Nordafrikanischer Tugendterror

In Libyen werden frauenfeindliche, fundamentalistische Verhaltensvorschriften eingeführt — der Westen ist empört, aber an all dem nicht ganz unschuldig.

Der Westen hatte Libyen besiegt und Muammar al-Gaddafi stellvertretend hingerichtet. Nun müsste ja alles gut sein, könnte man meinen. Für Diktaturen sei kein Platz mehr, schon gar nicht für eine Herrschaft religiöser Fanatiker. Tatsächlich dürfte nun aber eine neu gegründete „Behörde zum Schutz der öffentlichen Moral“ das Land mit einer Tyrannei islamistischer Verhaltensregeln überziehen. Besonders Frauen könnten einen Großteil ihrer Freiheiten verlieren. Die libysche Regierung vollführte einen Kniefall vor den Kräften der Moslembruderschaft und deren Milizen, was einen weiteren Schritt auf dem Weg in die Spaltung zwischen dem östlichen und westlichen Libyen darstellt. Bei aller Empörung darf man nicht vergessen, dass Premierminister Abdulhamid Dabaiba mithilfe der UN und der westlichen „Wertegemeinschaft“ in sein Amt gekommen ist.

Auf Initiative von Imad Trabelsi, Innenminister der Dabaiba-„Regierung“ in Tripolis, hat am 14. November 2024 der libysche Präsidialrat unter dem Vorsitz von Mohamed al-Menfi offiziell eine „Behörde zum Schutz der öffentlichen Moral“ ins Leben gerufen. Diese Entscheidung löste eine Welle der Empörung aus.

Die neue Behörde untersteht Imad Trabelsi und soll moralische Standards in der Öffentlichkeit durchsetzen. Laut Trabelsi werden strenge Richtlinien für das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit und eine Kleiderordnung vorgegeben. Mädchen sollen schon in jungen Jahren einen Hidschab tragen, in Cafés und Restaurants soll Geschlechtertrennung gelten, und Reisen von Frauen sollen strengen Beschränkungen unterliegen.

Die Umsetzung von Trabelsis Vorgaben erfolgte in rasanter Geschwindigkeit und trotz immenser öffentlicher Kritik im In- und Ausland. Nicht nur Amnesty International verurteilte Trabelsis Sittenpolizei scharf als Bedrohung der Grundfreiheiten und alarmierende Eskalation der Repression, auch Human Rights Watch hält die Einsetzung der Sittenpolizei für einen eklatanten Verstoß gegen die Rechte libyscher Frauen. Und laut der Internationalen Juristenkommission wird damit eine weitreichende Repressionskampagne gegen Frauen und Mädchen gestartet.

Es verwundert dagegen wenig, dass Personen, die mit al-Kaida und dschihadistischen Organisationen in Verbindung stehen, die Einführung der Schleierpflicht in Libyen loben. Innenminister Trabelsi scheint sich mit seiner neuen Behörde den Rückhalt bei salafistischen Milizen erkaufen zu wollen und orientiert sich dabei an den Vorgaben des ehemaligen Großmuftis as-Sadiq al-Gharyani in Tripolis. Gharyani war 2012 zum Großmufti ernannt, 2014 aber bereits wieder entlassen worden. Über seine Tanasu-Stiftung für Predigt, Kultur und Medien verbreitet er bis heute seine der Moslembruderschaft angelehnten Anschauungen. Der Mufti, der lange Jahre in der Türkei lebte, wurde nach seiner Rückkehr nach Tripolis immer wieder beschuldigt, zu Gewalt anzustiften, ausländische Interventionen zu befürworten und die Gesellschaft zu spalten.

Anzumerken bleibt, dass diese Tripolis-„Regierung“ unter ihrem Premierminister Abdulhamid Dabaiba von den Vereinten Nationen und der „Internationalen Gemeinschaft“ ins Amt gehievt wurde und als legitime libysche Regierung anerkannt wird.

Dazu bemerkte der Vorsitzende des Nationalen Menschenrechtsausschusses, Ahmed Hamza, anlässlich eines Treffens des EU-Botschafters Nicola Orlando mit dem Innenminister Imad Trabelsi: „Es besteht Übereinstimmung bei Migrationsangelegenheiten, dafür wird bei Menschenrechtsverletzungen und der Unterdrückung von Freiheiten weggeschaut.“ Dies gerade von einem „Wertewesten“, dem die Unterdrückung und Entrechtung der Frau in Afghanistan oder im Iran nicht hart genug angeprangert werden kann.

Inzwischen erheben sich immer mehr Stimmen, die den Rücktritt der Dabaiba-„Regierung“ und endlich die Durchführung von Wahlen fordern. Dagegen geht es den USA inzwischen vor allem darum, den Einfluss Russlands in Libyen und der Region zurückzudrängen und die libyschen Gelder über Einflussnahme auf die libysche Zentralbank, die sich in Tripolis befindet, zu kontrollieren. Stellungnahmen zu den neuen Sittengesetzen sind bisher nicht bekannt, auch nicht vom libyschen Parlament im östlichen Libyen, das unter der Fuchtel des Haftar-Clans und dessen Militär steht – und das mittlerweile heftig mit dem Dabaiba-Clan in Tripolis kungelt.

Angeblich sollen die neuen Sittenwächter dafür sorgen, die kulturelle Identität Libyens zu schützen. Allerdings bestand und besteht Libyens kulturelle Identität weder aus der Entrechtung noch aus der Unterdrückung von Frauen. Es sei daran erinnert, dass zu Zeiten Muammar al-Gaddafis und der Dschamahirija-Regierung bis 2011 Frauen alle nur erdenklichen Rechte zustanden, von Schulausbildung bis Berufswahl, von Erb- bis Scheidungsrecht. Muammar al-Gaddafis Tochter, die Anwältin Aisha al-Gaddafi, wurde 2009 sogar zur Ehrenbotschafterin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ernannt, wo sie sich gegen die Unterdrückung von Frauen in der arabischen Welt einsetzte.

Dies alles änderte sich 2011 mit dem Kreuzzug der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton, die in ihrer Vorreiterrolle einer „feministischen Außenpolitik“ behauptete, der Sturz Gaddafis würde den libyschen Frauen endlich die ersehnte Freiheit bringen. Clinton feierte mit dem Satz „Wir kamen, wir sahen, er starb“ Muammar al-Gaddafis Tod. Heute wissen wir, dass mit dem Sieg der NATO über Libyen auch die Freiheit der libyschen Frauen beerdigt wurde.

Die Libyerinnen werden diese neue Art von „Freiheit“ danken.