Politisch erwachsen werden – jetzt!

Volksabstimmungen im Bund führen nicht automatisch zu „richtigen“ Entscheidungen – aber es wären endlich die Richtigen, die entscheiden.

Nicht nur Politiker, auch viele „Normalbürger“ lehnen Plebiszite auf Bundesebene mit der Begründung ab, es könne in der Folge eine Politik gemacht werden, die der eigenen Auffassung widerspricht. Diese Abwehrhaltung wird verstärkt durch den umstrittenen Brexit und natürlich durch den sich derzeit ausbreitenden Rechtspopulismus. Es ist aber zu kurz gedacht, wegen einiger befürchteter Fehlentscheidungen zuzulassen, dass uns „Polit-Profis“ weiterhin fürsorglich entmündigen. Letztlich könnte fast jedes Argument gegen Volksabstimmungen auch gegen die Demokratie selbst ins Feld geführt werden. In Demokratien können Fehler passieren, alle anderen Systeme sind jedoch selbst der Fehler, weil sie in anmaßender Weise Menschen von Entscheidungen ausschließen, die das Gemeinwesen betreffen.

Speziell auf „linker“ und humanistischer Seite befürchtet man, dass Rechte die öffentliche Meinung mit Themen wie Minarett- und Vollverschleierungsverbot, Flüchtlingsobergrenze und Mauerbau an der deutsch-österreichischen Grenze vor sich hertreiben könnten.

Gerade der mangelnde Nachdruck, mit dem die Linke das „eigentlich“ auch in ihrem Parteiprogramm präsente Thema Volksabstimmungen vertritt, lässt aber den Eindruck entstehen: Nur die Rechten kümmern sich ernsthaft um mehr Mitbestimmung der Bevölkerung. Ist das Thema „Plebiszite“ erst einmal mit Rechts identifiziert, beißt sich die Katze in den Schwanz: mit „denen“ will man sich keinesfalls ins selbe Boot setzen. Die Blutwurst schmeckt ja auch ungleich besser, seit man erfahren hat, dass Hitler Vegetarier war. Die anderen Parteien meiden das Thema also, weil es von Rechten aufgegriffen wurde, und Rechte greifen das Thema auf, weil es von anderen Parteien gemieden wird.

Vielleicht ist das Ganze aber auch nur eine Art Arbeitsteilung zwischen derzeitigen und möglichen künftigen Machthabern, die einander die Bälle zuspielen und das Volk im Ergebnis über Jahrzehnte von wirklicher Teilhabe ausschließen. Wir leben in einer Epoche, die in Medien wie der „Zeit“ oft großspurig Postdemokratie genannt wird. Das klingt ungemein intellektuell – wie auch die verwandten Wörter „postmodern“ oder „postfaktisch“.

Was aber bedeutet „postdemokratisch“? Im Grunde nichts anderes als „undemokratisch“. Mit prädemokratischen Staatsformen wie Monarchie und Diktatur hat die Postdemokratie gemein, dass das Volk von jeder Einflussnahme auf die Regelung eigener Angelegenheit ausgeschlossen wird. Postdemokratisch ist vor allem die EU, in der beständig Macht von den direkt vom Volk gewählten Institutionen, den nationalen Parlamenten, zu den nicht vom Volk bestimmten Institutionen fließt, beispielsweise zum EU-Ministerrat. Demnächst vielleicht zum „Europäischen Finanzminister“?

Das Volk kann irren – „Volksvertreter“ können dies auch

Der Herausgeber der „Zeit“ Josef Joffe gab in einem Artikel zur Postdemokratie zu Protokoll: „Dezidierten Demokraten muss dies ein Gräuel sein, aber es funktioniert; per Volksentscheid wäre der Euro bestimmt nicht entstanden.“ Wer aber entscheidet darüber, dass der Euro unbedingt entstehen musste? Das Volk kann irren, aber will man ernstlich behaupten, dass dies für die führenden Politiker nicht gilt? Demokratie hat nie für sich beansprucht, eine Staatsform zu sein, die vor Irrtum gefeit ist. Vielmehr gibt sie dem Volk die Freiheit, seine eigenen Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen, anstatt andauernd unter denen selbsternannter Eliten zu stöhnen. Hitler begründete Führung damit, dass die in der Hierarchie höherstehenden Personen weniger irren könnten als ihre Untergebenen. Der einfache Parteigenosse könne eher irren als der Kreisleiter, dieser sei mehr dem Irrtum unterworfen als der Gauleiter, und Hitler fügt hinzu: „Sie werden nicht beleidigt sein, wenn ich sage, dass ein Gauleiter sich immer noch eher irrt, als dass ich mich irre.“ Wollen wir uns einer solchen Ideologie „abgestufter Erkenntnis“ im Ernst anschließen?

Die EU ist nicht der NS-Staat, aber das Beispiel zeigt, wohin Obrigkeits- und Hierarchiegläubigkeit führen können. Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Robert W. McChesney beschreibt den Unterschied zwischen Faschismus und Neoliberalismus folgendermaßen: „Der Faschismus ist rassistisch und nationalistisch, verachtet die formelle Demokratie ebenso wie die hoch organisierten sozialen Bewegungen. Der Neoliberalismus dagegen funktioniert am besten in einer formellen parlamentarischen Demokratie, in der die Bevölkerung zugleich systematisch davon abgehalten wird, sich an Entscheidungsprozessen sinnvoll zu beteiligen.“ McChesneys Urteil über unsere Demokratien neoliberaler Prägung ist vernichtend: „Ein paar Parteien, die, ungeachtet formeller Unterschiede und Wahlkampfgeschrei, die gleiche prokapitalistische Wirtschaftsform betreiben, führen triviale Diskussionen über Nebensachen. Demokratie ist zulässig, solange die Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont bleibt, d.h. solange die Demokratie keine ist.“

„Demokratie gern – solange sich meine Meinung durchsetzt“

Wer die Demokratie ablehnt, weil er von der Mehrheitsentscheidung Ergebnisse befürchtet, die mit seinen eigenen Wünschen nicht übereinstimmen, der soll offen zugeben, dass er nichts anderes als eine Elitediktatur seiner eigenen Gesinnungsgemeinschaft anstrebt. Es gibt ja nicht „die Elite“, es gibt „Eliten“ – linke, rechte, neoliberale, religiös-fundamentalistische und noch eine Reihe anderer. Jede von ihnen will ihre eigene Agenda durchdrücken und hat die Tendenz, das für richtig Befundene gegen Widerspruch von etwas so Lästigem wie dem Mehrheitswillen abzuschirmen. „Eliten“ und Volk arbeiten nicht selten Hand in Hand gegen eine Demokratie, die diesen Namen verdienen würde. Wobei es weniger der Hass der Gegner ist, an dem Plebiszite scheitern, als vielmehr die mangelnde Liebe derer, für die dieses Mehr an Mitbestimmung eigentlich bestimmt wäre. Passivität und Duldungsstarre kennzeichnen das Verhältnis der meisten Bürger zu ihrer fürsorglichen Entmündigung.

Das häufigste Totschlagargument gegen Plebiszite: die Todesstrafe. „Bei Volksabstimmungen auf Bundesebene hätten wir innerhalb kürzester Zeit die Todesstrafe“, sagte ein Bekannter. Ein anderer befürchtete, die Mehrheit würde niemals der Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen zustimmen. Diese politischen Anliegen sind berechtigt, aber soll man deshalb lebenslange politische Selbstkastration in Kauf nehmen? Kriegseinsätze der Bundeswehr, Ausverkauf von Gemeinschaftseigentum und die Etablierung der Gentechnologie in der Agrarwirtschaft wären zum Beispiel in einer Demokratie, die diesen Namen verdient, nicht durchsetzbar gewesen. Zudem zeigen Umfragen in Deutschland regelmäßig, dass die Todesstrafe hierzulande eben keine Mehrheit hätte. Hätte sie es doch, könnte man sie unter Verweis auf das Grundgesetz unterbinden.

Minderheitenschutz und die Grenzen der Mehrheitsherrschaft

Das Beispiel Todesstrafe macht auf eine Schwäche der Demokratie aufmerksam, die einzige, die ich wirklich als solche anerkenne: Demokratie ist im schlimmsten Fall der Terror der Mehrheit gegen die Minderheit, die Herrschaft der Wahlberechtigten über die Nicht-Wahlberechtigten. Kinder, Tiere und Asylbewerber könnten ebenso durch das Netz mehrheitlich bestimmter Fürsorge fallen wie künftige Generationen oder die Interessen schwacher Minderheiten. Gesetze zum Minderheitenschutz müssen fundamentaldemokratische Bestrebungen ebenso ergänzen wie Bestimmungen, die die Unantastbarkeit der Menschrechte festschreiben. Hier endet auch meine Toleranz gegenüber dem Majoritätsprinzip: 51 Prozent der Bevölkerung dürfen nicht darüber zu bestimmen haben, ob den anderen 49 Prozent die Menschenwürde aberkannt wird. Freilich ist dies eine schwierige Gratwanderung, denn indem ich hier Grenzen der Demokratie bestimme, nehme ich für mich jene „überlegene Erkenntnis“ in Anspruch, die ich zuvor bei anderen als überheblich gegeißelt habe.

Ich bin mir der Problematik bewusst, meine aber trotzdem, dass der Minderheitenschutz die Mehrheitsherrschaft auch weiterhin begrenzen sollte. Davon abgesehen gibt es gegen mehr Demokratie jedoch meines Erachtens keinen legitimen Einwand. Jedes „Ja, aber …“, egal von wem es kommt, zementiert nur den Anspruch des Sprechers auf höhere Einsicht und überproportionale Machtbeteiligung. Es ist zunächst einmal schwer zu begründen, warum eine Person X mehr Einfluss für sich beanspruchen sollte als eine Person Y – und zwar in einer Angelegenheit, die die Interessen beider gleichermaßen berührt. „Es ist nicht leicht, Menschen davon zu überzeugen, dass die Reichen die Armen ausplündern sollen; ein PR-Problem, das bis jetzt noch nicht gelöst wurde“, spottete Noam Chomsky.

Schutz der Macht vor „zudringlichen Außenseitern“

Folgt man dem historischen Abriss, den Chomsky in seinem Buch „Profit over People“ gibt, dann ist die Geschichte der Demokratie seit ihren Frühzeiten zugleich die Geschichte der Versuche, die Demokratie auszuhebeln. So schrieb einer der Gründungsväter der USA, Alexander Hamilton: „Unter der Öffentlichkeit verstehe ich nur den vernünftigen Teil derselben […] Die Unwissenden und Niedrigen verstehen nicht, was Regieren heißt, und sind unfähig, die Zügel in die Hand zu nehmen.“ Noch schärfer formulierte es James Madison, einer der Vordenker der frühen US-amerikanischen Demokratie. Er erklärte, die erstrangige Pflicht der Regierung sei es, „die Minderheit der Wohlhabenden gegen die Mehrheit zu schützen.“ Noam Chomsky kommentiert bitter: „Das ist bis heute das Leitmotiv des demokratischen Systems geblieben.“

Unter Präsident Woodrow Wilson, verantwortlich für die Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg, verfasste dessen Propagandabeauftragter Walter Lippmann einen bemerkenswerten Aufsatz über Demokratie. Darin schreibt er, politische Entscheidungsprozesse müssten von einer „spezialisierten Klasse“ kontrolliert werden, die die politischen Rahmenbedingungen absteckt und für die „Herausbildung einer gesunden öffentlichen Meinung“ sorgt. Diese Entscheidungsträger dürften nicht durch eine Öffentlichkeit belästigt werden, die aus „unwissenden und zudringlichen Außenseitern“ bestehe. John Foster Dulles, Außenminister unter Präsident Eisenhower, beklagte 1960, dass die USA „bei der Entwicklung von Möglichkeiten, das Bewusstsein und die Gefühle ungebildeter Menschen zu kontrollieren, gegenüber der Sowjetunion hoffnungslos ins Hintertreffen geraten ist.“ Dulles wäre beruhigt, könnte er beobachten, mit welcher Perfektion die Kontrolle des öffentlichen Bewusstseins heute – und nicht nur in den USA – funktioniert.

Von Papa Staat für unmündig erklärt

Vorbei die Zeit der eher verschämten, indirekten Versuche, den Volkswillen zu umgehen. Die sich unangreifbar glaubenden Institutionen sagen dem Volk ihren mangelnden Respekt, ihre Missachtung heute direkt ins Gesicht. Ein langjähriger Bürgerrechtler, Bernhard Fricke von der Münchener Umweltinitiative „David gegen Goliath“ sagte zu diesem Thema: „Unsere Demokratie ist eine Schönwetter-Demokratie, die uns im Grunde genommen geschenkt worden ist. Wir haben uns mit einer zunächst von den Siegermächten ausgestalteten Demokratie zufrieden gegeben, die im Grundgesetz einen sehr reifen, bedenkenswerten Niederschlag gefunden hat. Allerdings sind die Grundrechte in einem langen Prozess immer mehr ausgehöhlt worden – teilweise bis zur Substanzlosigkeit. Es hat auch nie eine Volksabstimmung stattgefunden über unsere Verfassung. Auch nicht später, bei der Währungsunion, bei der Wiedervereinigung, bei der europäischen Verfassung. Diesem Volk wird das Mitspracherecht in solch existenziellen Fragen bis heute vorenthalten, es wurde in einer grenzenlosen Arroganz von seinen Repräsentanten für unmündig erklärt.“

Schauen wir uns an, wie das Verbot von Bürgerentscheiden auf Bundesebene begründet wird. Hier ein Passus aus dem Parteiprogramm der CSU: „Demokratie ist ein offenes Angebot an alle Bürger, sich an der Politik aktiv zu beteiligen. Demokratie ist ebenso Freiheit zur Politik wie Freiheit von der Politik. Dieser Freiheit wird nur die repräsentative Demokratie gerecht, da sie Bürger, die sich nicht permanent am politischen Meinungsbildungsprozess beteiligen können oder wollen, vor der Dominanz von Aktivisten schützt.“ Mit der Formel von der „Freiheit von der Politik“ treiben die Verfasser die fürsorgliche Entmündigung des Wahlbürgers auf die Spitze. Der Politiker, ein guter Hirte, beschützt seine Schäflein vor allzu anstrengenden Denkprozessen und nimmt das Kreuz der Verantwortung allein auf seine starken Schultern.

Wege aus der 1/3-Diktatur

Von einer Krise der Demokratie ist heute oft die Rede. Sie wird durch ein Phänomen verstärkt, das man als 1/3-Diktatur bezeichnen könnte: Ein gutes Drittel der Wähler entscheiden sich für die Regierung, ein knappes Drittel für die parlamentarische Opposition, ein letztes Drittel entfällt auf kleine Parteien und Nichtwähler. Dadurch ist Demokratie nicht nur weit vom Konsensprinzip entfernt, sie funktioniert nicht einmal als „Herrschaft der Mehrheit“. Schon deshalb müssen neue Formen der Bürgerbeteiligung gefunden werden. Vor allem Plebiszite zu Sachthemen. Wähler können heute nur jeweils ein ganzes Bündel von Einzelpositionen der Parteien wählen. Da hat man zum Beispiel die relativ humane Flüchtlingspolitik der Angela Merkel gewählt, bekommt aber als Dreingabe noch einen Krieg in Übersee und ein transatlantisches Freihandelsabkommen serviert. Man kauft Himbeeren aus der Tiefkühltruhe, muss aber das darunter gemischte Sauerkraut mit bezahlen.

Eben darum scheuen Parteien Volksabstimmungen wie der Teufel das Weihwasser: Sie haben Angst, dass ihnen das Sauerkraut niemand mehr abnehmen würde, wenn es einzeln zur Wahl stünde. In vielen Parteiprogrammen findet sich die Forderung nach mehr plebiszitären Elementen irgendwo verloren zwischen „Digitalisierung gestalten“ und „Sicherheit für Deutschland“. Merkwürdigerweise kommt ein diesbezügliches Gesetz aber nie zustande, wenn es ernst wird. Ich habe nie verstanden, warum unsere Verfassung angeblich dagegen steht, in der ausdrücklich von einer Willenskundgebung des Volkes durch „Wahlen und Abstimmungen“ die Rede ist. Wir befinden uns also in einer grotesk ungerechten Situation, wie sie vor Einführung des Frauenwahlrechts 1919 herrschte. Darüber, ob Frauen abstimmen dürfen, entschieden damals – Männer! Die zierten sich naturgemäß eine Weile. Plakate von Gegenkampagnen aus dieser Zeit zeigen Kinder, die aus ihrer Wiege gefallen sind, weil Mutter Politik treibt. Heute lacht man darüber, aber so lang ist es noch gar nicht her. Alte Zöpfe wie die arrogante Zurückweisung von Bürgerpartizipation durch die „Machtinhaber“ können – wie beim Frauenwahlrecht – nur durch massiven außerparlamentarischen Druck abgeschnitten werden.

Volksabstimmungen sind ein Risiko – keine Volksabstimmungen auch

Letztlich muss anerkennen, wer seriös über mehr direkte Demokratie diskutieren will, dass Dilemmata im gesellschaftlichen Leben eher die Regel als die Ausnahme sind. Das heißt: Es gibt kaum eine Entscheidung, die ausschließlich Vorteile oder ausschließlich Nachteile mit sich brächte. Wer Volksabstimmungen auf Bundesebene durchsetzen möchte, geht ein Risiko ein; bei den Vertretern des Status Quo ist das jedoch nicht anders. Wir sind bisher eben mehr vom gefährlichen Wahn politischer „Profis“ bedroht, weniger von dem der „Laien“ – hinterher könnte es umgekehrt sein. Letztlich könnte aber fast jedes Argument gegen „Mehr Demokratie“ auch gegen die Demokratie selbst ins Feld geführt werden – vor allem jenes, es sei frustrierend, dass der doofe, ausländerfeindliche Nachbar das gleiche Stimmrecht habe wie man selbst. Demokratie bedeutet immer auch das Stimmrecht des Andersdenkenden.

Nachdem Hitler legal, über Wahlen an die Macht gekommen war, hätte Demokratie als solche zunächst einmal für alle human Fühlenden obsolet sein müssen. Tatsächlich hat sich die Geschichte nach 1945 aber – zunächst – für die Demokratie günstig entwickelt. Beispielsweise erlangten Spanien, Portugal und die Ostblockstaaten im Lauf einiger Jahrzehnte mehr Freiheit. Gewiss, freie Wahlen hatten Hitler an die Macht gebracht, aber erst deren faktische Abschaffung in der Frühphase der Nazidiktatur, erst die Zerstörung aller gesellschaftlichen Kontrollmechanismen halfen ihm, sein monströses System zur vollen „Blüte“ zu bringen. Es macht keinen Sinn, mehr Demokratie mit dem Argument abzulehnen, dass daraus Despotismus erwachsen könnte, wenn die Alternative in Systemen liegt, die von vornherein despotisch sind: Monarchie, Gottesstaat, faschistische Diktatur oder „realsozialialistische“ Parteiendiktatur. In der Demokratie können Fehler passieren, alle anderen Systeme sind jedoch selbst der Fehler, weil sie in anmaßender Weise Menschen von Entscheidung ausschließen, die das ganze Gemeinwesen betreffen.

„Kindmenschen“ sollten erwachsen werden

Unser jetziges System kann eigentlich ohnehin nur semidemokratisch genannt werden. Selbst wenn man von libertären Träumen absieht, die nach der Abwesenheit jeder Herrschaft von Menschen über Menschen verlangen; selbst, wenn man „Mehrheitsherrschaft“ vollständig bejaht, ist zu sagen, dass momentan nicht einmal diese gegeben ist. Demokratie ist heute die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit, was deshalb funktioniert, weil die Mehrheit die Wahrheit über ihre eigene Machtlosigkeit entweder nicht begreift oder sie mit Gleichgültigkeit hinnimmt. Mehr Volksabstimmungen können dieses Phänomen zwar nicht völlig beseitigen, jedoch abmildern, indem sie Menschen daran gewöhnen, auch bei Einzelentscheidungen „gefragt“ zu sein. Dies führt wie in der Schweiz zu einem höheren Grad an Informiertheit und Engagement in der Bevölkerung.

Wir sollten nicht argumentieren: „Große Teile der Bevölkerung sind nicht reif für die Verantwortung, die mit Volksabstimmungen verbunden sind“. Vielmehr würde mehr Verantwortung diesen Reifungsprozess fördern, würde helfen, aus „Kindmenschen“ – wie es Hesse in „Siddharta“ ausdrückte – politisch Erwachsene zu machen. Demokratie ist nie in jeder Hinsicht bequem und ohne Risiken – wie Erwachsensein.


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