Nötige Selbstbehauptung
Putins Rede zur Lage Russlands stellt Sozialpolitik in den Mittelpunkt, zeigt aber auch außenpolitisch Kante.
Über Wladimir Putin haben viele eine Meinung – ohne ihm jedoch meist wirklich zuzuhören. Daher lohnt eine genauere Analyse seiner jüngsten Rede zur „Lage der Nation“. Während man hierzuland mit dem russischen Präsidenten meist Begriffe wie „Cyberangriffe“, „Giftgasanschläge“ und „Drohgebärde“ verbindet, dominieren in seiner Rede überraschend ganz andere Themen wie Armutsbekämpfung, Mittelstandsförderung, Bürokratieabbau und Ernährungssicherheit. Das klingt wenig dämonisch und gehört sicher auch in den „reichen“ Ländern auf die Tagesordnung. Wer genau hinhört, merkt aber auch: dem Präsidenten ist bewusst, dass sein Riesenland keine Insel der Seligen ist. Er übt Selbstkritik und Kritik an seinem Staatsapparat. Er plädiert international für den Frieden, zeigt den USA, die gerade den INF-Vertrag aufgekündigt haben, aber auch die Zähne. Wird es Russland gelingen, einen neuen Rüstungswettlauf zu vermeiden, ohne seine Unabhängigkeit preiszugeben?
In Washington, London, Paris oder Berlin wäre ein solcher Akt undenkbar. Der Staatschef versammelt 1.000 Repräsentanten der Gesellschaft zur jährlichen Einschätzung der Lage. Im Zentrum von Moskau war es Ende Februar wieder einmal so weit. Zum bereits 15. Mal hielt der russische Präsident Wladimir Putin im alten Moskauer Handelsgericht, dem Gostiny Dwor – der entsprechende große Saal im Kreml wird gerade renoviert –, seine bereits traditionelle Rede zur Lage der Nation.
Sie war eine Mischung aus Befehlsausgabe und Orientierungshilfe, gespickt mit mahnenden Worten an die Bürokratie, aufmunternden Gesten an innovative Kräfte und Warnungen an die Feinde Russlands. Der ganze Auftritt atmete den Geist eines politischen Primats, der politischen Machbarkeit, die im von Kapitalinteressen getriebenen Westen undenkbar ist; weswegen ein solcher Auftritt von führenden Politikern der transatlantischen Metropolen auch undenkbar wäre.
Dies ist insofern interessant, als wir es auch im Falle Russlands mit einer Gesellschaftsordnung zu tun haben, in der private Kapitalakkumulation einen entscheidenden Faktor darstellt. Wenige sogenannte Oligarchen teilten sich über die vergangenen 25 Jahre die wirtschaftlichen Filetstücke der einstigen Sowjetunion. Dennoch scheint es Putin gelungen zu sein, eine Allianz – oder ist es nur ein Stillhalteabkommen? – zwischen Staat und Oligarchen zu schmieden, die dem Kreml deutlich mehr politischen Spielraum als dem Weißen Haus in Washington, dem Elysee in Paris oder dem Kanzleramt in Berlin belässt. Mit dazu beigetragen haben auch die von Washington und Brüssel verhängten Sanktionen gegen russische Banken und Konzerne, die den Wirtschaftsbossen und den neuen Reichen gezeigt haben, wie wichtig politischer Schutz gegenüber solch aggressiven, externen Interventionen ist. Und dieser Schutz ist nur vom Kreml zu haben.
Im Zentrum: Die Armutsbekämpfung
Das Publikum lauschte den Worten Putins andächtig. Vom Patriarchen der Gläubigen Kyrill I. über Ministerpräsident Dmitri Medwedew, Außenminister Sergej Lawrow, die Vorsitzende des russländischen Föderationsrates Walentina Matwijenko, den Abgeordneten der Duma, Gouverneuren aus vielen Gebieten des riesigen Landes, wichtigen Geschäftsleuten, prominenten SportlerInnen und Kulturschaffenden bis zu Berichterstattern inländischer und ausländischer Medien saßen alle dichtgedrängt vor der offenen Tribüne, die allein ohne Moderator oder Protokollchef Putin einnahm. Vier Fünftel seiner eineinhalbstündigen Redezeit widmete der 66-Jährige seinem Verständnis der sozialen Frage.
Im Zentrum stand die Armutsbekämpfung. Die Armen, so der russische Präsident, sind wieder mehr geworden. Waren es am Beginn seiner Amtszeit 40 Prozent der Russinnen und Russen, die unter der Armutsgrenze leben mussten, so sank dieser Anteil vor fünf Jahren auf 16 Prozent, um im letzten Jahr wieder auf 19 Prozent zu steigen. Dies, so Putins Tenor, müssen wir uns alle ins Stammbuch schreiben lassen und eine gemeinsame Anstrengung gegen diesen Trend unternehmen. Geld dafür, die Menschen aus der Armutsfalle zu befreien, sei vorhanden und wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Russen und Russinnen gesünder und länger leben – verdammt noch mal, hätte Putin seinem Gesichtsausdruck zufolge wohl noch gerne hinzugefügt, verkniff sich aber den sprachlichen Ausrutscher.
Die sozialpolitische Aufgabe soll, so der Präsident, mit demografischen Anstrengungen gekoppelt werden. Dabei sei dem Schrumpfen der russländischen Bevölkerung entgegenzutreten. Den Slogan „mehr Kinder – weniger Steuern“ will Putin als Programm verstanden wissen. Konkrete Vorstellungen lieferte er sogleich mit. Familien mit Kindern werden in Zukunft beim Kauf von Eigenheimen oder Wohnungen mit einem staatlichen Zuschuss für den Hypothekenkredit unterstützt, Grundsteuern entsprechend der Kinderzahl gesenkt. Ein sogenannter „Sozialkontrakt“ wird staatliche Unterstützung für Kleinunternehmer bereitstellen und ein „Zukunftsticket“ eine ebensolche für Jugendliche nach Lehrlings- oder Schulabschlüssen auf ihrem Weg zur Berufskarriere. Mit einer Indexierung der Pensionen soll den mutmaßlich größten Opfern der mangelhaften Politik, den Pensionisten, der Lebensabend ein wenig erleichtert werden.
Die Eckpfeiler der neuen Putin’schen Sozialpolitik zielen auf den Aufbau einer zukünftigen Mittelschicht, der die räuberisch-chaotische Akkumulationsdynamik der Transformationszeit das Leben ausgehaucht hatte, so sie es – in anderer, nicht von privatem Eigentum bestimmter Form – unter kommunistischen Vorzeichen gegeben hatte.
Nun plant der Kreml die Ausschüttung von staatlichen Mitteln zur Herstellung einer für Russland neuen Schicht von Selbstständigen. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, Klein- und Mittelbetriebe zu gründen und – auf niedrigem Niveau – Kapital zu bilden. Die gleichzeitig propagierte Mehrkind-Politik bedeutet für Frauen nicht unbedingt ein „Zurück an den Herd“, dafür ist auch die sowjetische Tradition – trotz Erstarken des kirchlichen Einflusses – kulturell zu tief verankert. Folgerichtig widmete Putin in seiner Rede zur Lage der Nation dem weiteren Ausbau von Kindergärten und Betreuungseinrichtungen für Jugendliche mehr als nur einen Satz während seiner Redezeit.
Ziemlich direkt benannte der oberste Kreml-Herr auch das Haupthindernis auf dem Weg zu Armutsbekämpfung und Mittelstandsbildung: die Bürokratie. Das Lob an drei Provinzen, den überbordenden bürokratischen Apparat eingedämmt zu haben, kann auch als Eingeständnis gelesen werden, wie faule, inkompetente und korrupte Staatsorgane überall sonst zwischen Murmansk und Wladiwostok ihr Unwesen treiben. Ansprachen allein werden dagegen nichts ausrichten, dem drohenden Zeigefinger müssen Taten folgen. In den kommenden zwei Jahren soll jede einzelne gesetzliche Bestimmung, gleich ob föderal oder regional, auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft werden. Wenn Regeln nicht mehr zeitgemäß sind, werden sie aufgehoben, um damit – so der Präsident – bürokratische Hürden für den einzelnen Bürger abzubauen und Unternehmertum zu erleichtern.
Russland ist wieder groß und stark
Von der makroökonomischen Front kam nur Positives. Geradezu überschwänglich berichtete Putin über den voll gefüllten Staatssäckel, mit dem sämtliche Auslandsschulden beglichen werden können. Die Souveränität Russlands stehe außer Frage, bemerkte er nicht ohne verdeckten Seitenhieb auf so manchen Staat in Europa, der am Gängelband der USA hängt. Diese Souveränität war und ist ihm ein primäres Anliegen. Und ganz oben auf der Agenda, noch vor der militärischen Verteidigung und der politischen Selbstständigkeit, nannte der oberste Kremlchef die Ernährungssicherheit.
Die Selbstversorgung mit Lebensmitteln sei in weiten Teilen, insbesondere beim Saatgut, gesichert; mehr noch: Russland strebe eine „ökologisch reine“ Landwirtschaft an. Der Ausgangspunkt hierfür wäre perfekt, gehört das Land doch zu den ganz wenigen, die noch nicht von US-amerikanischen, genmanipulierten Saatgütern verseucht sind.
Die Gegenmaßnahmen zu den US- und EU-Sanktionen, die seit August 2014 den russischen Markt für die meisten Agrargüter aus EU-Europa und USA sperren, halfen landwirtschaftlichen Produzenten in Russland, ihre Produkte am Markt gegen ausländische Konkurrenz zu etablieren.
Gegen die seit April 2014 in Kraft befindlichen Sanktionen, die immer wieder von Seiten Washingtons, und auch Brüssels, ergänzt beziehungsweise verschärft werden, konnte die Wirtschaft des Landes immunisiert werden, meinte Putin. Und er fügte hinzu, dass auch der tatsächliche Anlass für diese Sanktionen, nämlich die fortschreitende wirtschaftliche Integration im eurasischen Raum, auf gutem Weg sei. Nicht angesprochen hat der Präsident allerdings die zur Zeit laufenden Versuche von Seiten Brüssels, Belarus aus diesem eurasischen Wirtschaftsraum herauszuschälen.
Dann verkündete Putin noch stolz, dass es gelungen sei, auch ohne Gas- und Ölexporte eine ausgeglichene Handelsbilanz hergestellt zu haben. Inwieweit diese Aussage Wunsch oder Wirklichkeit widerspiegelt, werden die kommenden Jahresstatistiken zeigen.
Feuerwerk an Militärausgaben
Die letzten 20 Minuten seiner Rede an die Nation nützte Putin zur Analyse der internationalen Lage. Diese 20 Minuten waren es auch, die in der internationalen Presse Niederschlag fanden, während die Ausführungen zur Armutsbekämpfung und Mittelstandsbildung in den Mainstream-Medien weitgehend bis gänzlich unbeachtet blieben.
Aus der Sicht Russlands ist – wenig verwunderlich – die Aufkündigung des INF-Vertrages durch die USA, der 30 Jahre lang landgestützte Mittelstreckenraketen aus den Waffenkammern der beiden Atommächte verbannt hatte, der zentrale westliche Sündenfall des vergangenen Jahres. Putin rief die militärische Einkreisungsstrategie der NATO gegenüber Russland seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Erinnerung und kritisierte die Aufstellung von neuen Waffensystemen in Rumänien und Polen, die auch offensiv verwendet werden können.
Russland sei gezwungen, so der Kreml-Chef, darauf adäquat zu reagieren und sein Waffenlager zu modernisieren. Darauf folgte ein Feuerwerk an Bezeichnungen, hinter denen Abschuss- und Explosionsvorrichtungen stehen, die in einem – hoffentlich nie eintretenden – zukünftigen Waffengang zum Einsatz kommen würden.
Der nächste Krieg, so Putin, den niemand wolle, fügte er hinzu, würde nicht auf russischem Territorium ausgetragen. Diese Drohung war vor allem an die europäischen NATO-Partner gerichtet, die sie wohl verstanden haben.
Die Aufrüstungsrhetorik Putins rief einem langjährigen Beobachter der internationalen Beziehungen die 1980er-Jahre in Erinnerung, als es sich US-Präsident Ronald Reagan zur Aufgabe gemacht hatte, den (russischen) Kommunismus zu beseitigen. Seine Star-Wars-Phantasien und die tatsächlich umgesetzte Aufrüstung in Europa – mit der Stationierung von Pershing II-Raketen und Cruise Missiles – provozierten einen Rüstungswettlauf, in dem die Sowjetunion schließlich unterlag ... und unterging. Ihr politischer Totengräber, Michail Gorbatschow, musste 1987 am Ende eingestehen:
„Wir haben unser Land in ein Militärlager verwandelt; und der Westen will uns in ein zweites Szenario eines Rüstungswettlaufs treiben. Er rechnet mit unserer militärischen Erschöpfung: und dann wird er uns als Militaristen portraitieren.“
Am Ziel Washingtons hat sich nichts Wesentliches geändert. Das erstarkte Russland ersetzt das Feindbild Kommunismus. Es wird an der Klugheit der russischen Führung liegen, sich nicht wiederum in einen Rüstungswettlauf treiben zu lassen, ohne freilich militärisch, wirtschaftlich und politisch so zu schwächeln, dass US-amerikanische Weltherrschaftspläne gelingen.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Wien, 4. Auflage 2017. Promedia Verlag.