Nützliche Sündenböcke
Unser Wirtschaftssystem profitiert von den unfreiwillig Arbeitslosen — die eigentlichen Schmarotzer befinden sich an der Spitze des Systems.
Arbeitslosigkeit hat nicht unbedingt etwas mit persönlichem Versagen oder mit tragischen Schicksalsschlägen zu tun. An der systemimmanenten Erwerbslosigkeit hängen Arbeitsplätze. Ein riesiger Apparat beschäftigt unzählige Angestellte, die die Nicht-Arbeit ihrer Mitmenschen verwalten. Diese wiederum sehen sich nicht nur der Tortur eines Zettelkriegs ausgesetzt, sondern auch der Diffamierung. Sie seien Schmarotzer und machten es sich auf der sozialen Hängematte bequem, so heißt es dann häufig in den Diskursen über die Leistungsträger der Gesellschaft. Dass diesem Arbeitsloswerden oft eine Stellenstreichung zwecks Erhöhung der Gewinnmargen vorausging, interessiert am Ende niemanden. Die auf Existenzminimum Lebenden sehen sich des Sinns ihres Daseins beraubt, während sich die Profiteure an der Systemspitze horrender Gewinne erfreuen.
„Was machst Du?“ — „Ich bin arbeitslos“ — „Oh, ich danke Dir!“.
Ein solcher Dialog ist wohl eher schwer vorstellbar in unserer Gesellschaft. Derjenige, der energisch dem materiellen Heil und der vollendeten Leistung hinterherläuft, gilt als achtenswert, wird bewundert, beneidet, hofiert, belohnt.
Wer das Pech hat, keine Arbeit zu finden — und hier meine ich nicht unwürdige Ein-Euro-Ausbeutung oder ähnliche Neo-Sklaverei —, also arbeitslos ist und auch noch mit seinem Nichtstun Steuergelder „verbraucht“, hat schon eine weniger gute Stellung. Wer nun gar keine Lust hat, das Rattenrennen mitzumachen, gilt schnell als asozial oder Schmarotzer.
Nun, zum einen sind wohl die asozialen Schmarotzer viel eher jene, die sich exorbitante Vorstandsgehälter genehmigen und um der immer höheren Rendite willen immer mehr Menschen ihres Arbeitsplatzes berauben.
Zum anderen sollten wir aber auch einmal daran denken, dass unser Wertesystem keinesfalls ein Naturgesetz, sondern in Jahrhunderten, ja Jahrtausenden geschichtlich gewachsen, von Menschen gemacht und eben nicht universell gültig ist.
Ein Habenichts, der morgens um 9 Uhr den ersten Joint raucht, anschließend zwei Stunden lang seine meterlangen, verfilzten Haare badet und zu einem Naturturban knotet und den restlichen Tag damit verbringt, versunken dazusitzen, zu meditieren und nichts weiter zu erwarten vom Leben, sehen bei uns die meisten Menschen als Aussteiger und Versager an. In Indien wird er unter Umständen als hinduistischer Sadhu verehrt, ihm wird großzügig gespendet, man verneigt sich vor ihm, weil er die irdischen Begehrlichkeiten überwunden hat. Auch dies ist ein gültiges Wertesystem, nicht a priori besser oder schlechter als das westliche, nur anders eben und gelegentlich ist es hilfreich, sich dessen bewusst zu werden.
Zurück nun also zu unserer Gesellschaft. Hier möchte ich gerne einmal ein paar abweichende Sichtweisen aufzeigen, als Denkanstoß, durchaus auch als Provokation.
Ein Arbeitsloser verzichtet nicht nur auf einen materiell gehobenen Lebensstandard sowie die damit verbundenen Möglichkeiten, Bequemlichkeiten und Spontaneitäten. Er ist vor allem eines sinn- und strukturstiftenden Inhalts für sein Dasein beraubt, eines Inhalts, der ihn spüren lässt, dass er gebraucht wird, durch den ihm Anerkennung zuteil wird und die Freude, am Ende des Tages auf etwas Geleistetes stolz sein zu können. Für wen verzichtet er auf all dies? Für uns. Für uns alle. Für dieses System.
Denn ohne die Schar von Arbeitslosen wäre dieses System, so wie es momentan strukturiert ist, nicht überlebensfähig.
Der entlassene Automechaniker im Großkonzern ermöglicht durch den Wegfall seines Lohns die höhere Prämie des Vorstands. Der Harz-IV-Bezieher sorgt dafür, dass ein ganzer Verwaltungsapparat zu tun hat, dass Behörden gebraucht, Formulare gedruckt, Kontrollen durchgeführt werden müssen.
Der Arbeitslose ermöglicht dem Rest der Gesellschaft Arbeit und Wohlstand! Dies ist ein untragbarer Zustand und eine soziale Schieflage, die zum Himmel stinkt und von einer ungesunden Gesellschaft zeugt.
Dieses menschliche Misere wird noch dadurch verstärkt, dass dieses Opfer von niemandem gewürdigt oder auch nur gesehen wird, sondern im Gegenteil, ein Großteil nicht nur der politischen Kaste sondern auch der arbeitenden Bevölkerung den Arbeitslosen als den „Leistungsempfänger“ und somit eben als das Gegenteil des „Leistungsträgers“ sieht. Er ist aber nicht sein Gegenteil sondern — zumindest in einem Wirtschaftssystem wie dem unseren — beide sind einander existenzielle Voraussetzung.
Dass dies auf Dauer nicht funktionieren kann, dass die soziale Schieflage und Spaltung der Gesellschaft ebenso wie die Fehlbewertungen weiter wachsen werden, muss nicht erwähnt werden. Ein möglicher Lösungsansatz wäre vielleicht das bedingungslose Grundeinkommen. Ob dies eine Lösung sein kann, vermag ich als Nicht-Ökonom nicht zu überblicken, allerdings nur wenn es wirklich an keine wie auch immer geartete Bedingung geknüpft ist. Dessen Folgen wären wahrscheinlich weit radikaler als vermutet. Hierzu gibt es längst Untersuchungen von diversen seriösen Wirtschaftswissenschaftlern und Sozial-Ökonomen.
Bis wir eine praktikable Lösung für eine sozialer strukturierte und vor allem auch sozialer denkende Gesellschaft gefunden haben und diese auch umsetzen, bis wir auch genügend Politiker mit Mut und Unternehmer mit Gewissen haben, bleibt uns aber immerhin, gelegentlich einmal genauer hinzuschauen, wie sozial unser Denken ist und nach welchen Wertmaßstäben wir unsere Mitmenschen eigentlich betrachten.
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