Neubeginn in der Ostukraine
Die Mehrheit der Bevölkerung in den ukrainischen Gebieten Donezk, Lugansk, Cherson und Saparoschje möchte zu Russland zurückkehren.
Ein neuer Wind weht im Osten der Ukraine. Die extrem hohe Wahlbeteiligung und die wenigen Nein-Stimmen beim Referendum in den Gebieten Donezk, Lugansk, Cherson und Saparoschje mögen für Außenstehende unglaubwürdig wirken. Aber jeder, der während des fünftägigen Wahlgangs vor Ort war, konnte im persönlichen Gespräch mit Bürgern und Bürgerinnen erleben, dass der Wunsch, sich mit Russland zu vereinigen, so gut wie einhellig war. Wenn man Intellektuelle befragte, so antworteten viele eher emotionslos, ein anderer Weg als eine Vereinigung sei nicht möglich. Aber der Großteil der Menschen, vor allem der älteren Generation, war geradezu begeistert von der Aussicht auf Vereinigung. Nur wenige Tage vor der Wahl hatte die ukrainische Artillerie den „Кryty Rynok“ — den größten Markt der Stadt — und das Kujbyschew-Wohngebiet im Nordwesten von Donezk beschossen. Es gab 19 Tote. Doch das Referendum fand statt.
Mit mobilen Wahlurnen wegen der Gefahrenlage
Kirill ist fünf Jahre alt. Eine Träne lief über seine Backe, als er mir seine Geschichte erzählte. Es ist eines der Kinder, das seit acht Jahren im Kriegsgebiet Donbass aufwächst.
Ich wurde auf den Kleinen aufmerksam, als ich in der Stadt Makejewka in der Volksrepublik Donezk war. Auf einer Wiese zwischen Wohnhäusern standen Frauen und ein paar Männer, die darauf warteten, dass sie ihre Stimme zum Referendum über die Vereinigung mit Russland in eine mobile Wahlurne werfen konnten.
„Wir wurden beschossen“
Ich wollte mit dem kleinen Kirill ins Gespräch kommen. Aber das war gar nicht so leicht. Als ich ihn ansprach, wendete er sich ab. Eine Nachbarin drängte ihn: „Erzähl doch, wie du dich mit Mama versteckt hast.“ Kirill verdrückte sich hinter dem Bein eines Nachbarn. Dann plötzlich verließ er seine Deckung und schrie heraus, was er erlebt hat.
„Wir wurden beschossen. Meine Mutter ist zu mir gekrochen. Wir fielen hin. Kinder starben. Dort auf dem Platz starben sie. Alle Leute sind gestorben. Die Häuser wurden zerstört. Russland schießt auf die Ukraine. Und die Ukraine schießt auf uns.“
Dann sagt er mit etwas ruhigerer Stimme: „Wir wählen Russland.“ Ob Russland ihn schütze, wollte ich wissen. „Ja, Russland schützt mich,“ lautete die Antwort.
Ich war erstaunt, dass ein Fünfjähriger solche Worte sagt. Aber welche Worte kann man eigentlich erwarten bei einem Krieg, dem aufseiten der Volksrepubliken schon mehr als 100 Kinder zum Opfer fielen? Kinder lernen schnell. Sie erkennen an dem Geräusch der Geschosse, woher die Bedrohung kommt und sie wissen, wie man Deckung sucht.
„Wir wollen niemanden umbringen“
Dass ein Team von Wahlhelfern mit einer mobilen Urne in dem Stadtviertel von Makejewka unterwegs war, hatte sich schnell herumgesprochen. Anwohner, die noch abstimmen wollten, sammelten sich in einem Hof zwischen den Häusern. Während die Pässe geprüft und die Stimmzettel ausgegeben wurden, erzählten mir die Menschen am Rande dieser spontanen Versammlung, was sie bewegt.
Mobil wählen im Stadtviertel Makejewka, Fotos: Ulrich Heyden
Eine Rentnerin in schwarz-gelb gemustertem Regenmantel und Dauerwelle hatte mitbekommen, dass ich Deutscher bin. Mit erregter Stimme und einem sehr ernsten Gesicht wandte sie sich an mich.
„Sagen Sie den Deutschen, dass man uns nicht umbringen soll. Bitte! Sagen Sie ihnen, dass wir friedliche Leute sind. In unserem Alter wollen wir in Ruhe leben. Sagen Sie ihnen, dass wir keine Feinde der Deutschen und keine Feinde anderer Völker sind. Wir wollen, dass alle Menschen auf dieser Welt gesund und in Frieden leben.“
Dann kam ich mit Jewgenija Sergejewna, einer Frau Mitte 50, ins Gespräch. Ob nicht Menschen während der acht Kriegsjahre verrückt geworden sind, frage ich sie geradeheraus.
Die Frage erschreckt Jewgenija nicht. Sie antwortet ebenso geradeheraus:
„Wir versuchen uns an den Krieg nicht zu gewöhnen. Wir versuchen, nicht verrückt zu werden. Wir verstehen, dass wir Überleben müssen, für unsere Kinder und unsere Enkelkinder. Für den Frieden, nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt. Wenn die Menschen das nicht verstehen, dann wird es sehr schlecht, für die ganze Welt.“
„Die sind mehr. Wir sind wenige“
Zu denjenigen, die auf ihre Stimmabgabe warten, gehört auch Jekaterina. Sie ist 31 Jahre alt, arbeitet als Erzieher in einem Kindergarten und hat selbst ein zehn Jahre altes Kind. Jekaterina erzählt mit ernstem Gesicht, man habe „keine Kraft mehr, sich das alles anzugucken“. Die ständigen schrecklichen Geräusche von den Bombardierungen seien „nicht zu ertragen“.
Jekaterina, Kindergärtnerin in Makejewka, Foto: Ulrich Heyden
Von der Vereinigung mit Russland verspricht sich Jekaterina „Frieden und Sicherheit“. Denn Russland, „die sind mehr. Wir sind wenige“. So einfach ist die Rechnung von Jekaterina.
Die Menschen in den Volksrepubliken seien für die Ukraine „Verräter“ und keine Menschen. Sie sei in den vergangenen acht Jahren nirgendwo hingefahren. Sie haben einfach in ihrer Stadt weitergelebt. Wie könne sie da eine Verräterin sein?
Keine Ukraine-Nostalgie
Ich frage Jekaterina, ob sie nie Nostalgiegefühle gegenüber der Ukraine habe? „Nein, nachdem hier bei uns Kinder gestorben sind, habe ich solche Gefühle nicht.“ Dort — die junge Frau streckt den Kopf nach vorne — sei ein Kind durch ukrainischen Beschuss gestorben. Sie habe den damals Fünfjährigen im Kindergarten betreut. Als der Junge getötet wurde, ging er in die sechste Klasse. „Der Junge starb vor den Augen seiner Mutter, die gerade ihre Tochter schützte.“ Die Familie sei nach der Tragödie weggefahren. Solche Geschichten gebe es viele. Deshalb hätten die Leute keine Gefühle für die Ukraine. Jetzt heiße es, „vorwärts mit Russland“.
In der Großstadt Donezk, in der vor 2014 fast eine Million Menschen, jetzt aber weit weniger leben, begleitete ich eine Gruppe von Wahlhelfern, die mit durchsichtigen Wahlurnen durch die Treppenflure zogen. Wir besuchten das Haus Nummer 122 in der Posteschewo-Straße. Die Anwohnerin Swetlana Iwanowna öffnete die Wohnungstür. Auf dem Arm hielt sie ihr Hündchen Lola. Wie viele andere Bürger, die über eine mobile Urne wählten, verbarg Swetlana ihren Wahlzettel beim Ankreuzen des Kästchens „Für die Vereinigung mit Russland“ nicht.
„Natürlich hätte ich geheim im Wahllokal gewählt, wenn es in der Stadt nicht gefährlich wäre“, sagt die ehemalige Finanzexpertin eines Unternehmens. Wenn die Wahlhelfer nicht gekommen wären, dann wäre sie zum Wahllokal gegangen. „Ich hätte dabei sogar mein Leben riskiert. Und ich glaube, dass es fast alle so gemacht hätten.“
Ob es ihr egal sei, dass die Wahlhelfer sehen, wie sie abgestimmt habe? Swetlana antwortet:
„Ich habe für mich abgestimmt. Ich stimmte ab für meine Kinder und Enkel. Ich verstecke meine Position nicht. Wir haben sehr lange darauf gewartet. Acht Jahre lang hat unsere Ukraine uns beschossen.“
„Die Ukrainer haben eine andere Ideologie“
Das Referendum in der Volksrepublik Donezk dauerte fünf Tage. Vier Tage wurde über mobile Urnen gewählt. Nur am letzten Tag der Abstimmung, am 27. September, waren 400 Wahllokale geöffnet.
Ich besuchte an diesem Tag ein Wahllokal im südlich des Stadtzentrums gelegenen Lenin-Bezirk. Der Bezirk wurde in den vergangenen Tagen von der ukrainischen Artillerie beschossen. Das Wahllokal war in einer Schule untergebracht. Ich kam mit der jungen Englischlehrerin Olga ins Gespräch. Sie hatte gerade ihre Stimme abgegeben.
Die Schule habe vor dem Krieg 600 Kinder gehabt, jetzt aber nur noch 200 Schüler. Doch es kämen immer mehr Kinder zurück, vor allem „aus Russland und von der Krim. Sehr wenige kommen aus der Ukraine zurück.“
Die Rückkehrer aus der Ukraine hätten verschiedene Gründe. Den einen sei das Geld ausgegangen, andere seien in der Ukraine wegen ihrer Herkunft aus Donezk diskriminiert worden. Wiederum andere seien mit der Ideologie in der Ukraine nicht einverstanden.
„Dort wirft man uns vor, dass die ganzen Probleme durch uns entstanden sind. Man wirft uns vor, dass die russische Propaganda uns ihre Werte aufgezwungen hat. Zum Beispiel der Zweite Weltkrieg. Wir wissen, dass der Zweite Weltkrieg von den sowjetischen Soldaten gewonnen wurde. Sie glauben das nicht. Sie meinen, nicht allein die Sowjetunion hätte den Krieg gewonnen.“
Ich besuchte noch ein weiteres Wahllokal im Südosten des Stadtzentrums von Donezk gelegenen Budjonnow-Bezirk. Das Wahllokal war in einem Kulturhaus untergebracht (1). An einem langen Tisch saßen die Mitglieder der Wahlkommission. Dass dort kein Mann saß, hatte offenbar damit zu tun, dass viele Männer an der Front kämpfen.
Wahllokal im Bujonnow-Bezirk, Fotos: Ulrich Heyden
Ich kam mit Viktor Anikanow, einem Rentner, ins Gespräch, der gerade seine Stimme abgegeben hatte. Er sagte mir, er habe „ein Gefühl der Euphorie“.
Ob er glaube, dass sich das Leben jetzt zum Besseren ändern werde? „Natürlich wird sich etwas zum Besseren verändern.“ Die letzten acht Jahre, das sei „kein Leben“ gewesen. „Und auch davor in der Ukraine war das kein Leben.“ Um die Straßen im Donbass habe sich schon seit Jahrzehnten niemand mehr gekümmert.
„Danach lebten wir in einer armen, selbst ernannten Republik. Aber sie beschaffte Geld, um die Straßen zu reparieren. Das Gelände um die Wohnhäuser ist jetzt gepflegt. Ich habe in der Ukraine nicht so viele Straßenarbeiter gesehen, wie wir sie heute haben. Zu Zeiten der Ukraine gab es diese Straßenarbeiter einfach nicht. Und jetzt, kaum fährst du irgendwohin, siehst du große Baubrigaden auf den Straßen. Auch im Winter funktionieren alle Dienste auf den Straßen. Zu Zeiten der Ukraine gab es das alles nicht. Die Ukraine brauchte uns nicht. Sie brauchte uns nur für den Fall, dass wir Geld verdienten und die bei uns erarbeiteten Dollars in die Ukraine schickten.“
Galina, ein Verwaltungsangestellte, die ebenfalls gerade gewählt hatte, sagte mit strahlendem Gesicht: „Ich kehre nach Hause zurück. Ich habe sehr, sehr lange darauf gewartet. Ehrlich. Ich will unbedingt nach Russland. Denn wir sind ein einiges Land.“
Ob sie keine Angst gehabt habe. Kiew habe doch gedroht, das Referendum militärisch zu zerschlagen.
„Wir haben keine Angst. Man schießt auf uns, aber wir gehen vorwärts. Wir wissen, was wir wollen. Wir haben fast neun Jahre darauf gewartet.“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe auch die Fotoreportage unter ulrich-heyden.de