Nordkorea rettet Russland
Die Zusammenarbeit zwischen Wladimir Putin und Kim Jong-un lässt einen der schlimmsten Albträume des Westens wahr werden.
Wieder einmal soll das kleine Land am Ende Asiens dem großen Russland aus der Patsche helfen? Wie wahrscheinlich ist, dass der südkoreanische Geheimdienst Informationen hat, die sonst kein Land vorweisen kann? Geht es dabei um Erkenntnisse oder vielmehr um Interessen?
Vermutungen
Schon einmal hatte der südkoreanische Geheimdienst (NIS) mit überraschenden Meldungen aufgewartet. So soll Nordkorea „seit September [2023] 6.700 Container an Russland“ (1) geliefert haben. „Darin könnte vor allem Munition für den Ukraine-Krieg gewesen sein“ (2). Inzwischen wird gar „von rund acht Millionen Stück Munition“ (3) gesprochen. Das ist eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass die westliche Rüstungsindustrie für deren Produktion Jahre braucht.
Zu Beginn 2024 hatte „die Regierung in Prag nach eigenen Angaben 800.000 Schuss … 122- und 155-Millimeter-Artilleriegranaten auf dem Weltmarkt aufgetrieben“ (4). Bisher konnte nur ein Bruchteil der angestrebten Menge an die Ukraine ausgeliefert werden. „Bis Ende 2025 sollen es zwei Millionen sein“ (5). Diese Beispiele zeigen, wie schwierig schon die Beschaffung einer um einiges kleineren Menge selbst für solche Akteure ist, die finanziell und industriell besser ausgestattet sind als Nordkorea.
Nun ist das Land nicht gerade als industrielles Schwergewicht bekannt, das mit Rüstungsschmieden ausgestattet ist, die denen des Westens vergleichbar sind. Wenn selbst für den Westen die Beschaffung von einer Million Granaten schon eine Herausforderung ist, wie schwierig dürfte es dann für ein Land sein unter den Bedingungen von Nordkorea. Sicherlich kann eine solche Menge Munition über die Jahre auf Halde produziert werden. Es kann auch ohne Weiteres sein, dass das Land sich einen solchen Vorrat angelegt hat. Aber auch das hat dann gute Gründe.
Da die Informationen über militärische Angelegenheiten überall streng gehütet werden, können hier nur Vermutungen auf der Grundlage der Gegebenheiten angestellt werden. Eine davon besteht darin, dass sich Nordkorea weiterhin im Kriegszustand mit dem Süden und sich zunehmender Bedrohung durch diesen sowie durch die Amerikaner ausgesetzt sieht.
Eine weitere Entscheidungsgrundlage besteht in der Ungewissheit, aufgrund der gegen das Land verhängten Sanktionen über einen gesicherten Zugang zum notwendigen Material für seine Rüstungsindustrie zu verfügen.
Unter diesen Umständen dürfte die Bereitschaft in Pjöngjang nicht sehr groß sein, den Russen eigene Rüstungsgüter abzugeben. Denn aus den Erfahrungen des Ukrainekrieges werden auch die Nordkoreaner die Erkenntnis gewonnen haben, dass der Artillerie eine größere Bedeutung für den Kriegsausgang zukommt, als man in den vergangenen Jahrzehnten angenommen hat — zumindest im Westen. Die zweite Erkenntnis dürfte wohl darin bestehen, dass Produktionskapazitäten, Versorgung und Bestände an diesen Kampfmitteln nicht hoch genug sein können, zumal unter den Bedingungen eines Landes, das solch mächtigen Feinden gegenübersteht.
Unter diesen Umständen ist es fraglich, wie zuverlässig die Informationen sind, die „in seltener öffentlicher Detailtiefe“ (6) vom südkoreanischen Geheimdienst breitgetreten werden. Das ist bei Geheimdiensten nicht üblich. Wenn also Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, dann nur weil man will, dass sie dorthin gelangen. Es besteht offensichtlich eine Absicht hinter der Preisgabe der sonst so streng gehüteten Geheimnisse. In der Regel geht es in solchen Fällen um die Beeinflussung von Entscheidungsprozessen.
Kein Zurück
Der Wahrheitsgehalt der Veröffentlichungen des NIS kann nicht überprüft werden. Aber alleine die Grundlagen, auf denen diese erstellt werden, sind äußerst fragwürdig. Das war bei den Meldungen über die Waffenlieferungen an Russland schon so gewesen, als Beobachtungen vonseiten des NIS zu Vermutungen ausgebaut wurden, ohne dass es dafür stichhaltige Beweise gab. Der nächste Schritt war, dass interessierte Meinungsmacher diese Vermutungen zu Tatsachen ummodelten, aus denen dann eine Kampagne gemacht wurde.
Ähnlich ist es auch bei den Meldungen über nordkoreanische Soldaten im Dienste Russlands. Sie dienen politischen Zwecken. Bewiesen ist nichts. Spekulation ist alles. Die mediale Aufwallung beruht auf einem Radarbild, das „die verschwommene Silhouette eines Schiffes vor nordkoreanischen Hafenanlagen im Meer zeigt … Es soll sich um einen russischen Truppentransporter handeln … (der) insgesamt mindestens 1.500 nordkoreanische Soldaten nach Ostrussland verschifft“ (7) haben soll. Alles zuerst einmal Annahmen, Vermutungen, Rückschlüsse, aber kein einziger Beweis.
„Weder Washington noch die NATO haben Berichte über nordkoreanische Streitkräfte in Russland oder der Ukraine bisher bestätigt“ (8). Dabei geben westliche Geheimdienste doch sonst vor, bestens informiert sein, welcher Hisbollah- oder Hamasführer sich unter irgendwelchen zerbombten Krankenhäusern, Schulen oder sonstigen zivilen Zielen im Libanon oder im Gazastreifen befunden haben soll. Und bei einer solch groß angelegten russischen-nordkoreanischen Operation, die sich nicht unter der Erde, sondern auf offenem Meer abspielte, haben ihre Satelliten nichts erkennen können? War da nichts oder nur nichts Erwähnenswertes?
Recht schnell aber entwickelte sich unter Zutun von Meinungsmachern in den Medien eine Kampagne. Am Freitag, dem 18. Oktober, hatte der südkoreanische Geheimdienst die Meldung über 1.500 nordkoreanische Soldaten im Dienste Russlands in die Welt gesetzt. Noch am darauf folgenden Montag, dem 21. Oktober, erklärte NATO-Generalsekretär Mark Rutte, dass die NATO „nicht über eigene Erkenntnisse dazu“ (9) verfüge. Auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin „wollte die südkoreanischen Angaben nach einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister nicht bestätigen“ (10). Aber nur wenige Tage später scheinen die anfänglichen Vermutungen schon Tatsachen geworden zu sein, ohne dass Handfestes vorgelegt wurde.
Die südkoreanische Regierung bestellte daraufhin den russischen Botschafter ein und forderte „mit Nachdruck den sofortigen Rückzug der nordkoreanischen Truppen und die Beendigung der einschlägigen Zusammenarbeit“ (11). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht von sich häufenden Indizien, die dann auch schon gleich alarmierend sind. Die Neue Züricher Zeitung ist gar der Meinung, dass die Freigabe weitreichender Waffen an die Ukraine nun die richtige Antwort sei und die NATO sollte „die Verlegung eigener Bodentruppen im selben Umfang in die Ukraine androhen“ (12). Der Eskalation wird das Wort geredet. Im westlichen Denken gibt es kein Zurück.
Interessen
Die Frage ist, wie aus der Silhouette eines Schiffes am Ende eine Bedrohung wird, von der behauptet wird, dass sie mit der Stationierung von NATO-Truppen in der Westukraine beantwortet werden muss. Das geht nur durch das Zutun von Interessen. Um welche Interessen geht es in Südkorea, denn immerhin wurde von dessen Geheimdienst diese Kampagne ins Leben gerufen? Welche Entscheidungen sollen mit diesen Veröffentlichungen beeinflusst werden? Die Interessenlage ist in solchen Fällen nicht immer eindeutig. Es gibt nicht nur diejenigen der Rüstungsindustrie, wie so manche glauben. Oftmals sind andere Wirtschaftszweige bedeutender wie im Falle Südkoreas die Elektronik-, Chip- und Autoindustrie.
Das asiatische Land hat sich nicht so umfassend den antirussischen Sanktionen angeschlossen wie die NATO-Staaten und wie diese auch immer wieder fordern. Unter den Exportbeschränkungen leidet besonders die Halbleiterindustrie. Wegen seiner starken Abhängigkeit von russischen Energieträgern ist das Land in der Anwendung von Sanktionen etwas zurückhaltender als die europäischen NATO-Staaten. „Gut ein Drittel des angereicherten Urans für den Betrieb seiner 26 Atomkraftwerke“ (13) bezieht Seoul aus Russland. Wie in der westlichen Wirtschaft gilt auch in Südkorea: „Eine Wiederbelebung der russisch-südkoreanischen Handelsbeziehungen wünschen sich auch in Seoul so manche“ (14). Denn immerhin war Russland vor dem Ukrainekrieg Südkoreas zehntgrößtes Exportland.
Doch diesen Interessen der zivilen Wirtschaft stehen jene der Rüstungsindustrie, des Geheimdienstes und des Militärs gegenüber. Südkorea ist einer der weltweit größten Waffenexporteure. An diesem Punkt treffen sich nicht nur die Interessen des Geheimdienstes und der Rüstungsindustrie des Landes.
Hier ist auch ein Ansatzpunkt für die Interessen der antirussischen Regierungen und Bündnisse weltweit. Die ukrainische Armee braucht Waffen und Munition, die westliche Industrie kann nicht genug liefern, und die Südkoreaner haben genug davon. Aber sie dürfen nicht liefern.
Die südkoreanische Verfassung verbietet die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete und so „liefert Südkorea trotz wiederholter Bitten der NATO bis heute keine Waffen oder Munition direkt an die Ukraine“ (15). Ist hier der Grund für die wiederholten Veröffentlichungen des NIS zu suchen? Will man durch solche Berichte den Boden für eine Verfassungsänderung vorbereiten, damit zukünftig südkoreanische Rüstungsgüter den Weg in die Ukraine finden? Hier gehen die Interessen der antirussischen Kräfte in Südkorea mit denen der Ukraine Hand in Hand.
Die Veröffentlichungen des NIS sind für die Ukraine eine willkommene Gelegenheit, ihre westlichen Partner nach dem Scheitern von Selenskyjs Siegesplans weiter unter Druck zu setzen. So überschlagen sich denn innerhalb kürzester Zeit die angeblichen Erkenntnisse des ukrainischen Geheimdienstes über die Zahl der nordkoreanischen Soldaten, ihre Aufgaben und ihre Einsatzgebiete. Schon kursieren ukrainische „Geheimdienstinformationen, nach denen die Soldaten vom 27. oder 28. Oktober an in der Kampfzone eingesetzt werden sollen“ (16).
Die Ukrainer wissen, dass viele Entscheider im Westen befürchten, Russland könnte nach dem Sieg über die Ukraine weiter auf NATO-Gebiet ausgreifen. Diese Angst nähren Selenskyj und sein Geheimdienst. Sie ist Selenskyjs stärkstes Druckmittel, das der Westen selbst ihm in die Hand gedrückt hat. In seiner verzweifelten Lage richtet er diesen Hebel gegen seine westlichen Unterstützer, wenn sie ihm nicht die Unterstützung geben, die er braucht. Wer könnte es ihm in seiner verzweifelten Lage verdenken?
Die antirussischen Kräfte im Westen hingegen scheinen inzwischen so sehr verblendet, dass sie offensichtlich keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wer natürlich zu Beginn des Krieges Russland als Tankstelle mit Atomwaffen verspottete, kann nun gut die Hosen voll haben, weil die Russen offensichtlich doch ein ernst zu nehmender Gegner sind. So ernst, dass sie Wladimir Putin nun zutrauen, er könnte sogar bis nach Berlin durchmarschieren. Und nun auch noch Verstärkung durch Truppen von Kim Jong-un? Da läuft’s im Westen so manchem kalt den Rücken runter.
Im Gegensatz zu den NATO-Staaten ist die Angst des Geheimdienstes und der antirussischen Kräfte in Südkorea schon eher nachvollziehbar.
„Die Aussicht auf nordkoreanische Soldaten mit Kampferfahrung steigert Bedrohungsgefühl in Südkorea“ (17).
Das wäre ein erheblicher Vorteil gegenüber der südkoreanischen Armee. Wie weit aber sind westliche Meinungsmacher inzwischen von der Wirklichkeit entfernt, wenn sie glauben, dass Russland zu seiner eigenen Rettung das kleine Nord-Korea braucht? Da ist nicht mehr viel übrig von der anfänglichen Überheblichkeit und von realistischem Einschätzungsvermögen schon gar nichts mehr.