Orban, das Kameradenschwein

Der ungarische Präsident schert aus der Phalanx westlicher Kriegsbefürworter aus, was ihm diese zunehmend übel nehmen.

Früher galt der Denunziant als das größte Schwein im ganzen Land. An seine Stelle tritt zunehmend das Kameradenschwein, das aus der Reihe tanzt wie der ungarische Präsident Viktor Orbán. Er schwächt den Zusammenhalt im westlichen Lager und zersetzt dessen Weltbild von innen.

Keine rosigen Zeiten

Der politische Westen feiert in Washington den 75. Geburtstag seiner NATO. Der langjährige Generalsekretär bekommt einen Orden von Joe Biden, Selenskyj die wertlose Zusage, dass der Weg der Ukraine unumkehrbar in das Militärbündnis führt. Das verpflichtet zu nichts, solange es keine offizielle Einladung gibt. Aber es vermittelt der Öffentlichkeit den Eindruck, dass alles reibungslos und nach Plan läuft, auch wenn im Hintergrund Zweifel und Widersprüche zunehmen.

Aber solange die Völker ruhig gehalten werden können trotz aller Einschränkungen und Opfer, die man ihnen für die Ukraine abverlangt, besteht immer noch Hoffnung, dass Russland vor der Ukraine kapitulieren könnte. Nach realistischer Einschätzung jedoch stehen die Chancen dafür schlecht. Diese Erkenntnis setzt sich auch immer mehr im politischen Westen durch. Die russische Armee dringt langsam, aber unaufhaltsam weiter vor nach Westen, während dessen Munitions- und Waffenlieferungen bei weitem nicht die gemachten Zusagen erfüllen und schon gar nicht den Bedarf der Ukraine decken, um diesen Krieg zu gewinnen.

Als großer Erfolg wurde da auf der Feierveranstaltung bereits gewertet, dass man nun doch noch ein fünftes Raketenabwehrsystem für die Ukraine auftreiben konnte, wobei eines davon aus den Einzelteilen verschiedener Staaten zusammengekratzt werden musste. Die Abgabebereitschaft der westlichen Staaten ist offensichtlich gering; sie wollen ihre Systeme zu ihrem eigenen Schutz behalten. Anscheinend ist der Westen nicht mehr davon überzeugt, dass die Ukraine die Russen aufhalten könnte, wenn diese weiter auf NATO-Gebiet ausgreifen wollen.

Die Geschlossenheit im NATO-System scheint auch immer brüchiger zu werden. Der Krieg will nicht enden. Er wird immer teurer, aber die Möglichkeiten, neue Finanzmittel bereitzustellen, wachsen nicht in demselben Maß, wie die Kosten steigen.

Mittlerweile muss für die 155-Millimeter-Granaten, die Standardmunition der westlichen Artillerie, ein Mehrfaches der Vorkriegspreise gezahlt werden. Gerade eben hat die Bundesregierung „200.000 Stück Artilleriemunition im Wert von 1,31 Milliarden Euro“ (1) bestellt, also 6.500 Euro pro Stück. Vor dem Krieg lag der Betrag um die 1.000 Euro.

Trotz des stolzen Preises ist diese Munition nutzlos, denn es handelt sich dabei nicht um „sogenannte ganze Schüsse (...), die sofort abgefeuert werden können“ (2). Damit die Bundeswehr über tatsächlich einsatzfähige Munition verfügt, „sind über die beschlossenen Beschaffungen hinaus noch weitere Maßnahmen erforderlich“ (3). Die Granaten werden also noch teurer werden. Hinzukommt, dass nicht alle 155-Milimeter-Geschosse mit jedem Geschütz dieses Kalibers kompatibel sind, obwohl es sich doch um Munition nach NATO-Standard handelt. Das ist nicht das einzige Beispiel für die Nachteile der westlichen Waffen gegenüber den russischen.

Diese Probleme im Bereich der Wirksamkeit der NATO-Ausrüstung scheinen den Feiernden in Washington nicht die Stimmung zu vermiesen. Ernüchternder sind dagegen solche Misserfolge wie der Gipfel in der Schweiz vor wenigen Wochen. Darüber redet kaum noch jemand in der Öffentlichkeit des politischen Westens, was aber nicht bedeutet, dass dieser Fehlschlag nicht ohne Wirkung bleibt. Wenn die Waffenlieferungen an die Ukraine auch weiterlaufen, deren Einsatz sogar weit nach Russland hinein erlaubt wurde, so kann all das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Front sich immer weiter nach Westen verschiebt.

Zwar können die Ukrainer mit diesen weiter reichenden Waffen im russischen Hinterland Schaden anrichten, aber die russischen Fähigkeiten der Waffenproduktion und der Truppenverlegung scheinen nicht darunter zu leiden.

Der Einsatz solcher Waffen gegen die Zivilbevölkerung wie unlängst am Strand von Sewastopol führt nicht dazu, die russische Bevölkerung gegen Wladimir Putin und den Krieg in Aufruhr zu bringen und einen Regime-Wechsel hervorzurufen. An der Front aber bewirken nach Russland abgefeuerte Raketen nichts. An der Kontaktlinie ist die Ukraine bedroht, dort steht sie unter Druck, nicht im russischen Hinterland.

Nicht so!

Ob es der politische Westen wahrhaben will oder nicht: Es wird immer offensichtlicher, dass an Verhandlungen mit Russland kein Weg vorbeiführt. Einen ersten Schritt hat nun Viktor Orbán gemacht. Ungarn stellt seit dem 1. Juli 2024 für ein halbes Jahr den Präsidenten des Europäischen Rates. Eine seiner ersten Amtshandlungen war ein Besuch beim ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Anschließend reiste er nach Moskau und Peking.

Diese Initiativen waren nicht mit seinen europäischen Kollegen abgesprochen. Wenn auch die EU über einen eigenen Vertreter für die Außenpolitik verfügt, so sind Außen- und Verteidigungspolitik immer noch gesondertes Vorrecht der einzelnen EU-Staaten. Weder Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer hatte für seinen Besuch bei Putin im April 2022 eine Erlaubnis nötig noch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz für seinen Besuch in China. Das wissen Orbáns Kollegen, dennoch haben sie über dessen Besuch in Moskau großes Geschrei gemacht.

Ungarn trägt die Sanktionen gegen Russland mit. Aber es hat sich bisher stets geweigert, Waffen zu stellen, Waffenlieferungen über sein Staatsgebiet zuzulassen oder ukrainische Soldaten auszubilden. Budapest will nicht aktiver Teil dieses Krieges werden, weil das nach Ansicht der ungarischen Regierung nicht im Interesse des eigenen Volkes ist. Mit dieser Haltung hat es wenig Sympathie im politischen Westen geerntet. Aber sie wird weitgehend toleriert, gibt es doch genug andere Staaten, die diese Aufgaben übernehmen.

Zudem hätte Ungarn damit nicht zu einer merklichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse beigetragen. Deshalb gestand man Budapest diesen Sonderweg zu, ehe man das Risiko einging, es in eine grundsätzliche Opposition zu treiben, in der es Beschlüsse und das Handeln der NATO blockieren könnte. Man wahrte damit Geschlossenheit im Bündnis und schützte es vor unnötigen inneren Auseinandersetzungen. Ein zusätzliches mühsames Kitten von Rissen im NATO-Gefüge wäre da keine Strategie zur Beendigung des Krieges, geschweige denn gar zum Sieg über Russland.

Angesichts der Dauer des Krieges und seiner steigenden Belastungen ist es ohnehin schon schwer genug, die Unterstützung für die Ukraine aufrecht zu erhalten. Das wird an den Schwierigkeiten deutlich, der Ukraine weitere Luftabwehr-Systeme zur Verfügung zu stellen. Je schwächer aber die Ukraine in ihrer Kriegsführung wird, umso mehr drängt sich die Frage auf, was die NATO tun will, um deren Niederlage und den Sieg Russlands zu verhindern.

Die Entscheidung rückt immer näher, ob das Bündnis zur Rettung der Ukraine eigene Truppen stellen will. Aber egal wie die NATO sich entscheidet, scheint nun ein Punkt erreicht zu sein, wo sie entweder zu einer weiteren Eskalation greifen und sich stärker in diesen Krieg einbringen oder aber die Niederlage der Ukraine mehr oder weniger kampflos hinnehmen muss.

Orbán hatte schon des Öfteren vor der zunehmenden Kriegsbereitschaft im eigenen Lager gewarnt und die Kriegsvorbereitungen durch den Einsatz eigener Truppen öffentlich gemacht. Angesichts dieser Eskalationsgefahren hat er nun als Ratspräsident die Gelegenheit genutzt und einen Gesprächsprozess in Gang gesetzt, den alle anderen Kräfte im politischen Westen halsstarrig ablehnen. Diese wollen unbedingt siegen, auch wenn immer deutlicher wird, dass das ohne höheren Blutzoll der Völker im Westen nicht zu erreichen sein wird.

Orbán hat zwar kein offizielles Mandat, hat das auch nicht behauptet oder in Anspruch genommen, und doch hat seine Aktion mehr öffentliches Gewicht, als Ratspräsident mit Putin und Xi zu sprechen denn als der Präsident eines kleinen europäischen Landes. Die Reaktionen seiner Kollegen scheinen das zu bestätigen. Orbán reißt damit nicht nur die Brandmauer ein, dass mit Putin nur aus einer Position der Stärke geredet werden darf und erst, wenn er seine Truppen aus dem Donbass zurückgezogen hat. Der ungarische Präsident straft auch die Behauptungen der westlichen Meinungsmacher Lügen, dass Putin an Gesprächen und Verhandlungen kein Interesse hat.

Lücken in der Wagenburg

Der politische Westen und seine NATO sind nun im Zugzwang. Putin hat Gesprächsbereitschaft gezeigt. Viele politische Schwergewichte in der Welt wie China, Brasilien, die Türkei, auch Saudi-Arabien machen Vorschläge für Friedensinitiativen oder bieten sich als Vermittler beziehungsweise als Ausrichter von Friedenskonferenzen an. Bisher haben die Ukraine und die NATO all diese Angebote rundweg abgelehnt und beharren weiter auf ihrer Forderung, dass Russland als Vorbedingung für Verhandlungen seine Truppen aus der Ukraine abziehen muss. Kaum eine bedeutende politische Kraft außerhalb der NATO hält diese Bedingung für realistisch.

Die Lage ist festgefahren und der Ukraine-Krieg entwickelt sich immer mehr zu einer Zerreißprobe für die EU und die NATO. Wenn auch Ungarn im Verband dieser beiden keine wirkliche Größe darstellt, so bedeutet sein Ausscheren doch eine ernst zu nehmende Schwächung des geschlossenen und entschlossenen Auftretens gegenüber Russland.

Denn andere Staaten, die des Kriegs müde sind, könnten die Nähe zu Ungarn suchen, dessen Haltung unterstützen und damit die Widerstandskraft des politischen Westens beeinträchtigen.

Auffallend ist, dass neben den Balten besonders die ehemaligen europäischen Kolonialstaaten einen besonders straffen Kriegskurs verfolgen. Der europäische Süden scheint eher nur das Nötigste zu tun, und wer weiß, wie lange diese Staaten selbst dazu noch gewillt und wirtschaftlich in der Lage sind. Hierin liegt die Gefahr, die von Orbán ausgeht. Er könnte weitere Befürworter von Verhandlungen finden, jetzt wo er das Gespräch mit Putin in Gang gebracht hat. So hatte bereits der slowakische Präsident Robert Fico betont, dass er sich Orbáns Reisediplomatie angeschlossen hätte, wenn seine gesundheitliche Verfassung dies zugelassen hätte. Auch die Italienerin Georgia Meloni hatte nicht in den Chor der aufgebrachten europäischen Regierungen eingestimmt.

Inzwischen hat Orbán bereits im Europäischen Parlament eine neue Gruppe von Gleichgesinnten aus dem rechten Spektrum um sich scharen können. Sie stellen die eigenen nationalen Interessen in den Vordergrund, die Interessen ihrer Völker. Dazu gehört sicherlich auch die Frage, ob der Krieg in der Ukraine diesem Interesse dient. NATO und EU geben sich nach außen hin geschlossen und von all diesen Entwicklungen unbeeindruckt. Aber die Reaktionen auf Orbáns Reisen sprechen eine andere Sprache.

Überrascht von seinem Treffen mit Putin hatten umgehend „die Spitzen der EU-Organe deutlich gemacht, dass der Ungar nicht für Europa spreche“ (4), was er auch nie behauptet hatte. Weil diese Aussage an Hilflosigkeit nicht zu überbieten war, spielte man als nächstes die Bedeutung Orbáns und Ungarns für die EU und NATO herunter. Das aber scheint nicht zu genügen. Denn inzwischen hat die Kommission der Europäischen Union unter Ursula von der Leyen Strafmaßnahmen gegen Ungarn verkündet und der Außenbeauftragte Josep Borrell ruft dazu auf, das Außenministertreffen in Budapest zu boykottieren. Ob das hilft, die Lücken in der Wagenburg zu schließen?