Neuvermessung von links und rechts
Im Manova-Exklusivgespräch diskutiert Walter van Rossum mit dem Historiker Sven Brajer und dem Politiker Oskar Lafontaine über die Verwerfungen des politischen Spektrums.
„Wir halten Abstand & setzen gemeinsam in #Leipzig ein Zeichen gegen #Covidioten #Querdenker #Schwurbelei & #Nazis!“ – so twitterte fröhlich die Partei Die Linke anlässlich einer Demonstration in Leipzig Ende 2020. Von Anfang an hatte sich die Linke dem Rudel der Pandemiker angedient und eiferte in krausesten Tönen. Und nicht nur die Partei dieses Namens, sondern fast alle, die sich links nennen, wurden zu strammen Parteigängern des Corona-Regimes. Das heißt, sie predigten absurde Maßnahmen und nahmen alle Andersdenkenden in die Mangel. Irgendeine auch nur ansatzweise „linke“ Begründung für diese Haltung wird man bis heute nicht finden. Man war einfach dabei, wie man auch vorher schon ziemlich dabei gewesen war. Noch vor Corona wetteiferte man mit den Grünen, wer denn der bessere Klimaretter wäre. Und als Russland in die Ukraine einmarschierte, packten die Genossen die ganz dicken Kriegstrommeln aus. Die Linke hat bei den großen Themen, an denen unsere Realität zu zerbrechen droht, keinerlei eigene Haltung mehr. Endlich hatte man das Außenseitertum hinter sich gelassen, doch im Glück der Mitte hatte man glatt vergessen, dass niemand noch eine weitere Ampel-Partei brauchte. Bei den Wahlen 2021 rettete sich die Partei gerade noch ins Parlament.
Der Historiker Sven Brajer war Mitglied der Linken und sogar Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bis er 2020 das Handtuch warf und ein wahrlich erhellendes Buch über den langen Weg der Linken in die Bedeutungslosigkeit schrieb: „Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ (1).
Die Geschichte begann noch zu Zeiten als Oskar Lafontaine erst Fraktionsvorsitzender und später Chef der Linkspartei war. 2010 legte er seine Ämter aus gesundheitlichen Gründen nieder. 2012 übernahm Katja Kipping, zusammen mit Bernd Riexinger, die Parteiführung. Niemand repräsentierte die Umwertung aller linken Werte besser als Kipping.
Heute werden „freie“ andersdenkende Linke von der neuen linken Orthodoxie schamlos als rechts geframt. Wenn Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht für Diplomatie in Sachen Ukraine werben, nennen die (ehemaligen) Genossen sie naive und gefährliche Pazifisten.
Und es gibt noch andere Punkte, die die links-rechts Ordnung des politischen Felds aufbrechen. So ist es ausgerechnet die AfD, die im Parlament kritische Positionen zu den Themen Pandemie, Ukraine und Klimawandel vertritt. Es wird Zeit, sich daran zu erinnern, dass über eine gewisse Übereinstimmung bei den genannten Themen hinaus die meisten von uns ganz andere politische Überzeugungen haben, als sie die AfD verritt.