Parlament unter Beschuss

Gedanken zu einem Schlüsselereignis der neuesten russischen Geschichte.

Vor fast einem Vierteljahrhundert, am 5. Oktober 1993, nahm mich mein Vater ins Stadtzentrum von Moskau mit, um mir das ausgebrannte Gebäude des „Weißen Hauses“ am Ufer der Moskwa zu zeigen. Er war sich der historischen Bedeutung dessen, was wir sahen, bewusst. Ich, damals neun Jahre alt, begriff die Tragweite jener Ereignisse erst Jahre später. Im Westen werden sie systematisch totgeschwiegen, weil sie nicht in das gewohnte Narrativ passen. Über das jähe Ende einer Wunschdemokratie.

von Mikhail Evstyugov-Babaev

Sagt Ihnen der Name Rory Peck etwas? Vermutlich nicht. Kein Wunder, denn seine Person war nicht einmal eines deutschsprachigen Eintrages auf Wikipedia würdig (wo sonst so ziemlich jeder Mist und jede nutzlose Existenz in bisweilen erstaunlicher Ausführlichkeit Einzug findet). Dabei war der erfahrene nordirische Journalist und Kameramann im Auftrag der ARD unterwegs, als er in der Nacht zum 4. Oktober 1993 zusammen mit TF-1-Kameramann Yvan Scopan und dutzenden weiteren Menschen am Fernsehzentrum Ostankino starb. Rory Peck war ein Berichterstatter der alten Schule, der in Afghanistan, im Irak, in Bosnien und in den Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion gedreht hatte. Es ist bedauerlich, dass er in Vergessenheit geraten ist. Überraschend ist es derweil nicht.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 befand sich Russland nicht nur politisch, ideologisch und wirtschaftlich im Niemandsland. Auch rechtlich war die Lage verworren. Im Land galt weiterhin die Verfassung aus dem Jahr 1978, also die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Das Parlament war 1990, also ebenfalls noch zu Zeiten der Sowjetunion, gewählt worden und trug die hybride Bezeichnung „Oberster Sowjet der Russischen Föderation“. Nach dem Referendum vom 17. März 1991 wurde in der RSFSR das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten eingeführt.

Zum ersten Präsidenten Russlands wurde am 12. Juni 1991 Boris Jelzin gewählt. Sein Vizepräsident wurde Alexander Ruzkoi, der zwei Jahre später als einer der ärgsten Widersacher Jelzins an der Seite des Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow eine zentrale Rolle in der Krise spielen sollte. An einer neuen Verfassung wurde zwar seit 1990 gearbeitet, ihre Verabschiedung verzögerte sich aufgrund der Uneinigkeit der Beteiligten jedoch immer wieder. Und so verwandelte sich die bestehende Verfassung durch unzählige Änderungen und Ergänzungen in ein unübersichtliches, widersprüchliches Flickwerk.

Die Jahre 1992 und 1993 erlebten die Menschen wie im Zeitraffer, ohne Zeit zum Durchatmen. Hyperinflation, grassierende Kriminalität, der Konflikt im Nordkaukasus, zuerst zwischen Nordossetien und Inguschetien, ein weiteres Referendum, und schließlich die gewaltsamen Ausschreitungen in Moskau am 1. Mai 1993 als Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Die politische Konstante dieser Zeit war der Streit zwischen dem vom Westen unterstützten, demokratisch gewählten Jelzin samt seinem „Team der jungen Reformer“ und dem kommunistisch geprägten, aber ebenfalls demokratisch gewählten Parlament. Weitgehende Vollmachten des Obersten Sowjets, die offene Parteinahme Ruzkois für das Parlament und fehlende Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten führten zu einem Patt. Es war offensichtlich, dass dieses duale Herrschaftssystem keine Zukunft hatte.

Demokratie ohne Demokraten

Am 21. September 1993 verkündete Boris Jelzin im Fernsehen die Unterzeichnung des Dekrets Nr. 1400 über die „sukzessive Verfassungsreform in der Russischen Föderation“, die die Auflösung des Obersten Sowjets und die „Wahl von Abgeordneten einer Staatsduma“ vorsah. Das Verfassungsgericht, das wenige Stunden später zu einer Sondersitzung zusammenkam, erklärte diese Verordnung in einigen Punkten für verfassungswidrig. Das Parlament leitete wegen versuchten Staatsstreichs ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin ein und Vizepräsident Ruzkoi übernahm geschäftsführend das Amt (im April desselben Jahres war bereits versucht worden, Jelzin des Amtes zu entheben, damals fand das Ansinnen aber noch keine Mehrheit). Im Gegenzug wurde im Parlamentsgebäude der Strom abgestellt und das „Weiße Haus“ selbst von Polizeikräften umstellt.

Der russische Satiriker Mikhail Zadornov hatte recht, als er sagte: „Demokratie haben wir bereits. Jetzt müssen wir nur noch Demokraten auftreiben.“ Was in anderen Ländern als Gleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive in der Verfassung bewusst verankert wurde und als Teil des politischen Prozesses akzeptiert oder zumindest hingenommen wird, nahmen in Russland sowohl der Präsident als auch das Parlament als Störung ihrer jeweiligen Machtausübung wahr. Woher hätte aber auch eine andere Mentalität im Land kommen sollen? Boris Jelzin war wie jeder Politiker ein Machtmensch und obendrein ein Apparatschik, der in der KPdSU 30 Jahre lang Karriere gemacht hatte. Er hatte Charisma und ausgeprägte politische Intuition. Profunde demokratische Überzeugungen gingen ihm jedoch ab, wie übrigens auch Mikhail Gorbatschow, dem anderen Liebling vor allem der deutschen Medien. Das gleiche galt für seine Widersacher. Vom hochdekorierten Generalmajor der Luftwaffe und Afghanistan-Veteranen Alexander Ruzkoi beispielsweise war kaum echte demokratische Gesinnung zu erwarten. Vielleicht wäre das demokratische Experiment unter anderen, weniger prekären sozioökonomischen Bedingungen gelungen. Die Geschichte kennt aber keinen Konjunktiv. Es kam zu Demonstrationen, Straßenschlachten und der Erstürmung des Moskauer Rathauses. Am Fernsehzentrum endete der Versuch bewaffneter Parlamentsvertreter unter dem Kommando des großspurigen Generals Albert Makaschow, Sendezeit im Fernsehen zu bekommen, in einer wilden Schießerei, bei der auch Rory Peck ums Leben kam. Noch in der gleichen Nacht rollten auf Befehl von Verteidigungsminister Pawel Gratschow Panzer durch Moskau.

Bürgerkrieg vor dem Parlament

Im Gegensatz zum Putsch vom August 1991 war die Situation also wesentlich dramatischer. Der Schulunterricht wurde aus Sicherheitsgründen ausgesetzt, und so verfolgte ich mit meinem Vater und meiner Großmutter das Geschehen in Echtzeit im Fernsehen. Die Bilder wirkten surreal und verstörend, das Bewusstsein, dass ein paar Kilometer weiter scharf geschossen wurde, war ein unbekanntes und unschönes Gefühl. Der Ausgang der Krise war lange Zeit unklar. Die politische Elite in den Regionen war gespalten und reagierte abwartend. Die Armeeführung wollte sich nicht von Politikern instrumentalisieren lassen und hoffte zuerst, sich aus dem Geschehen heraushalten zu können. Doch als die Gewalt an jenem Wochenende eskalierte, kippte die Stimmung – auch dank gezielter Stimmungsmache im Staatsfernsehen und in den Zeitungen – zu Jelzins Gunsten. In westlichen Regierungsvierteln und Massenmedien bedurfte es keines Stimmungsumschwungs, denn dort war der Oberste Sowjet von Anfang an als der Ursprung allen Übels ausgemacht worden.

Noch heute kursieren Theorien von unbekannten Scharfschützen im Auftrag einer „dritten Macht“, die, ihre eigene Agenda verfolgend, durch gezielte Provokationen und Tötungen eine gewaltsame Auseinandersetzung herbeiführen wollte. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob es diese dritte Macht gab, wer sie war und welche Ziele sie verfolgte – zu vieles wurde mündlich besprochen und angeordnet, zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Beteiligte leben nicht mehr. Das Ergebnis war jedoch, dass am Morgen des 4. Oktober 1993 vier T-80 Panzer von der gegenüberliegenden Brücke das Feuer auf das Parlamentsgebäude eröffneten. Diese Fernsehbilder werde ich mein Leben lang nicht vergessen, ebenso wenig den Anblick der durch schwarzen Ruß entstellten weißen Fassade am Tag danach. Sowohl als Kind als auch viele Jahre später war ich der Meinung, dass Jelzin damals richtig gehandelt hatte. Ich gehöre generell auch nicht zur Masse derjenigen, die ihn pauschal für alles verantwortlich machen. Die Realität war, wie so oft, komplizierter.

Militärs als vorbildliche Demokraten

Es bleibt aber eine historische Tatsache, dass Jelzin unter Missachtung der damals geltenden Verfassung das demokratisch gewählte Parlament, das seiner mit Hilfe westlicher Berater ausgedachten Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht folgen wollte, durch Panzer zusammenschießen ließ. Eben jenes Parlament, eben jenes Gebäude, vor dem er im August 1991 medienwirksam auf einen Panzer geklettert und sich mit einem Aufruf zum Schutz der jungen russischen Demokratie an die Menschen gewandt hatte. Genauso wie damals lag ein Plan zur Erstürmung des „Weißen Hauses“ durch die Eliteeinheiten Alpha und Wympel vor. Genauso wie damals kam es nicht dazu, weil das ohne schriftlichen Befehl erfolgen sollte, was die verantwortlichen Offiziere in Vorahnung späterer Schuldzuweisungen für das geschehe Blutbad verweigerten. Stattdessen nahmen sie sich der Sache auf friedlichem Wege an. Es gibt diese Foto- und Videoaufnahmen, die mir ebenfalls in Erinnerung geblieben sind: Einige Alpha-Offiziere begeben sich mit einer weißen Fahne auf den Platz vor dem Parlamentsgebäude und legen ihre Waffen auf dem Asphalt ab, während ein Polizist über einen Lautsprecher versucht, einen ersten Kontakt zu den Verteidigern des Parlaments aufzunehmen. Auf eigenes Risiko, ohne Genehmigung durch Präsident, Verteidigungsminister oder einen sonstigen hohen Regierungsbeamten, verhandelte schließlich der Alpha-Kommandeur Gennadi Saizew mit den Abgeordneten des Obersten Sowjets. Er gab ihnen im Namen von Alpha und Wympel Sicherheitsgarantien und konnte sie so zur Aufgabe überreden. Während Alpha diese Befehlsverweigerung mit Mühen überstand, wurde Wympel noch im Dezember 1993 in Vega unbenannt und dem Innenministerium unterstellt (bis 1991 gehörte die Einheit zur Ersten Hauptverwaltung des KGB, seit August 1991 war sie dem neu gegründeten Schutzdienst FSO unterstellt). Dies kam einer Auflösung gleich, denn es führte dazu, dass über hundert hervorragend ausgebildete, erfahrene Offiziere, die der russische Staat in jener Zeit gut gebrauchen konnte, den Dienst quittierten. Das war der Dank dafür, dass Militärs vom Geheimdienst den Demokraten zeigten, wie Demokratie funktioniert, und ein noch größeres Blutvergießen verhinderten. Boris Jelzin verspielte viel Vertrauen beim Militär – den Rest verspielte er im Tschetschenien-Krieg ein Jahr später, entschied das Tauziehen mit dem Parlament aber für sich. Die offizielle Bilanz: 158 Tote. Einer der ersten Gratulanten: ein gewisser Dschochar Dudajew.

Der Patient ist tot

Vor diesem Hintergrund erscheint die These von Boris Jelzin als einem Symbol der russischen Demokratie zumindest gewagt. Zumal die Machtfülle, die Wladimir Putin immer wieder vorgehalten wird, in jener Verfassung festgehalten ist, die Jelzin im Dezember 1993 den Russen in einem Referendum zur Abstimmung vorlegte. Putin erbte lediglich die politischen Vollmachten, mit denen sich Jelzin ausgestattet hatte. Ironie der Geschichte: In die neu gewählte Duma zogen als stärkste Kraft die LDPR von Wladimir Schirinowski und als dritte Kraft die Kommunisten von Gennadi Sjuganow ein, beide erklärte Gegner Jelzins. Diese Grundausrichtung des Parlaments änderte sich auch nach den folgenden Wahlen zwei Jahre später nicht, die erwähnten Parteien tauschten lediglich die Plätze.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass die Ereignisse von damals und der Tod von Rory Peck in den westlichen Medien, die 1993 durch die Bank Partei für Boris Jelzin ergriffen, keine Erwähnung finden. Sie werfen nämlich unbequeme Fragen auf und führen zur Erkenntnis, dass Demokratie nur dann ein Imperativ ist, wenn sie richtige Abstimmungsergebnisse generiert. Ansonsten kann auf diesen Stimmzettelfetischismus getrost verzichtet werden.

Darüber hinaus gerät auch das seit der Machtübernahme von Wladimir Putin gültige Narrativ vom Totengräber der russischen Demokratie ins Wanken. Sofern es eine solche Demokratie je gab, starb sie unter aktiver Sterbehilfe westlicher Regierungen und Medien eines frühen Todes im Oktober vor 25 Jahren. In diesem Zusammenhang kommt mir unweigerlich ein alter russischer Witz in den Sinn: „Die Autopsie hat ergeben, dass der Patient an den Folgen der Autopsie gestorben ist.“


Mikhail Evstyugov-Babaev, Jahrgang 1984, studierte Angewandte Sprachwissenschaft in Saarbrücken und ist nach einigen Zwischenstationen als Projektmanager bei Übersetzungsagenturen als freiberuflicher Übersetzer, Dolmetscher und Lektor tätig. Unter anderem übersetzte er für arte die Drehbücher der sowjetischen Klassiker „Die Heldentat eines Kundschafters“ und „Iwan der Schreckliche“ und wirkte an der deutsch-russischen Klanginstallation „Horchposten 1941“ sowie dem dazugehörigen Hörspiel mit. Er versteht sich als Bindeglied zwischen deutscher und russischer Mentalität und organisiert nebenberuflich Stadtführungen durch seine Heimatstadt Moskau – jenseits des Massentourismus.