Nation im Büßerhemd

Beim krampfhaften Versuch, zu den Guten zu gehören, sind die Deutschen dabei, ihre früheren Fehler zu wiederholen und blind in einen neuen Faschismus zu rennen.

Es ist gut, wenn Menschen bis heute versuchen, aus dem totalen materiellen und moralischen Zusammenbruch der Jahre 1933 bis 1945 zu lernen. Nur ist aus der Gedenkkultur der Nachkriegsjahre inzwischen ein starres Korrektheitskorsett geworden, das die Deutschen daran hindert, adäquat auf politische Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren. Gewohnheitsmäßige Selbstgeißelung hat das Selbstvertrauen geschwächt, macht uns anfälliger für Manipulationen und die Versuchungen eines modernen politischen Pharisäertums. Der durch die Vordertür verjagte Faschismus schleicht sich so durch die Hintertür wieder ins Haus. Denn eine Nation, die sich im Besitz besonders hoher Moral wähnt, neigt dazu, Konformitätsdruck auszuüben und Abweichler zu stigmatisieren. So zu beobachten auch in der aktuellen Corona-Krise. Da versucht sich ein Volk unter Gütezwang besonders mustergültig staatlichen Hygieneschikanen zu fügen. Und während „Antifaschisten“ akribisch ein paar Reichskriegsflaggen heranzoomen, errichtet die politische Mitte ungestört einen neudeutschen Totalitarismus, der unter dem Vorwand des Lebensschutzes alles Leben zu ersticken droht.

Könnte es sein, dass der Ursprung des seltsam irrationalen Verhaltens breiter Schichten der Bevölkerung in einer völligen Fehleinschätzung von sich selbst begründet liegt? Eine Fehleinschätzung, die auf einem fatalen Missverständnis der eigenen wahren Natur und einer Kultivierung eines selbstverurteilenden Egos basiert? Dieses unbewusst urteilende Ego ist der Grund für eine Lebenslüge, der alles schonungslos geopfert wird.

Seit der Katastrophe, die durch das Dritte Reich verursacht wurde, versuchen die Deutschen in der dritten Generation von nicht direkt am Untergang Beteiligten, die Vergangenheit zu bewältigen und zu verarbeiten. Das verzweifelte Bemühen um Läuterung, Selbstverurteilung und Schuldanerkennung, Scham und inquisitorische Verachtung von allem, was an Nation, Stolz, Heimat, Identität erinnert, schwingen hier mit. Folge ist eine vorauseilende Political Correctness, eine Unterwürfigkeit, ein Ringen um Verzeihung und die Betonung der Schande der deutschen Vergangenheit, was ein Schuldbewusstsein ausdrücken soll, das der ganzen Welt die Unmöglichkeit der Wiederkehr des Faschismus in Deutschland beweisen will.

Der seitdem anhaltende Gang nach Canossa, die tief verwurzelte Überzeugung der Menschen, dass das Böse deutsch ist, während die Gräueltaten anderer Nationen hinter diesem deutschen Monster immer mehr verschwinden, münden in eine identitätslose Gesellschaft, die vieles unterdrückt, was für ein selbstbestimmtes Dasein wichtig ist.

Jeder Schüler lernt im Geschichtsunterricht, dass der Mensch — und ganz besonders der Deutsche — zu gewaltsamen Ausbrüchen neigt und es von daher besonderer Aufklärung über deutsche Verpflichtungen gegenüber der Vergangenheit bedarf. Dieses Bewusstsein zu erzeugen gelingt über die Schrecken des Mittelalters, die Schlachten des Dreißigjährigen Krieges und die Grauen der Inquisition bis hin zum Nationalsozialismus, der im Gewaltexzess endete. Und ja, ich stimme vollkommen damit überein, dass es enorm wichtig ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Diese darf allerdings nicht in der Selbstverurteilung und Selbstverleugnung enden. Zur sinnvollen Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse gehört auch, Frieden zu machen mit den eigenen Schuld- und Schamgefühlen, um ein gesundes Verhältnis mit der eigenen Identität zuzulassen.

Politisch korrekte Selbstkastrierung

Währenddessen ist man heute mit emsiger Betriebsamkeit dabei, selbst die eigene Sprache bis zur Lächerlichkeit zu verstümmeln. Im Bemühen um politisch korrekte Selbstkastrierung wird alles verleugnet, was nur entfernt an Geschlecht oder Rasse erinnert. Man versucht die eigene Urteilsfähigkeit durch Vergewaltigung der Sprache zu überlisten.

Gleichzeitig instrumentalisieren die gleichen Scharfmacher, die diese Political Correctness ad absurdum führen, völlig bedenkenlos neue Verunglimpfungen und Diffamierungsbegriffe scheinbar sorglos zur faschistoiden Gleichmachung unbescholtener Bürger. So sind der Verschwörungstheoretiker, der Aluhutträger, der Coronaleugner oder Coronaidiot gängige Idiome für „minderwertige“ Menschen, die ob dieser Klassifikation gerne niedergeknüppelt, verhaftet, eingesperrt und bestraft werden dürfen. Auch Maskenverweigerer werden pauschal kriminalisiert und mit Mördern gleichgestellt.

Wie der Moralapostel, wenn er losgelassen, seine Opfer missbraucht und als Hexen verbrennt, so schlummert im Trieb unterdrückenden Antifaschisten das Bedürfnis, die Keule rauszuholen und gegen ein liebgewordenes Feindbild, welcher Couleur auch immer, vorzugehen.

Der Grund dafür ist, dass derjenige, der seine Identität darauf aufbaut, gegen etwas zu sein, was es auch immer sein möge, dazu neigt, das Monster, das er in sich trägt, auszumerzen.

Aber kommen wir nun von der doch eher allgemeinen Betrachtung menschlicher Abgründe zum Konkreten. Was ist es, das den Dämon im vermeintlich braven Bürger zum Leben erweckt? Und wie kommt es, dass der Trieb unterdrückende Mensch in der Angst vor seinem Irrtum reflexartig zum Faschisten mutiert?

Über Jahrzehnte hat der Aufbau von Wohlstand in Frieden und Freiheit in einer aufstrebenden Industrie- und Wissensgesellschaft vieles verdrängt, was zum Aufbau einer gesunden, sich selbst bejahenden, aus der Selbstakzeptanz und Selbstliebe geborenen liebevollen Gesellschaft hätte beitragen können. Unsere Großeltern mussten die Traumatisierungen vor, während und durch den Krieg und dessen Protagonisten, aber auch die eigenen Verblendungen und Irrtümer beiseite schieben, um zu überleben. Mit Härte gegen sich selbst, mit herzverschlossener Selbstunliebe und Buße tuend, kämpfend, rackernd und funktionierend hat man damit begonnen, den guten Deutschen zu kultivieren, um der Welt zu beweisen, wie gut man ist.

Die Gleichschaltung mit dem Establishment

Dieses ideologiefreie Gutmenschentum, das bis heute als Leitstern einer eingebildeten pseudodemokratischen Gesellschaft dient, offenbart sich nun in seiner unbewussten und daher umso fataleren heuchlerischen Scheinheiligkeit. Zu allen Zeiten, vor, während und nach der Katastrophe des letzten Jahrhunderts, gab es Menschen, denen die Gleichschaltung mit dem jeweiligen Establishment suspekt beziehungsweise zuwider war. So möchte ich an Hannah Arendt (1) erinnern, die im Jahr 1964 in einem Interview mit dem Journalisten Günter Gaus davon sprach, dass sich 1933 ihre Freunde zu ihrem großen Entsetzen gleichschalteten und, was für Hannah Arendt am schlimmsten war, auch noch daran glaubten, richtig zu handeln, wodurch sie in ihre eigene Falle gingen. Nicht anders empfinde ich es heute, nur unter vermeintlich umgekehrten Vorzeichen.

Im fast als wahnsinnig zu nennenden Eifer, den eigenen Irrtum zu verleugnen, macht sich die Herde wieder einmal auf, sich einem Regime gleichzuschalten, das so offensichtlich wie es nur sein kann, geleitet von einem ideologisch verbrämten Sendungsbewusstsein, eine Neue Weltordnung installieren will und diese im Rahmen einer Alternativlosigkeit gegenüber einer unberechenbaren Bedrohung durch ein angeblich lebensbedrohliches Virus auf Biegen und Brechen durchsetzen möchte. Die Impfkritiker und Kritiker einer herbeigetesteten und überwiegend symptomfreien Pandemie, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt, werden dabei ebenso kriminalisiert, wie man dies einst mit den Kritikern einer herbeiphantasierten Rassenlehre getan hat.

Über die Jahre sind etliche Glaubenssätze in Beton gegossen worden: beispielsweise jetzt auf der richtigen Seite zu stehen, das Gute zu tun, den eigenen Wohlstand verdient zu haben.

Mit einer Spende für Brot für die Welt und einer Patenschaft für ein Kind in den Anden alles Notwendige getan zu haben, um dem eigenen Kind mit ruhigem Gewissen das I-Phone 11 unter den Weihnachtsbaum legen und sich selbst den fünften Urlaub im Jahr buchen zu können. Mit dem fleißigen routinemäßigen Urnengang seine Pflicht als Demokrat getan zu haben und mit dem Studium der Zeit und des Spiegel auf der Höhe der Zeit zu sein. Dazu zählt ebenfalls der Glaube an eine der Demokratie verpflichtete Politikerkaste oder sich der Gesundheit des Menschen verpflichtet fühlenden Ärzteschaft und einer unermüdlich am Wohl des Menschen orientierten und forschenden Pharmakologie.

Der Einsturz dieses religiösen Menschen- und Weltbildes wäre der GAU, der größte anzunehmende Unfall, und daher unbedingt auszuschließen. Nur wer schon einmal mit dem Rücken zur Wand stand und im Angesicht seiner Endlichkeit oder aufgrund einer Ahnung, die er im Herzen trägt, bereit war, diese Dinge zu hinterfragen, wer sich dafür öffnen kann, dass das Leid der Welt im Schmerz, den jeder Einzelne in sich trägt, begründet ist und es keine Schuldigen in diesem Universum gibt, ist bereit, diese Glaubenssätze loszulassen und sich seiner Lebenslüge zu stellen. Wer das Böse ausschließlich in Trump und Putin verortet, der lässt außer Acht, dass es auch in uns ist, ebenso wie das Gute.

Die Folgen menschlicher Unbewusstheit

Der Zukunftsforscher Matthias Horx (2) hat einen interessanten Artikel verfasst, der die deutsche Arroganz des vermeintlich Geläuterten aufs Vortrefflichste illustriert. Der amerikanische Präsident Trump wird hier als das personifizierte Böse geduzt. Er habe der Welt einen möglichen Rückfall in vergangene Zeiten vor Augen geführt und uns gleichzeitig daran erinnert, wofür Amerika einmal stand: für die Hoffnung auf eine bessere Welt. Während Trump seine Angstherrschaft auf dem Boden der Enttäuschten und Verzweifelten aufbauen konnte, hätten wir Deutsche aus der Geschichte gelernt, uns redlich bemüht, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Trump erinnert uns also an das Böse in uns, das wir bekämpfen müssen, das toxisch Männliche — wie Horx es formuliert. Durch die mühsame Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit seien wir im Gegensatz zu den USA auf dem Boden der Demokratie angekommen, während Amerika nun vor dem großen Scherbenhaufen stehe.

Darüber richten, wer jetzt vor welchem Scherbenhaufen steht, möchte ich nicht. Aber es ist doch bezeichnend, wie hier das in uns allen schlummernde Böse letztlich auf ganz bestimmte Subjekte projiziert wird, die — ähnlich wie der Verschwörungstheoretiker — als abschreckende Beispiele personifiziert werden, um sie dann quasi im nächsten Schritt in den Unterrichtsstoff an den Schulen zu integrieren. Damit soll den Kindern und Jugendlichen unmissverständlich klargemacht werden, was geschehen kann, wenn man nicht gehorsam seine alte Schuld abarbeitet, gut funktioniert und brav das Richtige wählt. Unermüdlich werden also Schuldige ausgemacht und über eine Medienmacht in die Köpfe der Lämmer gehämmert, um Ängste zu installieren und damit die Herde zu kontrollieren.

Lebenslüge immensen Ausmaßes

Ein ähnliches Desaster menschlicher Unbewusstheit führt uns Annalena Baerbock (3) von den Grünen vor Augen, wenn sie wiederholt die Demonstranten in Leipzig pauschal als Rechtsradikale und Neonazis bezeichnet. Saskia Esken (3) von der SPD lässt sich sogar auf Twitter dazu hinreißen, alle Demonstranten nicht nur als Covidioten, sondern auch als rechtsradikale Hetzer, Verleumder und Denunzianten zu bezeichnen. Obendrauf noch der Lehrer meiner Tochter, der im Unterricht am Morgen in der Andacht — wie er es nennt — den Schutzbefohlenen klarmacht, dass jeder Maskenverweigerer quasi mit einem Neonazi gleichzusetzen ist.

Hier wird das Ausmaß der Angst vor der Lebenslüge ganz besonders deutlich.

In der Projektion des Selbsthasses und der Selbstverleugnung wird da reflexartig der eingangs erwähnte Faschist herausgekehrt, vor dem sich die Betreffenden doch am allermeisten fürchten.

Nun möchte ich nicht den gleichen Fehler machen und Esken, Baerbock, Horx oder den Lehrer meiner Tochter als böse betiteln. Vielmehr ist es ihrer abgrundtiefen Unbewusstheit geschuldet und der Arroganz der Gutmenschen, die diese Menschen sich stets abgemüht haben zu sein. Anstatt die eigene Fehlbarkeit zu akzeptieren und die eigenen Fehler zu umarmen, um sich selbst damit in die Lage zu versetzen, auch Andersdenkende umarmen zu können, projizieren sie ihren Selbsthass, den Schatten dessen, was sie zutiefst an sich selbst ablehnen, auf ein Feindbild. Genauso wie es unsere Ahnen zu Beginn des letzten Jahrhunderts getan haben. Also nicht weiterentwickelt. Trotz aller Bemühungen stehen geblieben, nur die Seiten gewechselt.

Und all die Mitläufer in dieser Coronazeit stehen vor demselben Dilemma. Die Angst vor dem Coronavirus ist vielfach ein Ersatz für die Angst vor der eigenen Lebenslüge.

Dabei wartet am Grunde der eigenen Seele gar nicht das Böse. Die Liebe ist der wahre Kern der Wesenheit jedes Menschen, wenn er bereit ist hinzuschauen. Sie ist lediglich überlagert, verschüttet von einem verschlossenen Herzen. Dass es so viele gibt, die bereit sind hinzuschauen, ihre Herzen zu öffnen, ob in Berlin oder in Leipzig oder überall auf der Welt, wo sich jetzt Widerstand regt, das ist ein gutes Zeichen und unsere wahre große Hoffnung.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.youtube.com/watch?v=iZILhvVX_C0
(2) https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/danke-trump-kommentar-von-matthias-horx/?utm_source=Zukunftsinstitut+Newsletter-Verteiler&utm_campaign=456b81ce56-kommentar-us-wahl-danke-trump&utm_medium=email&utm_term=0_ffe62bfdc6-456b81ce56-107976217&ct=t%28kommentar-us-wahl-danke-trump%29&goal=0_ffe62bfdc6-456b81ce56-107976217&mc_cid=456b81ce56&mc_eid=bbfcd8b919&fbclid=IwAR17Zt7mQXalcb0q7YHvG4R9lmOCO8Whj_QkLw1TCGgAF7fZFetteRc9OL0
(3) https://www.fr.de/politik/leipzig-querdenker-corona-demo-grabkerze-bodo-ramelow-agriff-polizei-journalisten-demonstration-zr-90093006.html