Öffentlichkeit als Auftrag
Was erwarten die Bürger von den Medien? Exklusivabdruck aus „Breaking News“.
Die Frage sei wiederholt: Was erwarten wir vom Journalismus, von den Massenmedien? Und was wollen wir uns das am Ende kosten lassen? Wollen wir nur positive Nachrichten und aus dem Ausland auch in Presse und Fernsehen Reportagen nach Art der »Reiseliteratur«, wie Alain de Botton vorschlägt? Oder geht es eigentlich um Standortpolitik, um wirtschaftlich starke Medienunternehmen?
Dann könnte man hier aufhören, denn in ihrer Existenz bedroht sind die großen Anbieter durch den Imperativ der Aufmerksamkeit nicht. ProSiebenSat.1 kauft eine Partnervermittlung — Parship Elite, im September 2016, 100 Millionen Euro für die Aktienmehrheit — und wird weiter Geld verdienen, so oder so. Burda, Bertelsmann, Springer: alle längst auf einem ähnlichen Weg. Bedroht ist, was soziale Funktionssysteme wie die Massenmedien für die Gesellschaft leisten sollen. Betonung auf »sollen« und damit offen für die Debatte. Schafft die Zwangsgebühren ab, legt ARD und ZDF zusammen: Da wird das Soll ziemlich schnell schrumpfen.
Hanns Joachim Friedrichs konnte sein Berufsethos noch auf eine einfache Formel bringen: informieren und aufklären, Punkt. Ulrich Wickert weiß 20 Jahre später, dass es schwierig geworden ist, »den Vater des kategorischen Imperativs als Maßstab für Journalismus« zu benennen. »Meine ganz persönliche Ansicht«, liebe Kritiker. Aufklärung, trotz alledem. Macht von eurer »Vernunft in allen Bereichen öffentlichen Gebrauch«. Trennt Wichtiges von Unwichtigem, und lasst das Private privat bleiben. Wisset um Denktabus, verschleiert die Tatsachen nicht vor lauter politischer Korrektheit und gebt den Menschen stattdessen Orientierung. Beschäftigt euch mit Inhalten und Programmen und nicht mit der politischen Figur. Lernt die »Kunst des Unterlassens«. Übersetzt: John Kerry und Joe Biden, natürlich. Aber nicht Radunfall und Familientrauer. Zumindest nicht ganz vorn, nicht als Aufmacher.
Man kann es auch eine Nummer kleiner haben als die Kant-Jünger Friedrichs und Wickert. »Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag«, sagt der Journalismusforscher Horst Pöttker, sagen auch die Demokratietheoretiker, für die das System Massenmedien ein Marktplatz der Ideen ist, ein Feld der Verständigung oder ein Scharnier zwischen Staat und Bürgern. Pöttker hat schon 2001 »ein gerüttelt Maß an innerer Unsicherheit bei den Journalisten und ihren Auftraggebern« gefunden, »was Journalismus eigentlich tun und lassen soll, was man billigerweise von ihm (nicht) erwarten kann«, und vermutet, dass Journalisten eher »gegen äußere Einflüsse« gefeit wären und »Besseres leisten« könnten, wenn ihnen klarer wäre, welche »professionelle Aufgabe« sie zu erfüllen haben.
Öffentlichkeit herstellen: Für Pöttker ist der Journalismus ein »Gegengewicht zur funktionalen Parzellierung« der Gesellschaft. Offen für alle, auch für alle Themen, weil »Geschlossenheit und Isoliertheit der gegebene Zustand« in der Moderne seien. Wichtig ist hier das Wörtchen »alle«. In der Doku »Vertrauen verspielt? Wie Medien um Glaubwürdigkeit kämpfen«, die am 11. Juli 2016 im Ersten lief, erzählt Ulrik Haagerup, Nachrichtenchef beim Dänischen Rundfunk, wie er nach und nach verstanden habe, dass die Zuschauer seine Sendung nur dann akzeptieren können, wenn sie selbst mit all ihren Sorgen und Nöten zu Wort kommen. Wenn auch die Parteien, die den Medieneliten nicht gefallen, gleichberechtigt behandelt werden.
Horst Pöttkers »Qualitätsdimension Wahrheit«. Unabhängig, richtig, vollständig, wahrhaftig. »Öffentlichkeit muss hergestellt werden.« Wenn man so will: das »Parlament der Funktionen oder Logiken«, das Armin Nassehi vorschlägt, um die Übersetzungskonflikte moderner Gesellschaften zu lösen.
Identität und ein übergeordneter Sinn: Das sind zwei Eigenschaften, die die Resilienz von Menschen stärken und auch die Resilienz von sozialen Systemen. Eine Religion zum Beispiel, eine politische Idee, eine Berufsideologie. Die Resilienzforschung gibt Horst Pöttker recht und adelt die Wahlkampfrhetorik von AfD und CSU, weil die Attacken auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Debatte befeuern. Was soll der Journalismus leisten, und was wollen wir dafür bezahlen? Dass hier etwas abfällig von Rhetorik gesprochen wird, hat mit der Resilienzbrille zu tun. Unterschiedliche Organisationsformen, Redundanz: Beides macht Organisationen, Gemeinschaften und soziale Funktionssysteme sturm- und wetterfest.
Also ja zur Triade Gebühren–Werbung–Pay-TV, ja zu Tagesschau und heute, ja zu neuen Ideen. Stiftungen und Mäzene, Zeitungen, die nur jeden dritten Tag erscheinen, und Altruisten, die unbezahlt bloggen: Warum nicht? Gut für das Publikum, gut für die Resilienz des Systems, genau wie zwei große öffentlich-rechtliche Nachrichtenredaktionen, weil Journalisten nichts häufiger tun, als ihre Kollegen zu beobachten, und daran auch die Qualität der eigenen Arbeit messen. An dieser Stelle nicht unwichtig: Auch kommerzielle Anbieter stärken die Resilienz des Systems – wenn es denn Konkurrenten gibt, die anders finanziert werden. Ein Hoch auf die Vielfalt. Und eine Absage an Julia Cagé, die den Kapitalismus für die Mutter aller Übel hält, dem Medienmarkt nicht zutraut, noch mehr Akteure zu verkraften, und als Ausweg einen Zwitter aus Stiftung und Aktiengesellschaft vorschlägt.
Was lässt sich noch aus der Resilienzforschung lernen? Professionelle Skepsis. Transparenz. Selbstregulierung und Selbstkontrolle. Quer- und Andersdenker nicht nur dulden. Strukturen aufbauen, die sich vielleicht nicht sofort rechnen, aber erlauben, nach Störungen zu suchen. Der Film Spotlight von Tom McCarthy porträtiert ein Redakteursteam in den USA, das monatelang an einem Thema arbeiten kann, ohne zu wissen, ob dabei etwas Druckbares entsteht. Hier das System katholische Kirche, das sexuellen Missbrauch deckt. Eine große Story und großer Widerstand. Von den Honoratioren, natürlich, aber auch im eigenen Haus.
Die Medienkrise, 9/11. Jeder Reporter wird gebraucht. Das ist Hollywood, schon klar. Trotzdem: Der Boston Globe bekommt den Ruhm und Spotlight 2016 den Oscar, weil der Film nicht nur an sich großartig ist, sondern resiliente Strukturen porträtiert, die sich die Medienbranche wünscht und die sie braucht: ein Team, das jeder Unternehmensberater sofort entlassen hätte, und einen Chef, der in der Lage ist, sehr unterschiedliche Befindlichkeiten zu moderieren.
Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag: Dazu braucht es den Popanz nicht, den Journalisten auch hierzulande vor sich hertragen. Objektiv und neutral, ausgewogen und vollständig: Wie soll das gehen, bitteschön? Was aber geht: drucken, senden, freischalten, was die Gesellschaft wissen muss, weil es viele angeht oder alle. Dazu sagen, woher man das Material hat, wem es möglicherweise helfen könnte und wie man selbst dazu steht. Horst Pöttker nennt das »professionelle Grundpflicht zum Publizieren«. Grundvoraussetzung: Medienfreiheit.
Deutschland ist nicht Frankreich, wo sich Unternehmer und Konzerne Tageszeitungen und TV-Kanäle leisten, nicht Rumänien oder Bulgarien, wo Oligarchen das Gleiche tun, und auch nicht Mexiko, wo zwei riesige Medienunternehmen den gesamten Markt beherrschen und so eng mit den anderen Eliten verflochten sind, dass man gar nicht genau sagen kann, wer dort Politik macht und wer Fernsehen.
Trotzdem: Zur Freiheit gehört, dass es der Bundeskanzlerin egal ist, wer beim ZDF Chefredakteur wird, und dass die Staatskanzlei nicht beim Intendanten anruft, wenn der Bericht einer Landesrundfunkanstalt ganz oben missfallen hat. Zur Freiheit gehört, sich ein Team wie Spotlight zu leisten und Dinge zu bringen, bei denen man schon vorher weiß, dass sie am Massengeschmack vorbeigehen.
Zur Freiheit gehört auch, am »dominanten Narrativ« zu zweifeln und nicht auf »positive Meldungen« verpflichtet zu werden, wie das zum Beispiel Ulrich Wickert vorschlägt, der die Redewendung »only bad news are good news« für zynisch hält, ganz im Sinne von Alain de Botton. Nicht nur nebenbei: Erst diese Freiheiten machen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von kommerziellen Anbietern unterscheidbar und damit zu einem Resilienzverstärker.
Uwe Krüger, der Journalistenausbilder aus Leipzig, hat sich am Ende seines Buchs gewünscht, dass das Publikum »mit mehr Empathie als bisher auf die Bedingungen schauen« möge, »unter denen Journalisten ihre Inhalte produzieren«. In der Literatur zur Resilienz heißt das: Fehlerfreundlichkeit und Fehlertoleranz. Nicht gleich aufschreien und dunkle Mächte am Werk vermuten, wenn ein Foto alt ist und falsch beschriftet, wenn der Redakteur aus lauter Not von Wikipedia abgeschrieben hat oder gar von einer Pressemeldung.
Der Auftrag Öffentlichkeit könnte das erleichtern, weil er keine falschen Erwartungen weckt. Dieser Auftrag würde auch den Journalisten helfen, zumindest denen, die den Imperativ der Aufmerksamkeit nicht für den einzigen Leitstern halten, dem sie in ihrem Beruf folgen wollen.