Nützliche Terroristen
Aus Sicht westlicher Machtpolitiker ist nicht der Frieden, sondern der sich endlos fortsetzende Krieg wünschenswert — hierfür kreiert man sich eigene „Bösewichte“.
Es ist weder die seit Jahrzehnten betriebene israelische Politik noch die der islamistischen Hamas allein, welche nun drohen, den Nahen Osten in ein neues Chaos zu stürzen. Es muss festgehalten werden, dass dieses Chaos von außerhalb bewusst herbeigeführt wird — und das seit Jahrzehnten. Welche Rolle spielen dabei extremistische, zum Beispiel islamistische Organisationen? Sind sie möglicherweise eher Kunstprodukte statt natürlich gewachsen? Die Beantwortung dieser Fragen setzt voraus, dass wir unsere Perspektive erweitern.
Bevor wir in die Vergangenheit reisen, etwas aus der Gegenwart. Der Investigativ-Journalist Seymour Hersh erfuhr von einem Veteran des israelischen Sicherheitsdienstes Aufschlussreiches. Dieser teilte ihm nämlich mit, dass Premierminister Benjamin Netanjahu „am Ende ist. (…) Er ist ein lebender Leichnam. Er wird nur so lange im Amt bleiben, bis die Schießerei aufhört. Vielleicht noch ein oder zwei Monate“ (1).
Und wenn die Schießerei nicht aufhört?
Hier wird eine immer wieder exerzierte Regel von Machtpolitik bestätigt. Eine, welche von den internen Konflikten, die einen drohenden Machtverlust aufzeigen, durch Externalisierung abzulenken versucht.
Ein „zuverlässiger“ Feind wird gesucht, gefunden, ja zur Not kreiert, um die Reihen zu schließen, die Opposition im Land zu neutralisieren und das innenpolitische Versagen durch neue, hoch emotionale Themen aus dem Fokus verschwinden zu lassen.
Westliche Machtpolitik ist geübt im Kreieren von Feinden. Mal ist es ein Virus, mal das Klima und dann immer wieder gern auch „der Russe“, dazu bedarfsgerecht gekürte Diktatoren. Man stößt also nicht auf die Probleme — nein, man erschafft sie! Vielleicht erinnert sich der geneigte Leser noch an die „vereinte, westliche, freie Welt“, die zusammensteht „im Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ — den sie allerdings selbst erschaffen hatte? Letzteres hat als Realität natürlich keinen Platz im narrativen Raum der Meinungshoheit.
Von den Mudschahedin zu al-Qaida
Al-Qaida und der Islamische Staat (IS) sind bis zum heutigen Tage präsent, zum Beispiel in Syrien. Dort verletzt die „Wertegemeinschaft“ unverändert grundlegende völkerrechtliche Normen, zum Beispiel die der Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität. US-Invasoren in Syrien sind kein Thema für unsere qualitätsarmen Massenmedien, schon gar nicht, um Empörung zu äußern. Empörung reservieren diese für all jene, die sich ihrer eigenen Rolle, nämlich der von Vasallen, nicht anschließen. Und so läuft bei der „russischen Invasion“ die Tinte nur so aus der Feder.
Doch ist der begangene Völkerrechtsbruch, hier nur auf Syrien bezogen, damit keineswegs vollständig. Denn in genau jenen Gebieten, die vom US-Militär direkt oder über seine Hilfstruppen der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (Syrian Democratic Forces = SDF) kontrolliert werden, gedeihen noch immer Zellen der Terrororganisation Islamischer Staat, während sie dort, wo Syrien in der Lage ist, seine Souveränität durchzusetzen, nicht mehr existieren. Das ist weder Zufall noch westliche Inkompetenz, es ist genau so gewollt. Die westliche Propaganda begründet die Annexion syrischer Gebiete durch die USA bis heute mit dem Argument, man müsste noch die Reste des IS bekämpfen (2). Was diese gar nicht können. Weil sie es nicht wollen. Es sind die Paten der Radikalisierten, der nützlichen Idioten.
Syrien wird systematisch aus den von fremden Mächten kontrollierten Gebieten angegriffen. Nach ihren Attacken auf Soldaten und Zivilisten ziehen sich die Terroristen wieder in ihre Schutzgebiete zurück (3). Der gesamte, von den kurdischen Statthaltern verwaltete Nordosten und Osten Syriens steht praktisch unter Kontrolle der USA — und ist tatsächlich ein Schutzgebiet für terroristische Milizen des IS. Solange die Stiefel von US-Soldaten syrisches Territorium verletzen, wird sich daran auch nichts ändern.
Dann gibt es da noch die Provinz Idlib, gelegen im Nordwesten Syriens, an der Grenze zur Türkei. Hier ist die türkische Armee Pate von Nachfolgeorganisationen der al-Qaida. Wir wissen ja, dass sich die gesamte westliche Welt dem Kampfruf der „angegriffenen USA“ anschließen musste, um den internationalen Terrorismus — und al-Qaida als Drahtzieher im Besonderen — zu vernichten, wo immer man auch seiner habhaft werden würde. Das war nach den angeblichen al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001, einem „Wendepunkt der jüngeren Geschichte“. So lässt es uns die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) glauben (4). Damals tönte ein gewisser George W. Bush:
„Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit der al-Qaida, aber er wird dort nicht enden. Er wird nicht eher zu Ende sein, bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist“ (5).
Bush und die Kabale hinter und nach ihm haben Wort gehalten. Sie haben terroristische Gruppen nicht besiegt. Weil das auch nicht gewollt war. Und deshalb kann der Krieg, den sie scheinheilig „Krieg gegen den Terror“ nennen, immer weitergehen, bis zum Sankt Nimmerleinstag.
Um eine glaubhafte Bedrohungslage aufrechtzuerhalten, müssen natürlich Opfer gebracht werden. Traumatische Ereignisse müssen erschaffen und dann, für die Angstmache passend, medial ausgeschlachtet werden. Was derzeit in Israel und Gaza vorgeht, ist zum Beispiel hochgradig emotionalisierend, ja traumatisierend. Wer möchte, dass so etwas eintritt? Wie sagte schon Brecht: „Die im Dunkeln sieht man nicht …“ Um das weiterzudenken: Sie sind aber trotzdem präsent, die im Dunkeln.
Es gibt Kräfte, die das Chaos lieben, weil ihnen dadurch Gestaltungsspielraum gegeben wird. Machtgruppen sind am Schaffen, am Organisieren kreativer Zerstörung immer interessiert. Im Chaos der Zerstörung gedeihen schließlich auch am besten soziale Not und die Missachtung menschlicher Werte wie Achtsamkeit und gegenseitiger Respekt. In solch einem von Gewalt geprägten Umfeld findet man ausreichend Entwurzelte, die sich ideologisieren und radikalisieren lassen. Es ist das ideale Klima, um nützliche Idioten regelrecht zu züchten.
Al-Qaida hat seine Wurzeln in Afghanistan. Es bildete sich aus dem Pool der mit viel Geld und Waffen aus Pakistan und den USA überschwemmten afghanischen Glaubenskrieger. Den Mudschahedin, nützlichen Idioten, die für die Exzeptionalisten in Washington die Drecksarbeit machen soll(t)en. Was sie auch taten (6). Der damalige US-Präsidentenberater Zbigniew Brzeziński tönte Jahre später voller Stolz zu den Folgen der „kreativen Zerstörung“ Afghanistans (7) — und dann auch der Sowjetunion:
„Die geheime Operation (der CIA) war eine hervorragende Idee. Es hatte die Wirkung, dass die Russen in die afghanische Falle liefen, und Sie wollen, dass ich es bereuen soll? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Wir haben jetzt die Möglichkeit erhalten, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu geben. In der Tat, für fast zehn Jahre hatte Moskau einen Krieg auszutragen, unerträglich für die Regierung, einen Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte“ (8).
Als er daraufhin gefragt wurde, ob er es nicht bereuen würde, Islamisten, später Terroristen, bewaffnet und internationalisiert zu haben, reagierte die graue Eminenz mehrerer US-Regierungen recht barsch:
„Was ist in der Geschichte der Welt am wichtigsten? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige durcheinandergewirbelte, aufgehetzte Moslems oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“ (8i).
Das ist unmissverständlich wie ungeheuerlich: Brzeziński sagte ganz offen, dass man islamische Gläubige aufgehetzt hatte, um sie politisch zu benutzen. Die Mudschahedin waren in späteren Jahren bestens geeignet, als nützliche Idioten dazu beizutragen, mit den ihnen antrainierten terroristischen Methoden das jugoslawische Staatswesen zu zerschlagen (9). Und nur so konnte al-Qaida überhaupt erst entstehen und sich über die Grenzen Afghanistans hinweg ausbreiten. Könnte die Hamas ein ähnliches „Kunstprodukt“ sein?
Und während man die Gewalt säte und den Krieg in Gang brachte, stellte man sich in der Öffentlichkeit als um den Frieden besorgter Moderator dar:
„Sowohl Pakistan als auch die Vereinigten Staaten nahmen in Bezug auf Afghanistan in der Öffentlichkeit die Rolle von verhandelnden Partnern ein, während man sich im Hintergrund darauf einigte, dass eine militärische Eskalation der Weg der Wahl sein sollte. Hierbei gingen die USA aber wesentlich vorsichtiger vor als Pakistan“ (10).
Von al-Qaida zum Islamischen Staat
Jedenfalls hat gegenwärtig eine Nachfolgeorganisation von al-Qaida, die terroristische Hai’at Thahir asch-Sham (HTS), in großen Teilen der syrischen Provinz Idlib das Sagen. Und ohne mit der Wimper zu zucken, erzählen uns die Gleichstrommedien immer wieder die Mär, dass es sich um ein Rebellengebiet handele, in dem eine Zivilgesellschaft aufgebaut würde (11, 12).
Gleichzeitig fließen nach wie vor großzügige „Hilfen“ einer „internationalen Geberkonferenz für Syrien“ in dieses künstlich aufrechterhaltene, von Terroristen beherrschte Territorium (13). Während gleichzeitig Syrien unter brutalen Wirtschaftssanktionen des Westens leidet, die inzwischen zu Hunger und totaler Verarmung geführt haben. Der Zynismus der Systemmedien ist schier grenzenlos, so sie auch noch die dramatischen Folgen dieses Wirtschaftskrieges gegen Syrien, bei gleichzeitiger Unterstützung von durch Terroristen verwalteten Territorien, Syriens Regierung in die Schuhe zu schieben versuchen (13i).
Noch einmal zum Islamischen Staat (IS), dessen Entstehung auf der Blaupause Afghanistan beruht und der noch immer ein US-kontrolliertes Refugium im Osten Syriens bewohnt. Ohne die „kreative Zerstörung“ des Irak — umgesetzt mit einer völkerrechtswidrigen Intervention einer „Koalition der Willigen“, geführt von den USA und Großbritannien (14 bis 17) — hätte auch der IS nicht das Licht der Welt erblicken können. Im Chaos von Zerstörung und Gewalt radikalisierten sich Tausende Sunniten, vor allem solche in den US-Gefangenenlagern, wo Folter, Misshandlungen und Demütigungen zum Alltag gehörten (18 bis 21). Und auch diese gingen, ganz wie ihre geistig nahestehenden al-Qaida-Gefolgsleute, den Weg des nützlichen Idioten. Ihr Extremismus machte sie zur geeigneten Feindbildfigur, eine, die man ganz nach Bedarf instrumentalisieren konnte.
Was wir an dieser Stelle vorrangig mitnehmen können, ist folgende Erkenntnis:
Mit der Destabilisierung eines oder mehrerer Staaten werden von interessierter Seite eine radikale, extremistische Ideologie gefördert sowie deren Anhänger logistisch unterstützt, finanziert und bewaffnet.
Danach internationalisieren sich diese Gruppen, im Hintergrund von einflussreicher Macht gesteuert. Sie schwärmen aus und beginnen, weitere Gesellschaften zu destabilisieren, schaffen die Vorwände für „humanitäre Interventionen“, „Farbrevolutionen“ und alle Formen von Kriegführung, die denkbar sind. Verkauft werden sie wahlweise: als das Böse schlechthin, als Terroristen oder eben als Aktivisten, Aufständische, Rebellen. Halt ganz so, wie ihre Rolle in der jeweiligen Inszenierung gesetzt ist. Ein und dieselbe Gruppe kann zu verschiedenen Zeiten auch von der einen in die andere Rolle transformiert werden.
Die Muslimbruderschaft
Hierzulande wird die Muslimbruderschaft fast ausschließlich mit ihren Aktivitäten in Ägypten in Verbindung gebracht. Als die Organisation 1928 gegründet wurde, stand das Land noch immer unter britischem Protektorat. Die ihm 1922 von den Briten zugestandene Unabhängigkeit war im Wesentlichen formeller Natur (22). Behalten wir im Hinterkopf, dass die britische Weltmacht ihre Herrschaft stets über eine eher indirekte Kontrolle mittels einer Politik des „Teile und herrsche“, der systematischen Unterwanderung von Organisationen und Institutionen, sichern konnte.
Die Muslimbruderschaft hat über Jahrzehnte hinweg auf terroristische Gewalt gesetzt, um ihre Ziele eines Gottesstaates — mit der Scharia als Gesetzbuch — durchzusetzen. Eine Reihe von politischen Führern wurde durch Attentäter des militärischen Zweigs dieser Vereinigung ermordet (23). Die Muslimbrüder haben versucht, Regierungen zu stürzen (24 bis 26), mit Demokratie hatten und haben sie nichts am Hut. Aber sie verfügten bereits seit Jahrzehnten über ein inoffizielles Hauptquartier (27) und seit dem Jahr 2022 gar über eine ganz offizielle Vertretung in London (28) — in London?
Ideologische Eiferer taugen stets für die Rolle nützlicher Idioten, um westlichen Machtinteressen in die Hände zu spielen.
Das galt sowohl für die Mudschahedin als auch für al-Qaida und den IS. Und es gilt ebenso für die Muslimbruderschaft. Der „Ausbruch des Volksaufstandes“ beschrieb ein Narrativ zur Vernebelung der Wirklichkeit im Syrien des Frühjahres 2011. Tatsächlich handelte es sich — und das ist den wenigsten hierzulande bekannt — um eine wohlkoordinierte und aus dem Ausland gesteuerte terroristische Attacke der syrischen Muslimbrüder. Diese wurden von westlichen Geheimdiensten mit Logistik, Kommunikationsgeräten und Waffen aus Jordanien, dem Irak und der Türkei versorgt (29, 30). Sie waren es, die für das notwendige Chaos sorgten, um die kreative Zerstörung Syriens einzuleiten (31, 32).
Im Herbst des Jahres 2011 wurde der Sohn des Großmuftis von Syrien, des höchsten islamischen Rechtsgelehrten des Landes, von Salafisten ermordet (33). Großmufti Ahmad Badr ad-Din Hassun setzte sich leidenschaftlich für das friedliche Neben- und Miteinander der Konfessionen ein. So wie das auch in der Verfassung des säkularen Syriens festgeschrieben ist. Die Täter waren Salafisten und wurden aus dem Ausland bezahlt (34).
Salafisten waren es auch, die im Jahre 1982 mit Gewalt versuchten, die religiöse Toleranz Syriens durch einen islamischen Staat — mit der Scharia als Verfassungsgrundlage — zu ersetzen. Salafisten waren die nützlichen Idioten, welche die Drecksarbeit für fremde Mächte verrichteten, um Syriens Gesellschaft zu zerreißen. In den 1980er-Jahren misslang das den Muslimbrüdern (35), 2011 hatten sie Erfolg (36 bis 38). Beide Male missbrauchten sie Gotteshäuser als militärische und logistische Stützpunkte — 1982 in Hama wie auch 2011 in Daraa. Und beide Male wurden sie als „Gute”, als Aufständische, etikettiert.
Wer wen benutzt
Die Muslimbruderschaft vertritt einen politischen Salafismus, für den die islamische Rechtsordnung, die Scharia, alternativlos ist. Nicht nur alternativlos, sondern auch umfassend, indem sie in alle Lebensbereiche der Menschen fordernd und regelnd eingreift. Sie sehen sich als einzige legitime Vertreter des ursprünglichen Islam. Und sie sehen sich als Globalisten!
„Salafisten erkennen keine Nationalstaaten an. Ausgehend von einem Kernstaat sollen die Grenzen ‚expandieren‘ und schließlich die gesamte Umma (die gesamtislamische Weltgemeinschaft) umfassen. Muslime, die anderswo leben, wären dann verpflichtet, nach dem Vorbild des Propheten in einen islamischen Kernstaat auszuwandern (arabisch „hijra“: Auswanderung), um dort ein gottgefälliges Leben zu führen und nicht unter ‚Ungläubigen‘ leben zu müssen“ (39).
Die Muslimbruderschaft betreibt eine Kombination aus politischem und militärischem Salafismus. Ersterer dient als langfristiger Prozess zur Indoktrination der Menschen, innerhalb derer sie sich den Ideen einer Gesellschaft auf Basis der Scharia und nach den Regeln des wahren Islams öffnen sollen. Missionierung als strategisches Konzept zur Erreichung dieser Ziele wird bei den Muslimbrüdern groß geschrieben.
Man verfolgt einen systematischen Export der Ideen für diesen islamistischen Gottesstaat. Innerhalb dieser Indoktrination wird auf eine Werbung für gewalttätige Lösungen zur Errichtung einer solchen Gesellschaft weitgehend verzichtet. Doch das Konzept ist damit unvollständig abgebildet. Wird es doch dort, wo sich die Muslimbrüder in einer strategisch günstigen Lage sehen, durch die Gewaltkomponente erweitert, den Dschihad (39i).
Nicht nur in Syrien, auch in anderen arabischen Ländern wurden und werden die Präsenz und die Aktivitäten der Muslimbruderschaft als latente Gefahr angesehen. So lesen wir in der Publikation einer regierungsnahen deutschen Stiftung:
„Erstens bekämpfen die VAE (Vereinigte Arabische Emirate) die Islamisten in der Region, weil sie in der Muslimbruderschaft, der größten und wichtigsten Bewegung des politischen Islam in der arabischen Welt, eine ernsthafte Bedrohung für die Regimestabilität im eigenen Land ausgemacht haben. Die Führung in Abu Dhabi ist überzeugt, dass die transnationale Struktur der Islamistengruppe gefährlich ist. Denn wenn diese in Ländern wie in Ägypten die Macht erringe, werde sie versuchen, ihre Anhänger in den Golfstaaten und vor allem in den VAE gegen ihre Regierungen zu mobilisieren“ (40).
Das Netzwerk der Bruderschaft ist von Beginn an, seit der Gründung im Ägypten der 1920er-Jahre, international zum einen und auf eine langfristige, teilweise konspirative Tätigkeit zum anderen aufgestellt. Als Fünfte Kolonne, als U-Boot, können sie jahrzehntelang vorgehalten und jederzeit eingeschleust und reaktiviert werden, wenn im betroffenen Land eine revolutionäre Situation im Entstehen ist. Was besonders eindrucksvoll im Falle der Zerschlagung Libyens gelungen ist (41 bis 43).
Die Muslimbrüder hatten sehr rasch einen Zweig in Palästina, dann in Syrien, in der Türkei, Tunesien, Libyen und Algerien. Das sind alles Staaten, die mehrfach von gewalttätigen Konflikten erschüttert wurden, in denen der Westen handfest mitmischte. Konflikte, die er — um es korrekter auszudrücken — überhaupt erst in Gang brachte.
Katar ist gesondert zu nennen, weil sich dort die größte Militärbasis der USA im Nahen Osten befindet (44). Katar ist außerdem seit Jahrzehnten einer der größten Sponsoren der Muslimbruderschaft (45). An den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen gegen Libyen und Syrien hat sich Katar aktiv beteiligt, während gleichzeitig die Muslimbrüder als Opposition, Rebellen und Aufständische in diesen Ländern inszeniert wurden.
Auch die Hamas wurde über die Jahre mit Hunderten von Millionen US-Dollar durch Katar mitfinanziert (46). Das ist nicht verwunderlich, denn schließlich ist die Hamas ja auch der palästinensische Zweig der Muslimbrüder.
So gern auch in deutschen Medien über Katar hergezogen wird, ist es doch alles nur Schaumschlägerei. Die Beziehungen der Bundesrepublik zum Unterstützer von Terrororganisationen sind eng, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Rüstung (47, 48). In den vergangenen Jahren sind deutsche Waffen und Munition in Milliardenhöhe nach Katar gegangen (49).
Menschen, die so stark in ihrer Ideologie gefangen sind, so wie die Anhänger und Führer der Muslimbruderschaft, entwickeln einen Tunnelblick. Die Anwendung von Täuschung und Gewalt bis hin zum Terror halten sie im Sinne der Erreichung des hehren Zieles für vertretbar, wenn nicht sogar für notwendig. Die Maßlosigkeit ihrer Ziele verlangt ein elitäres Selbstverständnis, nachdem man durch besondere Begabungen auserwählt sei.
Die Muslimbruderschaft hat in den fast einhundert Jahren ihres Bestehens regelmäßig auf Gewalt gesetzt. Und sie hat dabei regelmäßig nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ gehandelt. Ihre Führer dachten von sich schon oft, besonders schlau zu sein, wenn sie sich mit ihren per Glaubensbekenntnis deklarierten Todfeinden abgaben.
Bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges paktierten die Muslimbrüder mit dem faschistischen Deutschland und erhielten großzügige Unterstützung aus Berlin.
Mit Unterstützung des Hitler-Regimes wuchs die Anhängerschaft der Muslimbrüder innerhalb weniger Jahre von wenigen hundert auf 200.000 Anhänger (50). Die Bruderschaft zeigte sich nicht nur unversöhnlich antibritisch, sondern genauso antijüdisch, und sie glaubte Deutschland benutzen zu können, um einen Gottesstaat in Ägypten zu errichten (51).
Ein Führungsmitglied der Muslimbruderschaft jener Jahre war der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der 1941 unter wundersamen Umständen über den Libanon und den Irak nach Deutschland flüchten konnte. Dieser Muslimbruder wurde dann zum persönlichen Berater und Freund von Adolf Eichmann und Heinrich Himmler, zwei der Hauptorganisatoren zur massenhaften Ermordung der europäischen Juden (52).
In Berlin, im „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, arbeitete der Großmufti auch mit Gerhard von Mende, dem Referatsleiter der Unterabteilung Kaukasus, zusammen. Mit falschen Versprechungen rekrutierte man muslimische Freiwillige aus den Volksgruppen der Aserbaidschaner, Wolga-Tataren, Turkmenen, Usbeken und Kirgisen und bildete damit muslimische Brigaden (53).
Al-Husseini war auch maßgeblich an der Aufstellung einer islamistischen SS-Division, der SS-Gebirgsdivision Handschar, beteiligt, deren Mitglieder aufgrund ihrer unbarmherzigen Kampfesweise von Himmler sehr geschätzt wurden. Diese vom Deutschen Reich rekrutierten Islamisten wurden — was für ein unheilvolles Omen — im Kampf gegen die Partisanen in Jugoslawien eingesetzt (54). Die Fortsetzung folgte in den Jugoslawien-Kriegen der 1990er-Jahre. Nur dass es dann im Wesentlichen die CIA war, welche die salafistischen Kämpfer in das Balkanland schleuste.
Noch etwas muss erwähnt werden, wenn es um die Muslimbruderschaft in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geht: Die britische Kolonialmacht in Palästina unterstützte aktiv das politische Treiben der Muslimbrüder, ungeachtet der Tatsache, dass sie politisch nur eine kleine Minderheit darstellten und radikal gegenüber den Briten wie auch den jüdischen Siedlern auftraten. Umgekehrt ging man repressiv gegen deutlich weniger radikal aufgestellte Bewegungen vor (52i, 55). Spalte und herrsche. Wer benutzte da wen?
Die Muslimbrüder in Libyen und Syrien
Wir sprachen bereits von den Mudschahedin, al-Qaida und dem Islamischen Staat. Wir wissen, dass man Muslime von außen radikalisierte, damit sie als Islamisten wirken konnten. Radikale gab und gibt es immer und überall, nicht nur in der arabischen Welt. In funktionierenden Gesellschaften sind sie aber keine dominante Größe. Sie werden es erst in dysfunktionalen Gesellschaften, und das kann sich als wechselwirkender Prozess aufschaukeln. Insbesondere dann, wenn dem Prozess von außen Energie zugeführt wird: mediale Aufmerksamkeit, eine bereitstehende intellektuelle Klasse, die sie tätschelt und umschmeichelt, finanzielle und ökonomische Ressourcen und natürlich Waffen.
Ideologien sind inhärent radikal, ja extremistisch. Sie haben den Hang zum Terror. Al-Qaida und Co. sind künstliche Gebilde, explizit geschaffen für das Konzept kreativer Zerstörung, aber ohne das massive Zuführen von Energie nicht lebensfähig.
Es sind Monster, deren Schöpfer in ihrer psychopathischen Grundhaltung letztlich auch Monster sind. Sie glauben, ihre Puppen im Griff zu haben, und die Geschichte gibt ihrem Anspruch in großen Teilen sogar recht.
Das eine sind die Psychopathen und das andere sind jene, die psychopathisch handeln. Das ist nicht das Gleiche. Und weil es das nicht ist, können wir auch erahnen, wer wen benutzt. Das traditionelle Selbstverständnis der anglo-amerikanischen Weltenlenker ist gottgleich und sieht die eigene Einzigartigkeit als alternativlosen Maßstab für die Geschicke dieser Welt. Sie benötigen keine Ideologie, denn sie verkörpern sie durch sich selbst. Aber was sie tun, ist, Ideologien zu benutzen. Genau darauf beruhte die Macht des britischen Weltreiches. Es war durch sein psychopathisches Wesen in der Lage, skrupellos Menschen und Menschengruppen zu manipulieren, gegeneinander aufzuhetzen und diese dadurch zu beherrschen. Man kann es auch als Selbstzweck bezeichnen, dieses maßlose wie permanente Auskosten von Macht und Herrschaft.
Der Hinweis wurde schon gegeben: dass die international tätige, radikale, ideologisierte und demokratiefeindliche, ja terroristische Muslimbruderschaft seit Jahrzehnten eine geduldete Niederlassung in der britischen Hauptstadt London besitzt. Wer benutzt da wen, die Muslimbrüder die Briten? Wohl kaum.
Das urplötzliche Sichtbarwerden der Muslimbruderschaft in Syrien und Libyen, geschehen seit dem Jahr 2011, fügt sich nahtlos in die Tradition dieser sektenähnlich aufgestellten Vereinigung ein (56). Dabei meinten deren Führer und Ausführenden, in jenem Jahr eine Chance für die Umsetzung ihrer eigenen Visionen zu ergreifen. Und begriffen nicht, dass sie absichtsvoll dorthin geleitet wurden. Ideologie macht blind.
Gerade die Muslimbruderschaft blieb immer eine Minderheit. Sie trat sowohl in Syrien als auch in Libyen in jener Zeit ins Rampenlicht, in welcher dort Konflikte ausbrachen. Genauer gesagt, war sie die aktivste und offenbar am besten organisierte Kraft, um eine revolutionäre Situation herbeizuführen. Das könnte schon immer ihre Aufgabe gewesen sein. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg internationalisierte sich die Bruderschaft, und es bildeten sich nationale Zweige.
Die gelegentliche Offenheit westlicher Medien, wie hier der Deutschen Welle, scheint eher unbeabsichtigt:
„Im Jahr 2000 erhielten die Beziehungen im Umfeld von Wladimir Putins Wahl zum russischen Präsidenten zwar neuen Schwung. Ohnmächtig sah Putin jedoch zu, wie die NATO den russischen Einfluss 2011 mit ihrem Einsatz beim Aufstand gegen den Alleinherrscher Gaddafi wieder begrenzte“ (57).
Selten habe ich bei einem öffentlich-rechtlichen Sender so klar und deutlich lesen können, dass es ein NATO-Krieg war, der gegen Libyen geführt wurde. Und dass der Wertewesten mit den terroristischen Muslimbrüdern in diesem Krieg auf einer Seite stand, ja Letztere durch Erstere sogar hoffähig gemacht wurden (58).
Die Hamas
Dieser Tage titelte ein Bericht der ARD-Tagesschau mit „Hamas-Anhänger in BW (Baden-Württemberg) meist Muslimbrüder“, und wir konnten unter anderem lesen:
„Rund 160 Anhänger der Muslimbruderschaft gibt es nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg. Ziel der radikalen Organisation ist die Zerstörung des Staates Israel und der Aufbau eines islamistischen Staates“ (59).
Die Betätigungsverbote für Organisationen der Muslimbruderschaft sind in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder dokumentiert, interessanterweise aber größtenteils nicht mehr oder nur schwer auffindbar (60 bis 62). In dem des Landes Niedersachsen aus dem Jahre 2016 stoßen wir auf eine aufschlussreiche Verbindung:
„Die Islamische Widerstandsbewegung HAMAS, der palästinensische Zweig der Muslimbruderschaft, ist über eine Unterorganisation in Deutschland vertreten. Ihre Interessen vertritt in der Bundesrepublik der Islamische Bund Palästina (IBP).“ (63)
Muslimbrüder haben Zweige in fast allen arabischen Staaten, plus der Türkei. Sie waren und sind präsent in Marokko, Algerien, Libyen, Syrien, Tunesien und Ägypten, in Katar, von wo aus sie gesponsert werden, und mit der Hamas auch in Palästina — und außerdem, es sei wiederholt, in Großbritannien. Die Muslimbrüder erledigten in Syrien, Tunesien und Libyen schmutzige Geschäfte für den Westen. Hierzulande wurde der Terror als „Farbrevolution“ verkauft, bei der die „Zivilgesellschaft“ einen friedlichen Umbruch, hin zu demokratischen Verhältnissen, angestrebt hätte. Und ausgerechnet, als die Muslimbrüder in Ägyten durch demokratische Wahlen in das Parlament einzogen. Als sie statt dem Einsatz von Gewalt über die Respektierung demokratischer Regeln Erfolg hatten. Ausgerechnet da wurden sie gestürzt. Welche Rolle spielen die Muslimbrüder, ganz speziell die Hamas, eigentlich tatsächlich in Palästina?
Israel hat seine Gewalt gegenüber den Palästinensern immer als notwendige Gegenmaßnahme zur Bekämpfung des palästinensischen Terrors verkauft. Und ja, den Terror gab es auch. Nun ist es eine spannende Frage, wer hinter dem immer wiederkehrenden Aufflammen des Terrors stand und steht.
War oder ist Israel gar ein Protegé der Hamas?
„Die Hamas wurde in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre gegründet und stand schon damals in Opposition zur PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation von Jassir Arafat. Umstritten ist, ob sie in ihren Anfangstagen sogar mit Geld von der israelischen Regierung als Gegengewicht aufgebaut wurde (...)“ (46i).
Nicht immer kommt man mit dieser Frage zum Ziel, doch stellen muss man sie unbedingt: Wem nützt es?
Wem haben die Hamas-Operationen, einschließlich der gerade geschehenen, genutzt? Den Arabern, den Palästinensern, Syrien, dem Libanon, dem Iran, Saudi-Arabien? Hat es der Türkei oder dem Irak genutzt? Für all die Menschen dort war das völlig nutzlos. Es hat nur Leid erzeugt, bestehende Konflikte geschürt und neue entfacht. Die Einzigen, die von den Aktionen der Hamas profitierten, sind die Meister des „Teile und herrsche“.
So gesehen, halte ich es für unklug, auszuschließen, dass die Hamas praktisch einen False Flag, einen Angriff unter falscher Flagge durchgeführt hat. Inwieweit sich ihre Mitglieder dessen bewusst sein mögen, ist eine ganz andere Frage. Womit wir an dem Punkt angekommen sind, an dem wir innehalten — vorerst. Denn die Entstehungsgeschichte und das Wirken der Hamas verdient eine gesonderte Betrachtung. Jedoch eine, für deren Verständnis die Rolle islamistischer Bewegungen in den vergangenen Jahrzehnten als großes Bild im Hintergrund gehalten werden muss. Wofür der obige Text geeignet sein könnte.
Bitte bleiben Sie schön aufmerksam, liebe Leser.