Ostdeutsches Besinnen

Zum wiederholten Mal wird ehemaligen Bürgern der DDR eingeredet, dass ihre bisherige Art zu leben und zu denken wertlos gewesen sei.

Denken Sie nur, was Sie denken sollen — dieses aber nach Möglichkeit freiwillig! In der realsozialistisch organisierten Gesellschaft hatte sich der Einzelne dem Kollektiv unterzuordnen. Was dieses wollte und brauchte, darüber wussten die Vertreter des Staatsapparats immer genau Bescheid. Ausscheren und Selberdenken galten als unsolidarisch und wurden mindestens mit dem Entzug der Mitgliedschaft in der „Herde“ bestraft. Nach der Wende dann wurden Freiheit und Eigenverantwortung hochgehalten — alles, was DDR-Bürgern über Jahrzehnte eingeredet worden war, erwies sich von einem Tag auf den anderen als falsch. In der westlichen Wohlstands- und Wettbewerbsgesellschaft bestand geradezu Individualismuspflicht. Heute hat sich der Wind wieder mal gedreht. Der Einzelne muss sich um der Gemeinschaft willen hygienisch verhalten, sparen und hassen, wen zu hassen die Medien-Einheitsfront ihm vorgibt. Wie 1989 bröckeln alle Gewissheiten, die dem Leben und Denken bisher einen sicheren Rahmen gegeben hatten. So müssen auf einmal alle wegen „strukturellem Rassismus“ in Sack und Asche gehen und Begriffe wie „Mutter“, „Vater“ oder „Indianer“ problematisieren. „Anything goes“— aber nichts, ohne dabei von woken Vormundschaftsrichtern gemaßregelt zu werden. Heiter-besinnliche Betrachtungen eines Ostdeutschen.

Viel Besinnlichkeit wurde einmal mehr in den Weihnachtstagen und zum Jahresanfang einander gewünscht und viel Zeit zur Besinnung. Ein nicht ungefährliches Unterfangen, wie mir scheint, denn eine Unart des Menschen wird mit diesem Wünschen befördert. Eine Unart, die den Menschen zeit seines Auftauchens begleitete. Eine sehr alte und weit verbreitete Schöpfungsgeschichte spricht sich da sehr deutlich aus, berichtet von einer Panne im paradiesischen Garten trotz ausgemachter Allmacht, Allwissenheit, Allgüte und dergleichen Fähigkeiten des vermuteten Schöpfers. Das paradiesische Debakel entwickelte sich jedenfalls zu einem eklatanten Störfaktor für alle weltlich oder geistlich geprägte Herrschaft. Das paradiesische Debakel: dieses lästige und unverschämt penetrante Wissenwollen. Frivole Lüstlinge werden bald gar ausrufen: „Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse“. Berthold Brechts „Galileo Galilei“ rief jedenfalls so.

Wie es aber mit den meisten Vergnügungen ist, sie sind ausgepreist. Somit muss man sich zum einen das Vergnügen leisten können, zum anderen (für sich) die Frage beantworten, ob andere Vergnügungen nicht bequemer, rascher, vor allem auch ungefährlicher erreichbar wären und drittens darüber hinaus gewahr sein, dass es immer jemanden gibt, dem die Vergnügung des Denkens missfällt oder der ein eigenes Vergnügen am Denken entdeckt. Interesse und Gedanke sind unzertrennliche Geschwister. Denn so ist es nun einmal mit dem Denken: Es zeigt mitunter die Tendenz, sehr unberechenbare Folgen herbeizuführen, wenngleich nicht immer sofort augenfällig.

Lustgewinn und Missvergnügen

Die Denkmissvergnügten und Diskursunlustigen — häufig Gläubige — sannen nun ihrerseits nach Methoden, den denkvergnügten Lüstlingen die süße Frucht der Erkenntnis zu verderben. Ihr Erfindungsreichtum stachelte auch sie an. Ein Denkvergnügen hier ebenso am Werk, der Lustgewinn scheint unabweisbar. Ein Paradox somit. Unzählige Praktiken zur Denkvermeidung werden dem zaudernden Publikum vorgeführt: von der Ausgrenzung zur Ausmerzung, vom Scheiterhaufen zur Höllenfahrt der unlustvolle Weg. Auch sanftere Methodik gelangte zum Einsatz: Droge und Rausch etwa, Illusion und Glaube, Hoffnung, Liebe erwiesen sich als gute Spielbälle, Furcht und Angst sind natürlich Mittel besonderer Güteklasse. Kontrolliertes, betreutes Denken. Irgendwann Parteilehrgänge und Parteilehrjahre, Weltanschauung von der Wiege bis zur Bahre. Das freilich ging und geht nie gut, für eine Gesellschaft nicht und für den Denkenden erst recht nicht.

Die Aporien werden allerdings nicht weniger. Denn bei Brechts Galilei wird es deutlich: Die Voraussetzung für das Denkvergnügen fußt darauf, sich dumm zu fühlen. Schon aber befindet man sich im Gegensatz zu einem Gelehrten, der sich im Besitz des Wissens wähnt, der dazu das Grundbedürfnis aller Wissenschaft teilt, den Irrationalismus zu reduzieren. Auch befindet man sich aber im Gegensatz zu einem Weisen, weiß dieser eben doch, dass er nichts weiß und der für sich zufrieden ist, mit diesem Wissen, sein Leben lang.

Und so fühlt man sich an Sisyphus erinnert, wie immer wieder und wieder der Dumme sich wandelt in den Wissenwollenden und dieser dann in den Erkennenden und dieser schließlich zum Gelehrten wird. Was ist es also letztlich, als dem Schauspiel beizuwohnen oder mitzutun, um mit dem Denken die nächsthöhere Stufe der Dummheit zu erklimmen? Wer das Gedachte dann verteidigt, tut es immer schon auf dumme Weise. Wem dies alles zu anstrengend wird oder wem einfach die Puste ausgeht, kann sich immer noch weise geben. Wie es sich auch ausgehen mag, der Kampf bleibt ein ewiger. Da steht David gegen Goliath. Der Denkende gegen die Herrschaft. Der Denkende gegen die Partei. Der Denkende gegen die Denkverbote. Der Denkende gegen das große Heer der Nichtdenkenden. Doch der Denkende steht nicht selten gegen sich selbst, gegen die eigene Bequemlichkeit, die eigene Korrumpierbarkeit, die eigene Zögerlichkeit und Furcht. Auch im Herbst des Jahres 1989 wurde viel hinter der Gardine gestanden.

Ausmergelung und Magersucht

In dieser Unentschlossenheit liegt nicht zuletzt die Voraussetzung für das Überleben politischer Systeme. Die Krankheit des realexistierenden Sozialismus aber war längst ausgemacht: Ausmergelung und Magersucht hießen die politischen Symptome. Der Sozialist verlangt schließlich das Primat des Staates gegenüber der Wirtschaft. Planwirtschaft die Doktrin. Immer war es dazu nötig, den Menschen die Bürgerlichkeit vollends auszutreiben.

Die nationalsozialistische Diktatur hatte hier nur erste Schneisen geschlagen. Die Menschen hatten sich gemäß den ideologischen Vorstellungen dem Staat zu unterwerfen, sie mussten entindividualisiert, gleichsam entprivatisiert werden. Wieder einmal bedurfte es des gehorsam Glaubenden.

Das alte, neue Zauberwort wird gesprochen: Kollektiv. Das Kollektiv jedenfalls ist alles, gleichgültig, ob es Klasse, Volksgemeinschaft oder nun die Gemeinschaft der Woken heißt, der Einzelne ist nichts, ist bedeutungslos. Das Kollektiv aber lässt sich formen, so meint der Sozialist, Gesellschaft wird planbar. Der frühzeitig einsetzende Sterbeprozess währte dann allerdings noch lange vierzig Jahre. Doch der Exitus war unvermeidlich. Lohnt sich ein Innehalten?: Wie viele Jahre hätte sich dieser Vorgang noch herauszögern lassen, wäre das (gegenwärtige) Spiel einer europa- oder weltweiten Pandemie bereits damals ausgereift gewesen? Wären die analogen Kommunikationsmöglichkeiten, wie Brief- und Telegrammverkehr, der sich langsam herausbildenden Opposition durch strengste Lockdownbestimmungen sofort zusammengebrochen? Die wenigen Telefonanschlüsse waren weitestgehend in den Händen der sozialistischen Funktionäre und Parteikader. Brieftauben fielen unter Mangelware. Kneipen und Kirchen als Widerstandsnester wären durch konsequente Schließung verunmöglicht. Ansammlungen auf den Straßen ebenso unterbunden. Ermöglichte die analoge Lebensweise den (vermeintlichen) Sieg der Opposition?

Der Tod dieser Deutschen Demokratischen Republik geriet damals vielen zur Erlösung, die sich anschließende Trauerfeier wurde zu einem Freudenfest. Millionen Genossen sahen eine Pietätlosigkeit am Werk, doch ihr Einspruch blieb verhalten … es ward nicht die Stunde und nicht der Tag. „Hingabe und Geduld sind unsere Tugenden … Treue zur Sache, wir sind das Schwert und der Schild“, hieß und heißt es nicht allein im Roman bei Uwe Tellkamp. Mit diesem Tod aber begann auch eine Verunsicherung. Denn so genau wusste man nicht mehr, wohin man eigentlich gehörte. Was hatte es auf sich mit diesem Deutschland, das da plötzlich vor mir lag? Mancher fragte so und spürte Fremdheit. Die sozialistische Fremde schnitt ab von der ursprünglichen Identität.

Von Deutschland wollte in der DDR niemand sprechen, das „Deutschland einig Vaterland“ der Nationalhymne sollte nicht mehr gesungen werden. Ein Paradox aber wiederum, denn mit der DDR brach es an, das Neue Deutschland. Das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gab sich den programmatischen Namen und die Einheitspartei wollte auf Deutschland in ihrer Benennung nicht verzichten. Ein Zusammenschluss von Parteien und sogenannten Massenorganisationen figurierte unter der martialischen Bezeichnung Nationale Front, geführt vom Nationalrat als dem zentralen Organ der Nationalen Front. Kampfstimmung somit bei Gründung der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden.

In großer Eile war man ohnehin, denn das Leben nach dem Krieg musste irgendwie weitergehen. Gänzlich frei war in ihrem Tun auch die SED nicht, denn wie die Bundesrepublik erwuchs auch die DDR nicht aus sich selbst, sondern war das Konstrukt einer Fremdbestimmtheit — einerseits die Sowjetunion, andererseits die Alliierten. Es bedurfte unbedingt der Bereitschaft der Menschen mitzutun und den vormals braunen Wendehälsen rief man selbstbewusst zu:

„Die SED ruft dich zur Mithilfe am Neuaufbau Deutschlands! Sie ruft dich dann, wenn du nicht aus materiell egoistischen Gründen, sondern aus Überzeugung und Idealismus einstmals zur NSDAP gegangen bist, wenn du dorthin gingst im Glauben, das Gute im Sozialismus zu finden, dann komm zu uns, denn was Hitler dir versprochen hat und niemals hielt, das wird dir die SED geben.“

Gewendet wurde eben auch im Jahre 1933, als kommunistische Arbeiter- und Kampfformationen geschlossen in die SA übertraten, was den Historiker Joachim C. Fest urteilen ließ: „Man wechselte sozusagen nur den Anführer und die Fahne, nicht einmal die Treffkneipe. Im Herzen blieb man Sozialist, nur dass man von nun an auch national sein durfte.“

Im Endstadium der Krankheit besann man sich überhaupt auf deutsche Tradition. Martin Luther, Sebastian Bach und selbst der Preuße Friedrich II. mitsamt dem Preußentum rückten in den Fokus. Nur am Antifaschismus war unbedingt festzuhalten und die Tradition in die entsprechende Position zu biegen. Mit dem Antifaschismus-Begriff enthob man sich zugleich der Schwierigkeit, sich mit dem Begriff des Nationalsozialismus auseinandersetzen zu müssen, zu problematisch beide Worte für das Neue Deutschland. Das westliche Deutschland hingegen begnügte sich mit der Verkürzung zu „Nazi“. Ansonsten aber hatte der DDR-Bürger überhaupt „Position“ zu beziehen. Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat war nicht vorgesehen, das Lavieren blieb beobachtungswürdig. So war man denn für ihn oder eben gegen ihn oder hatte seinen Verbleib in einer irgendwie gearteten (sub)kulturellen Gemeinschaft (Popper, Punks, Skins).

Im Roman „Der Turm“ des Schriftstellers Uwe Tellkamp findet sich eine faszinierende Beschreibung einer dieser besonderen DDR-Eigentümlichkeiten, es ist das Porträt eines (Rest-)Bürgertums, das sich in die Kultur flüchtet. Klassische Musik und Literatur als Rüstzeug gegen die Zumutungen sozialistischer Staatsideologie. Kultur und Kunst als (Über-)Lebensmittel. Früh übte man sich in den Familien im Umgang mit der Positionierung, erlernte rasch das Lesen zwischen den Zeilen, erfand sich die private Sprache als Zweitsprache im Gegensatz zur öffentlichen.

Viel Schuld und Schmach und Schande

Dann der Exitus, erwartet und dennoch nun plötzlich. Die ehemals sozialistische Republik wurde erklärtes „Beitrittsgebiet“, die Bewohner fanden erst Anschluss, etwas später wurden sie wiedervereinigt. Ein paar wurden zu „Helden“ gekürt, zeigten sie sich eben als Widerständige, als Vor-, Nach-, Quer- oder Überhauptdenker. Mancher erlebte dann baldigen Statusentzug. Der Widerständler wurde quasi über Nacht zum Nestbeschmutzer. Doch riet nicht einst Johann Wolfgang von Goethe schon: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“?

Mir blieb damals vor allem ein Staunen, denn demonstrierte dieser Staat nicht anlässlich seines vierzigjährigen Bestehens soeben noch Macht? War die Militärparade zu Berlin nicht immer noch eindrucksvoll und schaudernmachend? Zeigte die Staatsmacht sich in den Städten nicht noch hochgerüstet? Freilich war in kürzester Frist auch zu lernen, wie wenig Verfassung und Gesetze wert waren. Manche Generation von Deutschen durfte das sogar mehrfach lernen und hätte aus dem Lernprozess vielleicht doch Erkenntnis ziehen können (müssen)?! Welchen Wert haben also die Institutionen, die Rituale, die Symbole und Organisationen, wenn ihnen die ideologische wie politische Beschallung abhandenkommt? Nun, der einstige DDR-Bürger hatte sich jedenfalls flugs neu einzurichten, das Besinnen war, trotz allen Wünschens, in eine spätere Zeit zu verschieben.

Aber schließlich hatte man doch lange genug von „Hüben“ nach „Drüben“ geschielt, liebäugelte mit Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Meinungspluralismus, Medienvielfalt. Immer auch war es da, das drängende Verlangen nach Entfaltung der individuellen Besonderheit. Schnell ging es dann mit der Wiedervereinigung tatsächlich. Eine Irritation blieb dennoch. Irgendwie fehlte es an der rechten Freude. Ein paar Kirchenglocken bimmelten zwar immerhin damals, doch von einer Euphorie, einer nationalen gar, war nichts zu verspüren. Wollte die untergegangene sozialistische Republik nicht eben noch — reichlich ambitioniert sogar — eine Nation werden? Und nun? Deutschland? Wer bitte kann dies wollen, so hallte es den Beitrittsgebietlern entgegen?

2010 brachte diese progressive, habermasaufgeklärte bundesdeutsche Grundstimmung dann Robert Habeck, damals Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein, in seiner Veröffentlichung „Patriotismus. Ein linkes Plädoyer“, auf den Punkt: „Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“

An der Nation klebt(e) die Schuld, sehr viel Schuld und Schmach und Schande: „die deutsche Frage“ urplötzlich nicht mehr offen. Dies ängstigte, die Tür hinter der deutschen Vergangenheit, könnte dauerhaft zugeknallt sein.

Die alte Bundesrepublik habe versucht, sich „aus der Geschichte und damit aus der Nation zurückzuziehen“, resümiert der Historiker Christian Meier. So ließen sich die Verbrechen verurteilen und zugleich den anderen Deutschen anlasten, den damaligen. Dieses Verhalten begegnet auch bei den Nachgeborenen wieder, die, antifaschistisch gesinnt, sich in Identifikation mit den Opfern selbst zu Opfern stilisieren. Materiell übersättigt entdeckte man die Moral und begann mit der Aufarbeitung. Die Großeltern- wie die Elterngeneration wurden inkriminiert, überall nun nur noch Verbrecher und Nazis. Wehe dem, der den sauberen Widerstand nicht aufzeigen konnte!

Falsches Normal

Dem frisch eingemeindeten Ostdeutschen blieb nun wieder nur das Staunen. Höllisch aufzupassen war jedenfalls, nicht sofort in irgendwelchen „rechten Ecken“ zu verschwinden. Rechneten viele Ostdeutsche auch zur Normalität, die geregelte Arbeit etwa und seine Kinder pünktlich in die Schule zu schicken, und waren der Ansicht, Mann und Frau wären mit bloßem Auge erkennbar, so mussten sie bald lernen, eine solches „Normal“ ist nicht mehr zu haben. Ein Sturm ist inzwischen aufgezogen. Das soziale Gefüge taumelt in schwerer See. Das Gemächliche verliert sich, das Vertraute nicht minder. Veränderung ist nun eruptiver Bewegung unterworfen. „Ausgerottet“ soll es werden, das alte Bild von Mann und Frau, so forderte es 2017 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag die deutsche Bischöfin Petra Bosse-Huber. Lebenswirklichkeit soll zerbrechen und zerbrochen werden — weder schwarz oder weiß — vor allem aber weiß — oder braun oder gelb soll es mehr geben und auch nicht Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Liebhaber oder Liebhaberin.

Stellte William Shakespeare einst die existenzielle Frage nach dem Sein oder dem Nichtsein, so bricht sich der Fragehorizont dieser Tage herunter: Was darf der Mensch überhaupt noch sein? Ideologische Gutmenschlichkeit hält selbstredend die Antwort parat: Der Mensch soll fortan geschlechtslos, rassenlos, familienlos sein.

Gleichheit und Gerechtigkeit erfordern diese Losigkeit. Dieses Auslöschen aller Bindung, aller Verbundenheit, versichert man ist unabdingbar. Doch sind diese modernen Rufer und Utopisten dabei nicht selbst verstrickt und gebunden in und an einen — tatsächlich — grenzenlosen Hass? Wer jedoch wird sich aber der eigenen Fallstricke bewusst, wer entkommt dem Dogma?

„Auf Mann und Frau wartet heute von Anfang an der Hass. So viel Schmutz und Verschmutzung zwischen den Geschlechtern wie heutzutage war noch nie“, so schrieb Peter Handke in seinem Roman „In einer dunklen Nacht trat ich aus meinem stillen Haus“ schon 1997. Aber diese alte Behausung steht in „Dunkeldeutschland“ und mit Abstand vielleicht noch in bayerischen Randgebieten. Das neue Haus jedenfalls stellt sich dar — als bunte Republik. Und hier gilt (wieder): „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ (Franz-Josef Degenhardt).

Immerhin musste man sich im Osten die Zweitsprache nicht abgewöhnen, kann öffentlich auf die eine Art palavern und privat dann „im engsten Kreise“ äußern, was überhaupt zu denken und zu sagen wäre. Schmuddelkinder aber sind immer „braun“, sie spielen im und mit Schmutz und Dreck. Abgrenzung bitte. Bewerfen, das ginge auch und die gleichgültige wie verstörte Gesellschaft schaut zu und unterstützt mit Spenden- und Steuergeldern, Rundfunkgebühren. Angst muss es freilich ausnahmsweise nicht machen, es ist vielmehr „Aufklärung“ und „wehrhafte Demokratie“ die sich hier vollzieht. Denn schließlich: Weltoffen ist man, buchstäblich sogar seit 2015; dabei natürlich bunt und tolerant, vielfältig, unbedingt inklusiv, demokratisch, divers, nun endlich auch woke. Nur in Parenthese sei besinnlich gefragt: War da nicht einmal was mit jenem/diesem Deutschland und diesem Erwachen? Und siehe, ein paar ideologische, altbekannte Schlagwörter sind verblieben und werden uns weiterhin um die Ohren gehauen — antiimperialistisch, antikolonialistisch, antirassistisch, antifaschistisch dann aber vor allem. „Antifaschismus“ — Chiffre für das „neue“ wie das „beste“ Deutschland.

Unser Handeln und Leben nun im neuen Haus hat zu sein — dann könnte es vielleicht gar heimatlich werden - gerecht, sensibel, transparent, gewalt- wie auch diskriminierungsfrei. Der Schädel freilich bleibe dabei gesenkt. Neuerdings maskiert man sich sogar. Übermütigkeit ist — angesichts des historischen Schlamassels — für alle Zeit zu vermeiden. „Nie wieder!“, da war und ist sie wieder, die alte und neue Beschwörungsformel. Propaganda wäre freilich überflüssig, gäbe es nicht eine große und weiter anwachsende Zahl von ortsgebundenen Bürgern, die sich der politischen Realitätsklitterung gegenüber abständig verhielten. Doch die sich moralisch überlegen wähnenden Politik- und Medieneliten haben länger schon vergessen, dass es der Politik um die Handwerkskunst der geschichtlichen Gemeinschaftsbildung zu tun ist. Sie verquirlen Politik und Moral und können dann nicht mehr anders, als rundum Rückständige und Uneinsichtige zu erblicken, denen nur mit therapeutischen Mitteln beizukommen ist. Den gänzlich Unbelehrbaren bleibt als Raison die öffentliche Zurschaustellung oder Disziplinierung.

„Wir haben mit den Partei- und Staatsfunktionären in bestem Vertrauensverhältnis zusammengearbeitet, wo es um materielle und ideelle Voraussetzungen für die Entwicklung unserer Literatur gegangen ist. Wir sind uns sicher in der Absicht einig, uns von diesem Kurs nicht abbringen zu lassen. Dann sollten wir aber auch in der Absicht einig sein, jenen scharf zu widersprechen, die uns auf unserem Wege stören wollen“, betonte seinerzeit der Vorzeigeschriftsteller und Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR Hermann Kant.

Damals wie heute gab es die Konsens-„Störer“, gab es die Grenze im „Wir“. „Wir“ gegen „die da“, Freund gegen Feind, hieß es auch damals, verächtlich war die Rede von „denen“ und von den „falschen Leuten“. Damals wie heute dröhnte dieser ideologische Singsang hinein in die Schulen, in die Hörsäle der Fachschulen und Universitäten. In unserem Deutschunterricht galt es, von Goethe bis Hauptmann den Klassenstandpunkt aufzuspüren. Nur eines war dabei unerwünscht: das nachdenkliche Fragen, denn das war ein „Stören“. Es wurde „durchregiert“ — auch damals — in der DDR.

Aufgeschwemmte Feistigkeit und Blähungen

Ach, es ist alles so vertraut, dem ehemals sozialistischen Staatsbürger. Auch die „neue“ Gesinnungsschnüffelei ist ihm eben nicht neu, nur „Führungsoffiziere“ sind unnötig geworden, der „informelle Mitarbeiter“, der Denunziant, nun „Hinweisgeber“ genannt, kommt dafür neu in gute Stellung. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, grüßt uns Franz Kafka. Es grüßt zurück das Bundesjustizministerium mit einem Liberalen (!) an der Spitze: Gegen „Hass und Hetze“ soll eine deutsche Version des „Hinweisgeberschutzgesetzes“ in Stellung gebracht werden. „Wer verfassungsfeindliche Äußerungen von Beamtinnen und Beamten meldet, soll künftig unter den Hinweisgeberschutz fallen und somit vor Repressalien geschützt sein“, lautet markig gleich der erste Satz der Meldung, mit der die Bundestagsverwaltung über das Gesetz informiert. Selbst zur anonymen Denunziation soll es die Möglichkeit geben — der Anlass darf dabei auch „unterhalb der Strafbarkeitsschwelle“ liegen.

Wo sind wir angekommen, wo hingekommen? Auch sie erscheint manchem Zeitgenossen im Krankenstand, diese neue Republik. Aufgeschwemmte Feistigkeit und Blähungen sind deren Symptome und verkaufen sich dabei als Politik.

Ist da etwa das Lachen des Genossen Mielke zu vernehmen? Ist das mit der Besinnlichkeit tatsächlich ein so guter Wunsch? Mich schaudert …

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten — liest man — steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

— Jakob van Hoddis, 1911

… im Osten donnern wieder die Geschütze, ein Schlachten neuerlich, sinnlose Opfer, sinnloses Leid, sinnlose Trauer.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Ostdeutsches Besinnen“ bei TUMULT.