Nicht für die Schule

Lehren und Lernen sind die zwei Seiten der Pädagogik und bedingen einander.

Pädagogik ist laut Duden die Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung. Pädagogen sind die handelnden Erzieher von Schülern. Was Lehrende von Lernenden lernen können und wovon Lernende ein Lied singen können — davon handelt das folgende Prosastück des Poeten und Essayisten Peter Fahr.

Im Vorbeigehen beobachte ich, wie eine Kinderschar lärmend das Portal einer Schule stürmt. Ich beneide diese Kinder, die Unbekanntes erfahren und Wissenswertes lernen dürfen. Manchmal erfasst mich die Sehnsucht, dass mich jemand auch heute noch Dinge lehrt, die über meine Vorstellung hinausgehen. Zugleich bemitleide ich die Kinder, denn sie sind dem umfangreichen Lernstoff, den Eigenarten der Lehrpersonen und deren unterschiedlichen Lehrmethoden schutzlos ausgeliefert.

Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit. Unvermittelt steht der Lateinlehrer vor mir, steif und gerade wie eine Tempelsäule. Er steht an der Wandtafel und erhebt mahnend den Zeigefinger: „Non scolae sed vitae discimus. Nicht für die Schule, fürs Leben lernen wir.“ Heute weiß ich, was der Lehrer uns Schülern klarzumachen versuchte, aber ich bezweifle, dass er den römischen Aphorismus auch auf sich selbst bezog.

Schönberg — so heißt der Hügel vor der Stadt, auf dem die Gebäude des Internats stehen. Das Haupthaus ist ein düsterer Bau mit Sandsteinmauern und winzigen Fenstern. Er beherbergt die Schulzimmer, zwei Schlafsäle, den Speisesaal und die Büros von Präfekt und Rektor. Der Schönberg ist kein schöner Berg — er ist ein schrecklicher Ort, wo schreckliche Dinge geschehen.

  • 06.20: Es hat geläutet. Wie es jeden Morgen läutet im Internat.
  • Mein Bett ist groß. Und bequem. Ich kann die Beine ausstrecken. Am liebsten bin ich im Bett. Da ist es warm.
  • 06.30: Es läutet zur morgendlichen Vorbereitung.
  • Mit zwölf wollte ich Priester werden. Seitdem bin ich hier. Das Internat ist alt.
  • 07.15: Es läutet zum Frühstück.
  • Mit meiner Mutter bin ich hergekommen. Die Gebäude befinden sich auf einer Hochebene. Es ist still.
  • 07.55: Es läutet zum ersten Mal die Schule ein.
  • Das Haus wird von Geistlichen geleitet. Wir sind alles Knaben. Zu Beginn habe ich oft geweint. Besonders abends, eingesperrt in der Toilette. Leise und vorsichtig.
  • 08.00: Es läutet zum zweiten Mal die Schule ein.
  • Ich denke oft an meinen Bruder zu Hause. Er beneidet mich. Ich sei gescheit, sagt er. Ich schreibe ihm Briefe. Er antwortet nicht.
  • 08.45: Es läutet zur Pause.
  • Die Mahlzeiten schmecken nicht. Das Fleisch ist fett und zäh.
  • 08.50: Es läutet die zweite Schulstunde ein.
  • Auf den Suppen schwimmen Fettaugen und Haare. Einmal in der Woche werden Pommes und panierte Schnitzel aufgetischt.
  • 09.35: Es läutet zur Pause.
  • Die Korridore der Gebäude sind lang. Und dunkel. Es gibt viele Türen.
  • 09.40: Es läutet die dritte Schulstunde ein.
  • In einem großen Saal machen wir unsere Hausaufgaben. Studium heißt das. Fünfzig Pulte stehen da drinnen. Geredet wird nicht. Zuhinterst sitzt die Aufsicht. Briefe schreiben dürfen wir nicht. „Dafür ist die Freizeit da“, meint unser Klassenlehrer. Die Schlafsäle sind oben und tagsüber abgeschlossen. Jeder fasst 25 Betten. Ein Bett steht am anderen.
  • 10.20: Es läutet zur großen Pause.
  • Unter der Hauskapelle im Nebengebäude befindet sich ein Freizeitraum. Einige basteln. Ich bin oft auf dem Fußballplatz.
  • 11.40: Es läutet die vierte Schulstunde ein.
  • Ausgang gibt es nur am Donnerstagnachmittag. Mit besonderer Erlaubnis dürfen wir in die Stadt. Zehn Minuten mit dem Bus.
  • 12.25: Es läutet zum Mittagessen.
  • Jeder besorgt dreimal in der Woche eine bestimmte Putzarbeit.
  • 13.55: Es läutet zum ersten Mal zum Studium.
  • Im kleinen Theatersaal steht ein Fernsehgerät. Der Religionslehrer bestimmt für jede Woche zwei Sendungen.
  • 14.00: Es läutet zum zweiten Mal zum Studium.
  • Im Klassenzimmer sitze ich in der dritten Reihe. Ich gebe mir Mühe. Die Lehrer loben mich dann und wann.
  • 15.00: Es läutet zur Pause.
  • Gute Noten machen mich froh. Die Eltern sind dann stolz auf mich.
  • 15.15: Es läutet die fünfte Schulstunde ein.
  • Die Leitung des Internats legt großen Wert auf unsere Bildung.
  • 16.00: Es läutet zum Imbiss.
  • Wir lernen Latein. Wir lesen Vergil, Livius, Cicero und Cäsar. Wir befassen uns mit der römischen Geschichte.
  • 16.25: Es läutet zum ersten Mal zum Nachmittagsstudium.
  • Wir lernen Französisch. Wir lesen Molière, Descartes, Camus und Sartre. Wir befassen uns mit der französischen Geschichte.
  • 16.30: Es läutet zum zweiten Mal zum Nachmittagsstudium.
  • Wir lernen Deutsch. Wir lesen Goethe, Schiller, Hauptmann und Brecht. Wir befassen uns mit der deutschen Geschichte.
  • 18.00: Es läutet zur Pause.
  • Wir lernen Mathematik. Wir rechnen nach Euklid, Pythagoras, Euler und Newton. Wir befassen uns mit Algebra und Arithmetik, mit Geometrie und Differentialrechnung.
  • 18.15: Es läutet zur Bibelstunde.
  • Wir lernen Schweizer Geschichte. Wir lernen Geografie. Wir lernen Biologie. Wir lernen Physik. Wir lernen Chemie. Wir lernen Zeichnen. Wir lernen Religion.
  • 18.45: Es läutet zum Abendessen.
  • Manchmal gehe ich spazieren.
  • 20.30: Es läutet zum ersten Mal zur Nachtruhe.
  • Einmal im Monat darf ich nach Hause. Am Morgen des ersten Sonntags. Nach der Messe. Am Abend bin ich wieder zurück. Ich liebe meine Eltern. Ich liebe meinen Bruder. Ich liebe meine Schwester.
  • 20.40: Es läutet zum Lichterlöschen.

Ich kenne die genaue Länge, Klangfarbe und Lautstärke der Glocke. Sie ertönt täglich vierundzwanzigmal. Während vier Jahren, neun Monaten und achtzehn Tagen. Die Sonntage nicht mitgerechnet ergibt das vier — Jahre — mal hundertzweiundneunzig plus einundzwanzig — Wochen — mal sechs plus fünfzehn gleich achthundertfünfundachtzig — Tage — mal vierundzwanzig: Einundzwanzigtausendzweihundertvierzigmal hat mich die Glocke gewarnt.

Rund 800 Millionen Menschen sind Analphabeten, jeder zehnte Mensch kann weder lesen noch schreiben. Bildung ist ein seltenes Privileg. Aber was verstehen wir eigentlich unter Bildung? Gewöhnlich wird sie als Wissen definiert, meist als Allgemeinwissen auf traditionell geisteswissenschaftlichem Gebiet; auch als berufliche Bildung, bei der Kenntnisse zum Beispiel technisch-naturwissenschaftlicher Art eine Rolle spielen. Diese Definitionen erklären den blinden Glauben an die Naturwissenschaften mit ihren technischen Errungenschaften, aber werden sie auch dem humanistischen Bildungsbegriff gerecht?

Der dicke Egon steht vor dem Lehrerpult. Er hat den Anfang der zweiten Strophe von Goethes „Zauberlehrling“ vergessen.

Die Pause wird lang. Der Lehrer wartet.

Nach einer Minute schickt er Egon an den Platz zurück. Dann durchmisst er mit großen Schritten das Schulzimmer. Bei der hintersten Sitzreihe angekommen dreht er sich auf dem Absatz um und schreit über die verängstigten Köpfe hinweg: „So, so, das Schweinchen spielt den Stummen! Ich will euch lehren: Wenn ich euch heute Abend nicht alle in der Messe sehe, gibt es morgen einen Aufsatz!“

Im Althochdeutschen bedeutete bilden: gestalten, Form geben, nacheifern. Diese Herkunft verweist auf den Sinn jeder Bildung: Wer sich oder andere bildet, geht von der Möglichkeit der Verwandlung aus, bejaht die schöpferische Veränderbarkeit des Menschen.

Doch darf sich Bildung auf Lesen, Schreiben und Rechnen beschränken? Müsste sie nicht den ganzen Menschen erfassen, seinen Verstand, seine Sinne, seine Empfindungen, kurz: seine geistig-seelische Existenz, sein Menschsein? Müsste, wer sich der schwierigen Aufgabe stellen will, andere zu bilden, nicht bei sich selbst beginnen? Bedingt Menschsein nicht Menschwerdung?

Stefan betrachtet die Sätze in seinem Heft. Dann lässt er den Kopf nach hinten fallen und wackelt kunstvoll mit den Ohren. So ausgelassen habe ich ihn noch nie gesehen. Sein Banknachbar kichert unaufhörlich.

Stefan grunzt leise. Sein Blick wandert von der Decke über die Neonröhre zum Lehrer. Mit absichtlicher Schwerfälligkeit imitiert er dessen gezierte Handbewegungen und erntet unverzüglich schleichendes Grinsen. Dadurch ermutigt, treibt er seine Späße so weit, dass die meisten Schüler auf ihn aufmerksam werden. Schließlich beginnt er, die grammatikalischen Ausführungen des Lehrers in flüsterndem Ton nachzuäffen. Dabei wird er immer lauter. Und als der Lehrer sein Diktat plötzlich abbricht, ertönen seine gurgelnden Laute …

Ich muss Stefan beim Verlassen des Klassenzimmers stützen. Er ist betrunken.

Von den Schülerinnen und Schülern wird immer mehr gefordert. Wird aber von den Lehrpersonen mehr gefordert, sind sie schnell überfordert. Müssten sie nicht über das intellektuelle Geschick verfügen, das nach einem Gleichgewicht zwischen Sachwissen und geistiger Durchdringung von Fakten strebt? Müssten sie nicht die besondere Fähigkeit haben, gemachte Erfahrungen und Erkenntnisse mit Wahrhaftigkeit, Begeisterung und Empathie weiterzugeben?

Der Rektor sitzt abends vor dem Bildschirm und raucht dicke Zigarren. Seine Hände, die tagsüber an den Zöglingen herumspielen, sind peinlich sauber.
Der Deutschlehrer preist sich in seinen Predigten als Märtyrer, erzählt von Visionen und ruft in die vollbesetzte Kapelle: „Orangensaft! Ich habe es gesehen. Tut Buße, aus Marias Brüsten rann Orangensaft!“ Die Oberen schicken ihn in eine Berggemeinde: Predigtverbot.

Der Französischlehrer widmet sich mit maßlosem Eifer seinen „wissenschaftlichen Berechnungen“. Bei Unterrichtsbeginn notiert er sich jede Verspätung der Zöglinge in Sekunden. In der Freizeit beugt er sich über die Bibel und berechnet die genaue Anzahl der darin vorkommenden Wörter „und“ und „oder“.
Der Lateinlehrer schwärmt von der Antike und kommt mit der Gegenwart nicht klar, der Philosophielehrer schwelgt in platonischen Orgasmen, der Mathematiklehrer traktiert uns mit Beleidigungen, der Turnlehrer …

Der Volksmund sagt: Ein Vorbild lehrt mehr als tausend Worte. Behalten Lehrpersonen, die das nicht berücksichtigen, ihre Glaubwürdigkeit? Was nützen da Leitbilder, Module und Strukturen, eine Reformierung beziehungsweise Reglementierung des Schulsystems oder gar neue Gesetze? Wären nicht mutige Menschen vonnöten, die nicht nur Disziplin, Wettbewerb und Erfolgsstreben ins Schulzimmer tragen, sondern Ethik, Eigenverantwortung und Gemeinsinn? Ginge es im neoliberalen Zeitalter, in dem Tendenzen wie Beliebigkeit und Zynismus vorherrschen, im Unterricht nicht vor allem darum, kritisches, fragendes Denken zu fördern und die Fähigkeit zum aufrichtigen Mitgefühl zu wecken?

Noch vor Ablauf des ersten Schuljahres finde ich im Keller des Haupthauses den leblosen Körper eines Zöglings. In der weiß gekachelten Gemeinschaftsdusche, die ich zu reinigen habe. Am Boden ein umgekippter Stuhl. Der sanfte Daniel hängt am Rohr der Wasserleitung über den Brausen.

Muss der Lateinlehrer für immer wie eine Tempelsäule an der Wandtafel stehen? Was, wenn sich seine innere Verkrampfung lockerte? Vielleicht ginge er dann zum Pult, setzte sich, schlüge die Beine übereinander und verkündete: „Nicht für die Schule, fürs Leben lehre ich.“


Peter Fahr: Meine Güte! Gedichte

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