Optimismus, Coke und Rock ‘n‘ Roll
Die US-amerikanische Kultur hat viele im Westen aufgewachsene Menschen entscheidend geprägt — viele Impulse waren durchaus positiv.
Der American Way of Life war im Nachkriegsdeutschland sicher auch für viele Deutsche eine Triebfeder, um das zerstörte Land wieder aufzubauen und optimistisch in die Zukunft blicken zu können. Denn in den USA war und ist der Grundsatz verbreitet, dass jedes Individuum mit ausreichend Willen jedes Ziel erreichen kann. Die Autorin dieses Essays wurde zwar erst Ende der 1970er-Jahre geboren, durch ihren Vater wurde aber auch sie in ihrer Kindheit von einer recht positiven Sicht auf Amerika und seine westlichen Errungenschaften geprägt. Ein Schauspieler war Präsident, Coca-Cola machte irgendwie glücklich, und die Plattensammlung ihres Vaters weckte früh ihr Interesse für amerikanische Musik der 1950er- bis 80er-Jahre und für Musik im Allgemeinen. Und sicher hat sie durch ihn auch ihre Freiheitsliebe mit in die Wiege gelegt bekommen.
Zwischen Hitler und sowjetischer Besatzungszone
Mein Vater wurde am 1. Mai 1945 in Potsdam-Babelsberg geboren. Ein denkwürdiger Tag, ein denkwürdiges Jahr und ein denkwürdiger Ort in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Einen Tag zuvor, am 30. April 1945, hatten sowjetische Truppen das Regierungsviertel im angrenzenden Berlin erobert, worauf Hitler und andere Konsorten Selbstmord begingen. Am 2. Mai dann kapitulierte der Stadtkommandant, General Helmuth Weidling, womit der Kampf um Berlin beendet war. Die Aufteilung Deutschlands in drei Besatzungszonen war bereits im Februar in Jalta auf der Krim beschlossen worden. Hiermit war auch das Schicksal meines Vaters besiegelt, das darin bestand, in der sowjetischen Besatzungszone aufzuwachsen, die zwischen 1949 und 1990 für 41 Jahre „Deutsche Demokratische Republik“ heißen sollte.
Das Land lag in Schutt und Asche, ein großer Teil der Weltbevölkerung war gerade hinreichend traumatisiert worden und das Leben schien nicht viel bereitzuhalten für eine kleine Seele, die gerade auf diesem Planeten gelandet war. Aber halt! … Dies ist eine Geschichte vom unaufhaltsamen Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung. Und dies ist eine Geschichte vom Rock ‘n‘ Roll.
Fröhlich um 5
Alles begann mit AFN Berlin. American Forces Network. Der Sender, der die Sehnsucht nach der großen weiten Welt weckte. Die Legende sagt, dass am 17. Juli 1945 ein paar US-Soldaten mit ihrem Jeep in Berlin eingetroffen waren, um innerhalb von 17 Tagen eine Radiostation einzurichten, die sich eigentlich an die stationierten amerikanischen Soldaten richten sollte. Spätestens 1958 mit der Sendung „Frolic at 5“ war sie dann aber ein wichtiger Bestandteil im Leben vieler Berliner sowie im Leben meines Vaters. „Hey, hey, hey, what do you say?“ begrüßte der Army Sergeant und Discjockey George Hudak den kleinen Norbert und eine wachsende Schar an Fans fünfmal in der Woche.
Es drangen bis dahin ungehörte Klänge von Paul Anka, Buddy Holly, Wanda Jackson, Pat Boone, Ricky Nelson, den Everly Brothers und vor allem Elvis in die kleine Drei-Zimmer-Wohnung in der Friedrich-Engels-Straße. Zum Glück für Norbert hatte seine Mutter das braune Röhrenradio aus Vorkriegszeiten vor den russischen Soldaten unter den Kohlen im Keller gerettet. Die Soldaten waren im Krieg auf der Suche nach etwas freudespendender Abwechslung durch die Häuser gezogen, um Radios mitzunehmen. „Das haben eure Kameraden schon mitgenommen“, hatte sie ihnen nur gesagt.
Mit der S-Bahn in die große weite Welt
Schnell war der Wunsch bei meinem Vater geweckt, selber Sänger werden zu wollen. Vor allem, weil die Menschen in den amerikanischen Musik-Filmen so gut zu essen hatten. Und amerikanische Filme waren die zweite Leidenschaft meines Vaters. So oft es ging fuhr er bereits als 12-Jähriger mit der S-Bahn nach West-Berlin, um dort im Kino Filme wie den Gary Cooper Western-Klassiker „High Noon“ — 12 Uhr mittags“ — oder Elvis-Filme wie „Gold aus heißer Kehle“ oder den „GI Blues“ anzuschauen. Im letzteren verdrehte der „King of Rock ‘n‘ Roll“, Elvis Presley, als amerikanischer Soldat deutschen Mädchen den Kopf, was er auch im wahren Leben tat. Nicht zuletzt den seiner künftigen Ehefrau Priscilla Presley, als er von Oktober 1958 bis Februar 1960 tatsächlich in Deutschland stationiert war. Norbert suchte währenddessen Kinos wie das Aladin, Zentrum, City oder die Kamera auf, um mit seinen Idolen dem grauen Nachkriegsdeutschland über den großen Teich zu entfliehen.
Es wäre zu viel gesagt, wenn ich behaupten würde, dass die Musik und die Filme ausschlaggebend für die Flucht meines Vaters in den Westen waren. Vielmehr hatte er oft das Gefühl, nicht in die Gesellschaft zu passen, in der er aufwuchs.
Als knapp Siebenjähriger fünf Monate wegen Tuberkulose in einem Krankenhaus zu verbringen, das von Nonnen betreut wurde, die keine Kinder zu mögen schienen, muss dieses Gefühl massiv verstärkt haben. Dass er mit zehn oder elf Jahren dann ein Jahr gegen den Willen seiner Mutter in einem staatlich geführten Heim hatte verbringen müssen, hat sicher sein Übriges getan. Aber auch die enge Anbindung an die Familie in West-Berlin und den Onkel, von dem er Weihnachten 1957 seinen ersten Plattenspieler geschenkt bekam, weckten die Sehnsucht. Wo er war, erlebte er nur Einengung und Bevormundung. Der Kommunismus missfiel ihm ebenso wie der restliche Staat, in dem er aufwuchs. Der Rock ‘n‘ Roll dagegen als Ausdruck des Protestes gegen die als „eng und spießig“ empfundene Gesellschaft und die Bilder von fernen Ländern, die er in den Kinos sehen konnten, ließen seinen Entschluss reifen.
Jailhouse Rock
Mit dem Lebensgefühl von „Rhythmus hinter Gittern“ und dem „Jailhouse Rock“ im Blut war für Norbert kein Leben in einem sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat möglich. Als 1961 die Mauer gebaut wurde und die S-Bahn nicht mehr wie gewohnt nach Berlin-Frohnau Richtung Kino, sondern einfach gar nicht mehr fuhr, entschieden er und sein Kumpel sich kurzerhand zur Flucht. Schon am nächsten Tag fuhren sie zur Bernauer Straße, um über den Sophienfriedhof in der angrenzenden Ackerstraße rüberzumachen. Doch die wachsamen Patrouillen griffen die beiden Jugendlichen auf und brachten sie ins Polizeigefängnis in der Keibelstraße. Einen Ort, der an die amerikanische Gefängnisinsel Alcatraz oder die beklemmenden Kerkerzeichnungen eines Piranesi erinnert.
Bei der Gerichtsverhandlung waren die anklagenden Worte der Richterin: „Sie sind Anhänger eines geistesgestörten Bill Haley.“ Da konnte mein Vater nur lachen. „Ich bin Elvis-Fan“, antwortete er und bekam eineinhalb Jahre Jugendknast in Luckau aufgedrückt, zu dem er mit dem berüchtigten Grotewohl-Express gebracht wurde. Hier gab es nichts Amerikanisches, und russische Propagandafilme, die sich die jungen Leute stundenlang anschauen mussten, langweilten ihn. „Wie der Stahl gehärtet wurde“ oder „Lenin im Oktober“ verfolgten keinen anderen Zweck, als den jugendlichen, meist politischen Gefangenen deutlich zu machen, wie ihr zukünftiges Leben aussehen müsse. Sie sollten gute sozialistische Menschen werden.
Die Musik, mit der die Häftlinge beschallt wurden, war nicht besser. Ost-Schlager liefen über die Lautsprecher der Gefängnistrakte. Da waren die Freude und das Gelächter groß, als jemand eines Tages den falschen Sender eingeschaltet hatte und eine Stimme den arbeitsreichen Alltag erhellte: „Hier ist Rias Berlin — eine freie Stimme der freien Welt.“ Die Wärter nahmen die Beine in die Hände und rannten, was diese hergaben, um den Frevel zu unterbinden. Zum Glück musste Norbert nach einem Dreivierteljahr entlassen werden, da das Gefängnis heillos überfüllt war.
Go West
Ein Leben auf dieser Seite der Mauer war für den jungen Wilden nun unmöglich geworden. So trat er wenig später, einen Tag vor seinem 18. Geburtstag erneut die Flucht an. Diesmal schwamm er gemeinsam mit einem Bekannten durch den Teltow-Kanal. Und diesmal gelang die Flucht nach West-Berlin. Zunächst kamen sie mit Unterkühlung ins Krankenhaus, anschließend in ein Flüchtlingslager. Der ostdeutsche Anhänger amerikanischer Rockmusik wurde nun regelmäßig mit einem Chevrolet abgeholt, um den amerikanischen Militärs Informationen über das Regime zu geben, vor dem er gerade geflohen war. Das konnte dem jungen Mann nur gefallen.
Nach zwei Wochen in Berlin-Marienfelde wurde er nach Rastatt in Baden-Württemberg ausgeflogen. Er wurde zwar kein Sänger, aber nachdem er für verschiedenste Jobs quer durch Deutschland gezogen war, heuerte er 1968 im Hamburger Hafen auf seinem ersten Schiff, der „Freiburg“, an, um seine erste Reise nach Westindien anzutreten — Mittelamerika! 1969 landete er schließlich in den USA, dem Land aus den Filmen seiner Jugend. Es ging über die Great Lakes von Kanada bis nach Chicago. Von nun an waren die Vereinigten Staaten von Amerika häufiger sein Ziel. Auf seinen Reisen als Steward wurde die Ladung oft in der Karibik gelöscht und in den Südstaaten zwischen Florida und Georgia neue Ladung an Bord genommen. Bei seinen Landgängen wurde Norbert nicht enttäuscht. Die kleinen Begegnungen mit Land und Leuten gefielen ihm. Er hatte Freude daran, in den Kneipen zu sitzen, sich Autos und Straßen anzuschauen und sich sein eigenes Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu machen. Themen wie die scheinbar gerade überwundene Rassentrennung oder der Vietnam-Krieg waren bei diesen Stippvisiten fern.
Love me tender
Doch irgendwann endete auch diese Zeit. 1974 traf er meine Mutter, als er auf Heimaturlaub in Babelsberg war. Sie lernten sich im „Haus des Handwerks“, einem Potsdamer Tanzlokal, kennen und lieben. Da er es irgendwann leid war, immer wieder in den Osten fahren zu müssen, um seine Auserwählte sehen zu können, musste ein neuer Plan her. Es dauerte nur ein halbes Jahr, bis er sie schließlich im Kofferraum seines grau-beigen Ford 12M mit schwarzem Dach über den Grenzübergang Helmstedt in den Westen holte. Aber das ist eine andere Geschichte …
Die beiden bekamen eine Tochter und die Plattensammlung wuchs. Fünfmal zog es das Ehepaar in die Vereinigten Staaten, wo sie die Ost- und die Westküste erkundeten. 1988 fand unsere erste gemeinsame Flugreise in die USA statt. Es ging mit einem gemieteten Toyota von New York nach Florida und wieder zurück nach New York. Und eines Tages auf dieser Reise standen wir vor dem Haus des Mannes, den sie den „King“ nannten — den König des Rock ‘n‘ Roll. „Villa Graceland“, Memphis Tennessee, das Anwesen, auf dem Elvis zwanzig Jahre seinen Wohnsitz hatte, wo er auf seinen Fernseher geschossen hatte, und wo neben seinen goldenen und platinfarbenen Schallplatten seine Sammlung an Porsches, Ferraris, Cadillacs und anderen Luxusschlitten ausgestellt ist. Die Villa, in der er schließlich tot aufgefunden wurde, als meine Mutter gerade im dritten Monat schwanger war, und wo er begraben ist.
Quellen und Anmerkungen
Endphase und Kriegsende; Thomas Vogel; Bundeszentrale für politische Bildung; https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/der-zweite-weltkrieg/199402/endphase-und-kriegsende/; Zugriff: 18. August 2023
USA 6941st Guard Battalion Kameradschaft e.V.; AFN Berlin; https://6941st-gdbn.com/afn-berlin/; Zugriff: 18. August 2023
West-Berlin! Berlin (West)!! Westberlin!!!; https://west-berlin.tumblr.com/post/107695853911/frolic-at-five-afn-live-wittenbergplatz; Zugriff: 18. August 2023
Graceland — The home of Elvis Presley; https://www.graceland.com/