Oreschnik und Huawei
Russland ist dabei, den Westen militärisch zu überholen, gegenüber China gerät er ökonomisch ins Hintertreffen. Außer Arroganz haben USA und Europa dem bisher wenig entgegenzusetzen.
Oreschnik und Huawei. Beide Worte stehen in keinem direkten Zusammenhang. Aber sie offenbaren zwei unterschiedliche Entwicklungen, die die Vorherrschaft des politischen Westens infrage stellen. Während Oreschnik eine militärische Stellung angreift, bedroht China die der westlichen Wirtschaft.
Verzweiflungstaten?
Lange hat sich US-Präsident Joe Biden geweigert, der Ukraine den Einsatz von ATACMS-Raketen in die Tiefe Russlands zu erlauben. Doch nun scheint ihm alles egal geworden zu sein angesichts seiner krachenden Niederlage bei den US-Wahlen im vergangenen November und der Fortschritte der russischen Armee an den Fronten des Ukrainekrieges. Nach mir die Sintflut, selbst um den Preis des millionenfachen Todes der amerikanischen Bevölkerung und gar der eigenen Nachkommenschaft?
Man ist erinnert an Hitlers Worte vor seinem Selbstmord und der bedingungslosen Kapitulation seines tausendjährigen Reiches, dass das deutsche Volk es nicht besser verdient habe unterzugehen, wenn es die slawischen „Untermenschen“ nicht besiegen könne.
Herrscht da bei Biden und einigen seiner Hinterleute dasselbe Denken: Wenn dieser Putin siegt, dann ist ohnehin alles verloren? Wenn der Russe schon nicht aufzuhalten ist, dann soll’s halt Raketen über Moskau regnen; dann soll die Welt untergehen zusammen mit seiner Präsidentschaft? Für eine solche Endzeitstimmung spricht auch Bidens Begnadigung seines Sohnes Hunter. Welchen Schaden das politische System der USA dadurch nimmt, ist ihm egal. Für ihn geht es nur noch um Persönliches. Auch wenn es sich um politische Führungskräfte handelt, darf man nicht glauben, dass diese nur von übergeordneten Interessen gesteuert sind. Leute wie Biden haben auch die Macht, private Interessen über politische zu stellen. Da unterscheiden sie sich nicht von Menschen wie Du und Ich, erst recht wenn sie im Gegensatz zu den Normalsterblichen auch die Mittel dazu haben.
Vielleicht ist auch der weit verbreitete Gedanke bestimmend, der seit Beginn des Krieges immer wieder und immer häufiger zu hören war, wenn die vorhergesagte Eskalation nicht eintrat: „Es wird schon nichts passieren. Wir haben schon so viele rote Linien Russlands überschritten und es ist nichts passiert. Putin blufft.“ Wie sonst soll man diesen globalen Selbstmordversuch Bidens verstehen, wenn er Kiew erlaubt, Raketen nach Russland zu schicken? Er weiß doch, dass die Russen mit Atomschlägen gedroht haben, wenn die Existenz ihres Landes bedroht ist. Mit der Anpassung der russischen Doktrin an die veränderte Situation durch den Ukrainekrieg war diese Schwelle unlängst noch gesenkt worden. Haben Biden und seine Hintermänner immer noch nicht erkannt, dass es den Russen ernst ist?
Dass die Erde sich immer noch dreht, lag nicht an Bidens Unerschrockenheit, auf die roten Linien Russlands zu pfeifen. Es lag auch nicht an seiner oder westlicher Selbstüberschätzung, dass die Russen den Schwanz schon einziehen, wenn man nur lange und fest genug draufhaut. Der politische Westen zehrt noch heute von dem Triumph, den er glaubt, mit dieser Taktik 1961 vor Kuba gegenüber der Sowjetunion errungen zu haben und die er in ihrem Untergang wieder bestätigt sah.
Dass die Erde sich noch immer dreht und die Russen nicht zu Atomwaffen hatten greifen müssen, um dem Westen die Grenzen seiner Möglichkeiten aufzuzeigen, lag an einem bescheidenen Haselnussstrauch. Die Oreschnik, nun bekannt gewordenes neuestes Produkt der russischen Raketentechnik, schließt die Lücke zwischen dem konventionellen Waffeneinsatz, der in seiner Wirkung begrenzt ist, und dem Einsatz von Atomwaffen, die in ihrer Verheerung und Nachwirkung grenzenlos sind.
Oreschnik — na und?
Nach dem Einsatz von Atomwaffen gibt es keine Grenze mehr. Die Eskalation hat damit ihre Endstufe ohne jede weitere Steigerungsmöglichkeit erreicht. Denn auch für den mit Atomwaffen Angegriffenen gibt es keinen Grund mehr für Zurückhaltung. Wenn er schon selbst im thermonuklearen Weltenbrand untergehen soll, dann soll der Gegner mit ihm in den Abgrund gerissen werden. Und wenn schon einer dieses Inferno überleben sollte, dann soll es jedenfalls nicht der Gegner sein, weil man selbst auf den Einsatz dieser Waffen verzichtet hätte.
Dieser Entgrenzung im Einsatz der Waffen folgt die Grenzenlosigkeit der Nachwirkungen. Die atomare Verseuchung wird keinen Halt machen an den Landesgrenzen. Der atomare Winter, der der Verdunklung der Sonne mit ihren wärmenden, lebensspendenden Strahlen folgt, macht keinen Unterschied zwischen den Überlebenden.
Alle Unterschiede, die bis dahin zwischen den Menschen bestanden und die man ihnen immer wieder als Grundlage für Feindbilder eingeredet hat, werden verschwunden sein. Das Menschengeschlecht ist dann endlich vereint — im Massengrab und Elend.
Diese Zwangsläufigkeit hat die Oreschnik durchbrochen. Bevor also Russland gezwungen ist, mit Atomwaffen auf die anhaltenden Versuche seiner Vernichtung zu reagieren, steht ihm nun eine Waffe zur Verfügung, die dieselbe strategisch-militärische Wirkung erzielt wie Atomwaffen, ohne aber den nuklearen Schlagabtausch von sich aus zu eröffnen. Damit ist Russland gegenüber dem politischen Westen strategisch im Vorteil, ganz abgesehen von seinen sonstigen Waffen wie den Hyperschallraketen, denen die NATO-Staaten bisher wenig an Abwehrmöglichkeiten, geschweige denn Vergleichbares entgegenzusetzen haben.
In der Öffentlichkeit hat der politische Westen bisher kaum auf die Oreschnik reagiert. Obwohl viele Videobeiträge ihre Zerstörungskraft beim Angriff auf den Juschmasch-Rüstungskomplex in Dnjepropetrowsk belegen, versuchten die meisten Medien in der Folge, die Wirkung der neuen russischen Rakete herunterzuspielen. Schnell fand sich auch ein sogenannter Experte, der dies bestätigte: „Aus technischer Sicht schießt Russland mit Kanonen auf Spatzen (…), zudem sei die Rakete nicht sehr präzise“ (1). Dennoch hatten die Einschläge ihrer Mehrfachsprengköpfe trotz Putins Vorwarnung an die Amerikaner nicht verhindert werden können. Es gab offensichtlich keine Abwehrmöglichkeit.
Aber gerade dieses Schweigen der Meinungsmacher und Entscheider im politischen Westen belegt nicht die Bedeutungslosigkeit dieses Ereignisse, sondern vielmehr das Entsetzen im eigenen Lager, sprachloses Entsetzen. Da ist etwas im russischen Arsenal ohne Entsprechung in den eigenen Beständen.
Die Russen verfügen offensichtlich über eine Waffe, auf die es keine Gegenwehr und keine eigene Antwort gibt — außer der atomaren. Aber vor der scheuen die Amerikaner und auch die NATO-Staaten zurück.
Die Erleichterung in vielen westlichen Hauptstädten war mit den Händen zu greifen gewesen, als Biden der Ukraine endlich den Einsatz der ATACMS gegenüber Russland erlaubt hatte. Viele glaubten, dass die strategische Wende damit nun endlich erreicht werden könnte. Die Briten und Franzosen legten sofort nach mit der Bereitstellung ihrer Storm Shadow und Scalp. Auch der Druck auf Olaf Scholz nahm wieder zu, nun endlich den Taurus an die Ukraine zu liefern. Und schon flogen auch die ersten dieser Waffen in Richtung Russland, kaum dass die Diskussion über ihren Einsatz richtig Fahrt aufgenommen hatte. Die Ukraine ließ keine Zeit verstreichen.
In diesen Siegestaumel schlug die Oreschnik ein, und plötzlich war es ganz still im politischen Westen. Die Engländer legten noch einmal kurz nach mit ihren Storm Shadow in Richtung Briansk. Vermutlich wollte man sich unbeeindruckt zeigen und trotzig weiter machen wie bisher. Aber schon die Franzosen, die kurz zuvor noch den Einsatz ihrer Scalp freigegeben hatten, schossen diese nach dem Einsatz der Oreschnik nicht mehr ab. Seitdem wurde keine weitere westliche Rakete mehr auf russisches Gebiet abgefeuert. Sind den Ukrainern die Waffen ausgegangen? Oder ist diese Zurückhaltung doch nicht eher zu erklären mit der Wirksamkeit der Oreschnik?
Putin hat bereits angekündigt, dass das russische Militär dabei ist, weitere Ziele für deren Einsatz zu identifizieren. Beim nächsten Mal soll es sich um strategisch bedeutendere Ziele handeln wie Entscheidungszentren, militärische Einrichtungen und Waffenfabriken. Ist die neuerliche Zurückhaltung auf der Gegenseite nicht vielleicht auch mit der Erkenntnis zu erklären, dass Oreschnik solche Ziele nun konventionell zerstören kann, die vorher nur mit Atomwaffen hätten vernichtet werden können? Diese Hemmnis ist für Russland nun weggefallen. Atomwaffen sind nicht mehr nötig. Durch den amerikanischen Atomschirm regnet es rein. Es regnet Haselnüsse.
Sechs Nanometer Unterschied
Der Einschlag der Oreschnik war spektakulär, auch wenn man im politischen Westen versucht, ihn kleinzureden. Die Rakete legte nicht nur das Juschmasch-Werk in Trümmer, sondern auch den Irrglauben des Westens an die eigene strategische und waffentechnische Überlegenheit. Weniger Aufmerksamkeit erregte ein anderes, fast zeitgleiches Ereignis, das auch verdeutlicht, wie es um die westliche Vorherrschaft inzwischen bestellt ist.
Ebenfalls im November hatte der chinesische IT-Konzern Huawei seine neuen Modelle der Mate-70-Reihe der Öffentlichkeit vorgestellt. Sie werden als wichtiges Indiz dafür angesehen, „wie weit China im Bemühen um Autonomie in der Chip- und Tech-Wirtschaft vorangekommen ist“ (2). Die Fachwelt bescheinigt der chinesischen Chipindustrie „beeindruckende Fortschritte“ (3). Denn trotz aller Sanktionen vonseiten der US-Regierung, die selbst die Unternehmen verbündeter Staaten zum Verzicht auf den chinesischen Markt gezwungen hat, konnten die Chinesen Googles Betriebssystem Android durch das eigene System „Harmony“ ersetzen.
Nicht nur die technischen Daten und Vorteile sind beeindruckend. „Das Unternehmen hat laut eigener Aussagen bereits 15.000 Anwendungen für sein Ökosystem gesichert und strebt eine Erweiterung auf 100.000 Apps in den kommenden Monaten an“ (4). Viel wichtiger aber ist, dass Huawei nun seine Geräte mit 6-Nanometer-Prozessoren ausgerüstet hat, die in China selbst hergestellt wurden. Diese sind zwar denen aus Taiwan und Südkorea, die bereits im 3-Nanometer-Bereich arbeiten, noch unterlegen, „doch kommen die rot-chinesischen Halbleiter der Weltspitze ziemlich nahe“ (5).
Das bedeutet, dass der Abstand trotz aller Behinderungen schmilzt. Der Aufholprozess der chinesischen Industrie und ihrer Fachleute schreitet offenbar schneller voran als der Ausbau des Vorsprungs der westlichen Chip-Industrie.
Während die westlichen Hersteller sich weitestgehend auf die Prozessoren für den KI-Einsatz konzentrieren, hat China die herkömmlichen Industriechips im Visier. Denn diese braucht es für den Einsatz in E-Autos und sonstigen modernen Konsumgütern. Es sind aber gerade diese Produkte, die die Ertragskraft und Konkurrenzfähigkeit der chinesischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt ausmachen.
Den 6-Nanometer-Chip, den China inzwischen herstellt, können weder die USA, noch Japan und noch weniger Europa selbst produzieren. Dazu sind diese angewiesen auf die Hersteller aus Taiwan und Südkorea. Die moderne westliche Produktion wird im Gegensatz zur chinesischen immer abhängiger von den Produkten anderer Staaten. Wie lange diese sich noch von den USA unter Druck setzen lassen, um Chinas Aufstieg zu behindern, wird sich zeigen. Denn die US-Sanktionen beeinträchtigen nicht nur die chinesische Wirtschaft, sie schmälern auch den Gewinn der Unternehmen der Verbündeten.