Paradoxien der Einheit
Wer heute den Zustand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens beklagt und nach den Ursachen fragt, findet viele Antworten in den frühen 1990ern.
Luc Jochimsen, Wolfgang Herles, Lutz Herden und Michael Schmidt: Vier prominente TV-Protagonisten blicken auf ihr Arbeitsleben zurück und legen dabei eine Wurzel des Medienelends frei, die langsam in Vergessenheit gerät. Im Namen der „inneren Einheit“ wurden die journalistischen Grundsätze schon vor 30 Jahren über Bord geworfen — mit Folgen für das Hier und Jetzt.
Ich werde oft gefragt, ob es früher besser war. Ist der Raum des Sagbaren schon immer so klein gewesen, lieber Herr Meyen? Wann haben die Leitmedien angefangen, Kritik an der Regierungspolitik abzuwerten oder sogar zu verschweigen? Ist das mit der Willkommenskultur über uns gekommen oder doch schon mit Griechenland und dem Euro?
Bei Vorträgen scherze ich dann über 9/11, die NATO-Bomben auf Belgrad und John F. Kennedy (JFK), wobei scherzen sicher das falsche Wort ist. Ich will nur zum Nachdenken anregen, bevor ich zum Wahrheitsregime der Gegenwart komme. Plattformen unter Staatskuratel, Faktenchecker, Netzfeuerwehr. Das füllt den Abend.
Das Gefängnis der Aktualität gehört vermutlich zum Spiel. Es passiert permanent so viel, dass keine Zeit bleibt, um sich zurückzulehnen und vielleicht sogar die Geschichte und ihre Zeugen zu befragen.
Frank Schumann, in der DDR eine Nummer bei der Tageszeitung Junge Welt (1), und sein Verlag edition ost haben mir das jetzt abgenommen mit einem Buch, das vier Schwergewichte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zusammenführt (2).
Zweimal Ost, zweimal West. Vier „Berichte von Beteiligten“, dazu ein Vorwort von Daniela Dahn. Die knapp 300 Seiten haben es in sich, obwohl es dort vor allem um die frühen 1990er-Jahre geht. In Kurzform: Damals hat das angefangen, was die Journalismuskritik heute umtreibt. Vielleicht war es auch seinerzeit schon da, eingebaut in eine Rundfunkkonstruktion, die der Politik von Anfang an erlaubte, Journalisten wie Marionetten zu behandeln. Hier ein wenig an den Fäden ziehen, dort die Puppe austauschen.
Luc Jochimsen, Jahrgang 1936 und später TV-Chefredakteurin beim Hessischen Rundfunk, erinnert sich auch an ihre erste Station „Panorama“. Als sie dort 1973 angefangen habe, „hatte dieses politische Magazin alle seine bisherigen Leiter auf die gleiche Weise verloren: durch politischen Druck. Gert von Paczensky, Rüdiger Proske, Eugen Kogon, Joachim Fest — aus welchen unterschiedlichen politischen ‚Ecken‘ sie auch gekommen waren“ (3).
Gleich auf der nächsten Seite spricht Jochimsen trotzdem von einer „goldenen Zeit“. Hier „Panorama“, produziert vom „Rotfunk NDR“, dort „Report“ aus München, so schwarz wie die CSU in Bayern. Ergebnis durch die Brille von Luc Jochimsen: „Vielfalt, demokratischer Dialog und Kontroversen, die nicht nur auf der Oberfläche blieben — im Gesamtprogramm, also für das Publikum, die Allgemeinheit“ (4).
Dann kommt 1984, das Jahr, in dem der Startschuss für eine Medienrevolution fällt, die aus dem Rundfunk auch in Deutschland ein Geschäft macht. Und kurz darauf folgt etwas, was manche für eine echte Revolution halten und andere einfach nur für eine Wende. Luc Jochimsen sagt: „Kolonialgeschichte auch im Namen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkfreiheit“ (5).
Sie steht damit nicht allein, zumindest in diesem Buch nicht. „Die restaurative Walze der westlichen Abwickler machte die angestoßene Demokratisierung zunichte“, sagt Daniela Dahn, Jahrgang 1949, die ein paar Jahre beim DDR-Fernsehen gearbeitet hat, dann an der Wiege des Demokratischen Aufbruchs stand, einer der Gruppen, die im Herbst 1989 ganz vorn dabei waren, und sich seitdem einen Namen als Kritikerin der „Einheit“ gemacht hat (6), eine Frau also, die es wissen muss. Und der Journalismus? Ein „Testfeld“. Ausprobieren, wie weit man mit den „Anpassungszwängen“ gehen kann, „zunächst im Osten“ und wenig später dann auch im Westen (7).
Für Schritt eins stehen in diesem Buch Lutz Herden und Michael Schmidt, geboren 1953 und 1954, die beide in Adlershof gearbeitet haben, spätestens 1989/90 prominent wurden und dann anders als viele ihrer Kollegen im Beruf bleiben konnten, der eine bei der Wochenzeitung Freitag und der andere beim NDR in Mecklenburg-Vorpommern.
„Das Ostfernsehen wie eine Schraubenfabrik dichtzumachen“, sagt Lutz Herden, „das bedeutete, dem Osten kulturellen Besitzstand zu nehmen, ja, diesen vorsätzlich zu zerstören.“ Herden findet dafür starke Begriffe: „Politische Flurbereinigung“, „Landnahme des Kalibers Raubrittertum“. Selbst der Fernsehturm, eingeweiht 1969 als Symbol für ein Land, das tatsächlich aus Ruinen auferstanden war und nun nach den Sternen griff, selbst dieses Berliner Wahrzeichen sei „jahrelang von allen Postkarten“ und aus allen Bildbänden verschwunden (8).
Michael Schmidt erzählt einfach, wie es damals für ihn selbst gelaufen ist. Gesundheitscheck und Personalgespräch beim NDR — und trotzdem nur ein Jahr auf Probe, unter Aufsicht von Fernsehmenschen aus dem Westen, die vorher nicht einmal zu träumen gewagt hatten von einem solchen Karrieresprung und dann fast folgerichtig „konsequent an den Bedürfnissen der Beitragszahler“ vorbeisendeten.
Wahrscheinlich muss man nicht einmal ein „altgedienter Ostjournalist“ sein wie Schmidt, um die Analogie zu sehen zu dem, was vorher war: Journalisten, die „zu dicht dran“ sind „an den Mächtigen“ und „vielleicht noch nicht einmal bewusst“ den „vermeintlichen Vorgaben“ von oben folgen (9).
Lutz Herden und Michael Schmidt: Das ist, wenn man so will, der Blick von unten oder von außen. Wie haben die Ureinwohner einen Übergang erlebt, der sie vom Regen in die Traufe führen sollte, und wie beurteilen sie heute die Konsistenz des Wassers hier und dort? Luc Jochimsen und Wolfgang Herles waren 1990/91 auf dem öffentlich-rechtlichen TV-Gipfel, als Auslandskorrespondentin und Abteilungsleiterin, als Chef des ZDF-Studios in Bonn. Diese beiden Sieger der Geschichte sehen sich als Verlierer, weil im Einheitsrausch ihr Journalismusideal den Bach runtergegangen ist.
Ein Paradox, sagt Wolfgang Herles. Die DDR habe sich „quasi auf Kommando zur offenen Gesellschaft wandeln“ sollen, und der Westen suspendierte im gleichen Augenblick „die Offenheit des Diskurses“.
Kritik an der Beitrittspolitik? Unerwünscht. Die Kosten seien „teils schöngeredet“ worden und „teils verschwiegen“. Herles erzählt, wie er in seiner Sendung „Bonn direkt“ gegensteuern und Schluss machen wollte mit dem „Hofieren von Politikern“. Die Folge: ein Anruf von Helmut Kohl beim Intendanten, am gleichen Sonntagabend, da der Kanzler „wie üblich“ vor dem Fernsehgerät saß.
Herles wurde gegangen, 1991 noch, genau wie Erich Böhme beim Spiegel, der in einem seiner Kommentare schrieb: „Ich will nicht wiedervereinigt werden.“ Fazit für das ZDF: „Der Sender betätigte sich nicht als Dolmetscher im notwendigen Diskurs, sondern als Lautsprecher der vermeintlich einzig zulässigen Haltung.“ Herles kann das sogar mit einem Brief von Dieter Stolte belegen, der alle Redaktions- und Studioleiter im Februar 1991 zur „Selbstzensur“ aufgefordert habe. Zitat aus der Anweisung des Intendanten:
„Es reicht nicht aus, objektiv und wahrhaftig zu sein, unsere Programmbeiträge müssen auch einfühlsam und verständnisvoll sein. Das betrifft nicht zuletzt auch die Wahl der Worte“ (10).
Luc Jochimsen hat das so ähnlich bei der ARD erlebt, das erste Mal im Dezember 1989 schon, als sie im Format „Pro und Contra“ auserkoren worden war, gegen eine schnelle Wiedervereinigung zu sein, und dafür auf dem Bildschirm geschlachtet wurde. Das Erste habe dann zwar behauptet, ein „Integrationsprogramm“ sein zu wollen — allerdings nur auf dem Boden einer „westlichen“ Idee vom Journalismus, die Jochimsen nach und nach zu einer Fremden im eigenen Haus werden ließ.
„Reine Propaganda“ im Golfkrieg 1991, „vom Grundsatz der Wahrheit weit entfernt“ und von der Bevölkerungsmehrheit sowieso. „Antikommunismus oder Antisozialismus“, als Stefan Heym 1994 im Bundestag als Alterspräsident kandidierte. „Lügen und Täuschungen“ im Jugoslawienkrieg. Ostern 1999 durfte Jochimsen in den „Tagesthemen“ zwar noch ein Waffenstillstandsangebot von Slobodan Milošević unterstützen, aber sich danach in den Programmen der ARD nie wieder zu diesem Thema äußern (11).
Ein Skeptiker, dem ich diese Geschichte präsentierte, um zu belegen, dass auch damals nicht alles ging im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, zuckte nur mit den Schultern. Immerhin, hat er gesagt. Sie haben den Kommentar gesendet und Jochimsen nicht gefeuert. Das stimmt natürlich und ist hier trotzdem nicht der Punkt.
In diesem Buch geht es um die Weichen, die 1990 gestellt wurden. Die „revolutionären Ansätze der Bürgerbewegung“, an die sich Daniela Dahn erinnert (12), sind genauso auf das Abstellgleis geschoben worden wie das, was die Journalisten beim Fernsehen der DDR und in den Redaktionen der Parteipresse in den wenigen Wochen der Freiheit auf die Beine gestellt haben.
Freie Fahrt gab es dagegen für einen Journalismus, der all die Schwachstellen ausblenden konnte, die Ende der 1980er-Jahre schon zu sehen waren.
Mehr noch: An der Spitze, dort, wo die Korruption beginnt, sah man sich befreit von jedem Zwang zur Reflektion. „In heller Panik“, schreibt Luc Jochimsen, habe sich SFB-Intendant Günther von Lojewski seinerzeit an Wolfgang Schäuble gewandt, „Verhandlungsführer des Einigungsvertrags“. Anlass: ein „Horror-Szenario“. „Mehr als zehntausend Agitprop-geschulte und erfahrene Ossis“ vor den Toren Westberlins, verteidigt von nur 1.400 SFB-lern.
Lojewski bezog sich auf Artikel 35, der versprach, dass „die kulturelle Substanz der DDR keinen Schaden“ nehmen dürfe (13). Die Lösung steht in den Geschichtsbüchern: Artikel 36, extra noch hineingeschrieben für die Radio- und Fernsehanstalten des untergehenden Landes, aufzulösen bis Ende 1991. Es ist gut, das nicht zu vergessen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Michael Meyen, Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung, Ch. Links, Berlin 2013
(2) Lutz Herden, Wolfgang Herles, Luc Jochimsen, Michael Schmidt: Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Berichte von Beteiligten. Mit einem Vorwort von Daniela Dahn, edition ost, Berlin 2023
(3) Ebenda, Seite 131
(4) Ebenda, Seite 132
(5) Ebenda, Seite 138
(6) Vergleiche exemplarisch Daniela Dahn: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit — eine Abrechnung, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2019, und Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung, Westend, Frankfurt/Main 2020
(7) Lutz Herden (wie Anmerkung 2), Seite 8
(8) Ebenda, Seite 25, 32, 54
(9) Ebenda, Seite 211, 245
(10) Ebenda, Seite 72, 103, 107, 108, 110, 117, 118
(11) Ebenda, Seite 139, 143, 145, 146, 153, 164
(12) Ebenda, Seite 7
(13) Ebenda, Seite 135