Nur noch zehn Jahre!
Der Wettlauf mit der Zeit gegen die Klimakatastrophe stellt die Friedensbewegung vor neue Herausforderungen.
Panik, Alarmstimmung, Verzweiflung — solche emotionalen Zustände werden häufig den psychisch labilen Menschen zugeschrieben. „Vernünftige“ betrachten alles mit unerschütterlicher, sachbezogener Gelassenheit. Aber gibt es nicht Situationen, in denen es krank ist, nicht in Panik zu geraten? Die wachsende Kriegsbedrohung und die Vorhersagen von Experten, wir hätten nur noch etwa zehn Jahre, um unser Klima zu retten, gehören sicher dazu. So schlimm es ist, Menschen aus ihrer gewohnten Seelenruhe zu reißen — wir haben beim besten Willen keine 50 oder 100 Jahre mehr! Die gute Nachricht: AktivistInnen müssen sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob sie mit Priorität für den Frieden oder für die Umwelt tätig sein sollen. In beiden Fällen ist der Gegner der gleiche: ein mörderisches, lebensfeindliches System.
Greta Thunberg sagt, dass wir angesichts der Klimakatastrophe alle in Panik ausbrechen müssten. Selbst unter vermeintlich fortschrittlichen Menschen wird eine derart drastische Ausdrucksweise oft mit Befremden aufgenommen. „Panik“, denken viele, „ist das nicht ein wenig übertrieben?“
Friedensbewegung und Klimaschutz
Ich bin seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung aktiv und stelle fest, dass bei etlichen meiner MitstreiterInnen der „Klimawandel“, wie sie meist sagen, durchaus als Problem wahrgenommen wird. Doch eine richtungsweisende Diskussion darüber, wie „Fridays For Future“ nach den Ostermärschen auch in Zukunft unterstützt werden könnte, hat noch nicht stattgefunden.
Um Missverständnissen zuvorzukommen: Es können durchaus Erfolge verzeichnet werden. Etwa dass in München der Ostermarsch von „Fridays For Future“-Rednerinnen eröffnet und mit der Abschlusskundgebung eines Sprechers des „Bund Naturschutz“ beendet wurde. Das ergab sich alles nicht von selbst und ist, nachdem wir diese Richtung bereits im Herbst 2018 anzusteuern begannen, sicher ein Grund, stolz zu sein. Heute stellen wir jedenfalls fest, dass wir wohl die richtige Entscheidung getroffen haben. Denn sie hat auch jüngere Menschen angezogen und so dem Münchner Ostermarsch mehr TeilnehmerInnen gebracht. Vielleicht wird dadurch aber auch in der bundesweiten Friedensbewegung eine stärkere Orientierung in diese Richtung gefördert.
Vor welchen Problemen steht die Friedensbewegung heute?
Seit Jahrzehnten sind Friedensbewegte mit vielen großen und kleinen Aktionen unterwegs. Diese vorzubereiten und durchzuführen, bedeutet aber — auch angesichts des zunehmenden Alters vieler Aktiver — immer mehr Kraftaufwand. Die immer aggressivere Kriegspolitik der USA und der NATO sowie deren massivste Unterstützung durch die Massenmedien machen uns zusätzlich schwer zu schaffen. In letzter Zeit konnten keine nennenswerten Erfolge der Friedensbewegung verzeichnet werden. Ganz im Gegenteil stellen wir fest, dass die Bedrohung durch die Kündigung des INF-Vertrages und die ausufernden Aufrüstungsaktivitäten der NATO an den Grenzen zu Russland auch in Europa immer mehr zunimmt und eine beängstigende Situation schafft. Wir dürfen also mit unseren Friedensaktivitäten nicht nachlassen!
Und jetzt warnt die Wissenschaft: Wir haben nur noch zehn Jahre, um die Erde zu retten! Vielen von uns ist bekannt, dass Wissenschaftler, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Münchner Rückversicherung, schon seit Jahrzehnten vor einer gefährlichen Klimaentwicklung warnen. Doch das Ausmaß dieser Gefahr ist vielen immer noch nicht klar, oder man will es einfach nicht wahrhaben. Wir älteren Friedensbewegten haben seinerzeit die Prognosen der Wissenschaftler nicht ernst genug genommen, was uns die SchülerInnen von Fridays For Future heute durchaus berechtigt vorwerfen.
Wir tun uns nach wie vor schwer, hier richtig aktiv zu werden, da wir oft schon mit unseren „traditionellen“ Aktionen überlastet sind. Darüber hinaus könnte es unangenehm werden, sich beim Klimaschutz stärker zu engagieren, da die Konsequenzen einer anderen Klimapolitik auch zu einer Umstellung oder gar Einschränkung unserer persönlichen Lebensgewohnheiten führen würden.
Besonders die „gutbürgerliche“ Generation mittleren Alters hat es sich im eingeübten Konsumverhalten bequem gemacht.
Etliche Friedensbewegte fragen sich, ob die Klimasituation tatsächlich so dramatisch ist, wie es die Wissenschaft darstellt. Interessant ist aber, dass viele sehr schnell und mit großem Aufwand reagieren können, wenn es sich um konkret vorstellbare Gefahren handelt wie etwa den Terrorismus. Gefahren werden oft nur dann ernsthaft wahrgenommen, wenn sie von klar zu erkennenden Personen oder Situationen ausgehen — im Friedensbereich zum Beispiel die Bundesregierung mit ihrer „Kriegsministerin“ oder die Bedrohung durch den militärisch-industriellen Komplex. Im extrem komplexen Klimabereich ist es schwierig, die Hauptschuldigen auszumachen.
Globale Situation
Doch welcher Gefährdung unseres Klimas stehen wir heute global gegenüber? Pro Jahr werden derzeit etwa 40 Gigatonnen (Gt) CO2 emittiert. Von 2019 an dürften wir aber insgesamt für die Zukunft nicht mehr als 380 Gt CO2 emittieren, um das Ziel einer Temperaturerhöhung von maximal 1,5 Grad nicht zu überschreiten (1). Diese Prognose stellt die Gefährlichkeit unserer Situation möglicherweise noch nicht einmal voll dar — es kann sich sogar noch ungünstiger entwickeln. Die Geschwindigkeit der Klimaveränderungen wurde in der Vergangenheit häufig unterschätzt.
Wir müssen es also schaffen, in den nächsten zehn Jahren eine Entwicklung einzuleiten, die auf den vollständigen Verzicht auf fossile Brennstoffe abzielt (2). Andernfalls ist eine Klimakatastrophe, die die Temperaturen um zwei oder noch mehr Grad steigen lässt, nicht mehr zu verhindern.
Dadurch würde der Meeresspiegel um mehrere Meter — Wissenschaftler sprechen teilweise sogar von 10 bis zu 30 Metern — ansteigen, zerstörerische Wetterphänomene wie Stürme, Fluten und Dürren würden sich häufen und beispielsweise die Korallenriffe vollkommen absterben. Welche tatsächlichen Folgen die Erwärmung der Ozeane auf Meeresströmungen und lokale Klimaentwicklungen haben wird, ist unabsehbar.
„System Change — Not Climate Change“
Damit endlich notwendige und effektive Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe ergriffen werden, hat Greta Thunberg von Anfang an mit ihrer Forderung „System change — not climate change“ ein grundlegendes Problem angesprochen. Sie hat dargestellt, dass unser Wirtschaftssystem mit seinem einzigen Ziel, Superreiche auch auf Kosten des Klimas noch reicher zu machen, zutiefst schädlich ist. In einem Wirtschaftssystem, das als oberste Prämisse den Profit der Großkonzerne und der Rüstungsindustrie hat, ist eine Veränderung der Klimapolitik sehr schwer durchzusetzen. Auch die Friedensbewegung muss gegen dieses neokapitalistische Wirtschaftssystem, in welchem die Profitgier der Rüstungskonzerne die verheerende Kriegspolitik immer mehr befeuert, antreten.
„System change — not climate change!“ — das verbindet! Klima- und Friedensbewegung haben keine unterschiedlichen Gegner. Durch diese Erkenntnis werden die Lösungsmöglichkeiten nicht einfacher. Aber dieser „Synergieeffekt“ könnte uns weiterhelfen. Die Einbeziehung der Klimafragen in unsere Aktivitäten wird mehr Menschen — und vor allem auch jüngere — der Friedensbewegung näherbringen. Wir brauchen die Kraft der jetzt wieder politischer werdenden jungen Generation. Und wir wissen, dass unser Einsatz für eine friedlichere Politik ohne die Beteiligung von mehr jüngeren Menschen und Jugendlichen in der Friedensbewegung in Zukunft nur schwerlich Erfolg haben kann!
3 Schülerinnen halten eine Rede beim Ostermarsch.
Das Transparent hing bei uns zum Ostermarsch am Bühnenwagen und wurde von den 3 Schülerinnen im obigen Bild selbst erstellt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/wie-viel-co2-kann-deutschland-noch-ausstossen/
(2) Ebenda, Grafik „CO2-Emissionen in Deutschland“