Politischer Spagat

Die neue linke Koalitionsregierung in Spanien unter Pedro Sánchez muss ein Land einen, in dem die Fronten extrem verhärtet sind.

Ein äußerst vorsichtiger Optimismus bahnt sich in Spanien seinen Weg: Pedro Sánchez ist mit einfacher Mehrheit vom spanischen Parlament, im zweiten Wahlgang, zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Für Ärger seitens der zukünftigen Oppositionsparteien sorgt der Umstand, dass dieser Wahlsieg nur mit der Stimmenthaltung separatistischer Parteien aus Katalonien, dem Baskenland und Galizien zustande gekommen ist. Für die rechten Parteien gilt das als Verrat an Spanien!

Die konservative christdemokratische Partido Popular (PP) und die sozialdemokratische PSOE (Partido Socialista Obrero Español) prägten seit dem Ende der Franco-Diktatur und den ersten freien demokratischen Wahlen 1978 die Politik Spaniens. Damit ist es vorbei. Das Zweiparteiensystem, bipartidismo genannt, gehört der Vergangenheit an. Die PSOE und das Linksbündnis von Unidas Podemos (UP) bilden eine Koalitionsregierung.

Für beide Akteure war es allerdings ein schwer erkämpfter Sieg, den sie weitaus billiger hätten haben können. Der Preis, den sie dafür zahlen mussten, ist nicht nur der erlittene Stimmenverlust bei den vorgezogenen Neuwahlen im November 2019. Schwerer wiegt der Wahlerfolg der neofranquistischen ultrarechten Partei Vox unter ihrem Chef Santiago Abascal Conde.

Gesellschaftliche Altlasten

Wer die Debatten zur Wahl von Pedro Sánchez im spanischen Parlament verfolgte, der konnte hören und sehen, dass Spanien ein innerlich zerrissenes Land ist. Das nach außen mühsam vermittelte Bild von Einheit kann getrost als Mythos ad acta gelegt werden.

Die sprachlich-ethnischen Unterschiede, die nicht aufgearbeiteten Verbrechen während des Franco-Regimes, der Terror der baskischen Untergrundorganisation ETA und des Staates, der Neoliberalismus und die mit diesem verbundene signifikante soziale Schieflage und die unzähligen Korruptionsskandale (1), in die Vertreter der bisherigen Regierungen und deren Parteien verwickelt waren oder sind, haben kreuz und quer durch die Gesellschaft tiefe Gräben gezogen.

Die neue linksgerichtete Regierung unter Ministerpräsident Sánchez steht vor einer Herkulesaufgabe, die — wenn überhaupt — nicht kurzfristig zu bewältigen sein wird. Von Anfang an wird die Regierung aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Richtungen unter Beschuss stehen und muss gleichzeitig einem immensen Druck aus den eigenen Reihen standhalten.

Gift und Galle im Parlament

Im Vorfeld der Neuwahlen hatten sich Vertreter von Banken, Energieunternehmen und Medienkonzernen vehement gegen eine Koalitionsregierung unter Beteiligung des Linksbündnis Unidas Podemos ausgesprochen. Mit Begriffen wie Kommunismus, Enteignung, Anarchie oder Venezuela, Kuba, Chávez und Castro wurde den Linken Fanale des Weltuntergangs zugeschrieben.

In Zusammenhang mit der Art der Parteienfinanzierung wurde Podemos sogar mit dem Iran in Verbindung gebracht. Dabei hatte das Bündnis schon mehrmals vor Gericht bewiesen, dass es sich ausschließlich durch Spenden und Mikrokrediten von Mitgliedern und Sympathisanten finanziert. Das hat den Vorteil, dass sich die Partei — zumindest finanziell — nicht von Wirtschaft und Kapital unter Druck setzen lässt.

Die Vertreter der Vox dagegen, die in den Sitzungen des Parlaments Gift und Galle in Richtung Podemos und PSOE versprühten, ließen selbst unerwähnt, dass ihr Wahlkampf zum EU-Parlament im Jahr 2014 mit iranischen Geldern finanziert wurde (2), sie also selbst gegen bestehendes, spanisches Wahlrecht verstießen.

Kurzum: Für die Gesellschafts- und Finanzeliten Spaniens sowie für die Rechten der Vox war und ist Podemos mit Pablo Iglesias (3) an der Spitze die Inkarnation des Bösen.

Und die PSOE, die ist aus Sicht der Eliten vom „violetten Teufel“ (4) besessen. Anders können sie sich die Bereitschaft zu einer Koalition mit Unidas Podemos nicht erklären. Auch deswegen nicht, weil sich beide Parteien zu einem Dialog mit der Regierung Kataloniens über die Unabhängigkeitsfrage bereit erklärt haben und somit den bisherigen Weg der Konfrontation mithilfe von Polizei und Justiz, der die Unteilbarkeit der Nation durchsetzen sollte, verlassen. Das gilt in konservativen und franquistischen Kreisen als Verrat an Spanien.

Die dunkle Seite der PP

Pablo Casado Blanco, seit Juli 2018 Vorsitzender der konservativen Partido Popular, läuft Gefahr, mit seiner Partei komplett auf die „dunkle Seite der Macht“ gezogen zu werden. In den Reihen der konservativen Christdemokraten tut man so, als ob die weit über 500 aufgedeckten Korruptionsfälle (5), in die Mitglieder der PP landesweit verstrickt waren, überhaupt nicht existent seien. Zudem wetteifert die PP mit Vox um erzkonservative und franquistische Wähler und merkt dabei anscheinend nicht, dass kaum noch Unterschiede zu den von Hass erfüllten Reden und Positionen der Vox feststellbar sind.

Begründen lässt sich die Haltung der spanischen Eliten und das Agieren der PP zum Teil mit dem Trauma, dass das einstige Weltreich Spanien nur noch eine bescheidende Rolle auf dem internationalen Parkett einnimmt. Der Niedergang zog sich aber über Jahrhunderte hin.

Spaniens Niedergang als Weltmacht

Nach der endgültigen Vertreibung der Mauren von der Iberischen Halbinsel und der Entdeckung Amerikas entwickelte sich Spanien zu einem Weltreich, das auf seinem Höhepunkt weite Teile Europas, den nordamerikanischen und den südamerikanischen Kontinent beherrschte sowie in Asien die Philippinen kontrollierte. Dazu kamen weitere Gebiete in Afrika, die Spanien während der Kongokonferenz in Berlin 1885/86 zugesprochen bekam.

Durch die Erbfolgekriege um die spanische Krone gingen Gebiete verloren, so zum Beispiel Gibraltar an das Britische Empire. Hinzu kamen die Unabhängigkeitskämpfe in Lateinamerika, in deren Verlauf sich die heutigen lateinamerikanischen Länder vom „Mutterland" Spanien lösten. Die USA verdrängten Spanien Ende des 19. Jahrhunderts aus Kuba und von den Philippinen. Übrig blieben nur noch die Kolonien in Afrika, die Teile des heutigen Marokko, Mauretaniens und Äquatorial Guineas umfassten.

Der Tod von Diktator Franco und der berühmte „Grüne Marsch“, der vom marokkanischen König Hassan II. entfesselt wurde, markierte das Ende Spaniens als Kolonialmacht.

Nun droht in Katalonien durch die Unabhängigkeitsbewegung die Abspaltung eines auch wirtschaftlich bedeutsamen Teils vom Kernland. Aus spanisch-konservativer Sicht ist das eine Katastrophe, die eine Kettenreaktion auslösen könnte.

Seit Jahren scharren baskische und galizische Unabhängigkeitsbefürworter mit den Füßen. Lieber heute als morgen möchten sie sich von Spanien und der verhassten Zentralregierung in Madrid lossagen. Sollte das passieren, wäre es für die Eliten und die Konservativen die Apokalypse.

Spagat zwischen allen Stühlen

Nein, PSOE und Podemos werden es nicht leicht haben. Der Wind weht scharf von allen Seiten. Hüben und drüben erwartet die Basis, dass die Versprechungen, die vor den Wahlen gemacht wurden, in Taten umgesetzt werden.

Unter anderem geht es um die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau, die Abschaffung des umstrittenen „Knebelgesetzes“ (6), mit dem die Meinungs- und Versammlungsfreiheit beschnitten wird und die tatsächliche Aufnahme eines Dialogs mit der katalanischen Führung. Von zentraler Bedeutung dürften zudem die Umsetzung einer klimafreundlichen, ökologischen Politik und die Wiederherstellung menschenwürdiger Lebensverhältnisse für Rentner sein.

Es ist eine lange und doch unvollständige Liste offener Baustellen. Um diese abzuarbeiten, wird die neue Regierung zu einem Spagat zwischen allen Stühlen gezwungen, der, sollte er misslingen, sie selbst zerreißt, aber auch das Land auf eine harte Probe stellen wird.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://neue-debatte.com/2017/07/30/caso-guertel-mariano-rajoy-und-die-korruption-in-spanien/
(2) https://www.heise.de/tp/features/Iranische-MEK-hat-auch-Gruendung-der-Ultrarechten-spanischen-VOX-Partei-finanziert-4284211.html
https://elpais.com/politica/2019/01/18/actualidad/1547834274_728411.html
(3) https://neue-debatte.com/2016/11/20/todesursache-energiearmut-pablo-iglesias-ueber-feinde-und-soziale-macht/
(4) Violett ist die Parteifarbe von Podemus.
(5) https://neue-debatte.com/2019/11/07/parlamentswahlen-in-spanien-ist-das-land-unregierbar/
https://neue-debatte.com/2017/05/22/spanien-stuerzt-die-konservative-regierung-ueber-den-justizminister/
(6) https://neue-debatte.com/2018/01/14/mund-halten-spaniens-kampf-gegen-die-meinungsfreiheit-in-der-demokratie/