimension weiter.

Das Ergebnis: keine Warnung von der NINA-App. Nicht für Erlangen, nicht für meine Heimatstadt München, für Berlin oder für Kaiserlautern, wo sich Ramstein in unmittelbarer Nähe befindet.

Die Sirenen verstummten. Aus weiter Ferne hörte ich, wie dasselbe Geheule anderorts ertönte. Anscheinend wurde der Alarm an diesem Tag in ganz Franken geprobt. In den Zeitungen und den offiziellen Seiten der Stadt konnte man zu diesen „Proben“ kein Sterbenswörtchen finden, während der Sirenen-Test von 2017 in allen fränkischen Zeitungen angekündigt wurde. Doch das ist Stoff für einen anderen Artikel.

Zurück zu meinen Wahrnehmungen und Gefühlen.

Ich spürte in diesem Augenblick Furcht und Voyeurismus zugleich. Da stellen sich mir folgende Fragen: Was hätte ich bei dem Zischen einer sich nähernden Langstreckenrakete empfunden? Ein zynisches „Egal! Ich kann eh nichts mehr ändern – genieße ich das Feuerwerk“? Hätte ich es mit einem vor Staunen geöffneten Mund hingenommen, Zeuge eines Gaffer-Moments der Superlative zu werden? Hielt sich in diesem Moment meine Furcht deswegen in Grenzen, weil die Erfahrung mir sagte, dass sowieso nichts passieren würde und niemand einen Nutzen davon hätte, Erlangen oder das nebenangelegene Nürnberg mit einer Atomrakete anzugreifen, da beide Städte geopolitisch keine Relevanz besitzen? Welche Gefühle wären in mir emporgestiegen, wenn mein Handy nicht aufgrund von Whatsapp-Nachrichten nebensächlicher Natur blau geblickt hätte, sondern im Rot der NINA-App-Benachrichtigungen und mit einer SMS auf dem Display, die mich auffordert, so schnell wie möglich einen Unterschlupf zu suchen, den Fernseher und das Radio (im Wald) anzumachen und weitere Meldungen abzuwarten, weil feindliche Raketen im Anflug seien?

Diese Fragen lassen sich leider nicht abschließend beantworten. Gefühle sind flüchtig, situationsbedingt und zu schwer zu rekapitulieren, um sie hier einer genaueren Analyse zu unterziehen. Das ist aber die geeignete Stelle, um den Steg der eigenen Fragestellungen in den großen Teich aus Antwortmöglichkeiten durch den Leser münden zu lassen – und die Gretchenfrage des Friedensbewegten zu stellen:

Wie hast du’s mit dem Frieden?


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.nytimes.com/2014/07/15/world/middleeast/israelis-watch-bombs-drop-on-gaza-from-front-row-seats.html
(2) https://www.stern.de/politik/ausland/hawaii-in-angst-durch-falschen-raketenalarm---so-reagierten-die-buerger-7821634.html
(3)https://www.wochenblatt.de/boulevard/altoetting/artikel/222717/hawaiianer-lassen-nach-falschem-raketenalarm-erst-einmal-druck-ab
(4) https://youtu.be/OwRNpeWj5Cs?t=1h19m17s
(5) https://www.youtube.com/watch?v=erMO3m0oLvs&t=64s