Nach den Referenden
Nach den Volksbefragungen in vier ehemals ukrainischen Gebieten, die im Ergebnis eine Vereinigung mit Russland eindeutig befürworten, hat sich die dortige Situation nicht beruhigt.
Die ukrainische Armee versucht in das Cherson-Gebiet vorzustoßen. Deshalb verhängte Wladimir Putin das Kriegsrecht über die Gebiete. Russland denkt im Traum nicht daran, sich aus diesen Gebieten zurückzuziehen. Die Forderung eines Truppenrückzugs, die von einem Teil der deutschen Friedensbewegung erhoben wird, wirkt weltfremd, weil sie die Kriegsrealität der letzten acht Jahre ausblendet. Am 20. Oktober 2022 hielt Ulrich Heyden auf einer Videokonferenz der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ einen Vortrag zur aktuellen Situation in Russland. Dabei beantwortete er auch Fragen aus dem Publikum.
Die militärische Lage und das Kriegsrecht
Am 19. Oktober rief der russische Präsident das Kriegsrecht für die vier neuen russischen Gebiete, Donezk, Lugansk, Saporoschije und Cherson aus. Aus welchem Grund? Will Russland sich unter dem Deckmantel des Kriegsrechts an ukrainischem Eigentum bereichern, wie Kiew behauptet?
Kiew unterstellt, eine Übertragung ukrainischen in russisches Eigentum sei nur unter den Bedingungen des Kriegsrechts möglich. Aber die Angliederung der Krim an Russland hat gezeigt, dass die Einführung russischer Gesetze und Eigentumsänderungen dort seit 2014 fast lautlos abliefen, von Protesten des ukrainischen Oligarchen Igor Kolomoiski, der Immobilien auf der Krim besaß, einmal abgesehen.
Die Einführung des Kriegsrechts in den vier neuen russischen Gebieten hat meiner Meinung nach einen anderen Grund: Kiew versucht verbissen, seinen Erfolg bei der Rückeroberung im ostukrainischen Gebiet Charkow im südukrainischen Gebiet Cherson zu wiederholen. Mehrere Dörfer dort wurden von der ukrainischen Armee — wenn auch unter hohen Verlusten — schon zurückerobert.
Ich möchte anmerken, dass ich das überwältigende „Ja“ bei dem Referendum über eine Angliederung an Russland für realistisch halte, obwohl ich beim Referendum nicht in Cherson war. Warum? Weil der gesamte Südosten der Ukraine — wo vorwiegend Russisch gesprochen wird — bei Wahlen in den letzten 30 Jahren immer wieder gezeigt hat, dass er für die Partei oder den Präsidenten stimmte, der ein gutes Verhältnis mit Russland, zumindest aber Frieden im Donbass versprach.
Das wurde 2004 und 2010 deutlich bei der Zustimmung für die Russland-freundliche „Partei der Regionen“ und Viktor Janukowitsch im Südosten der Ukraine und 2019 bei den guten Abstimmungsergebnissen im Südosten für Selenskyj, der damals noch mit dem Versprechen auftrat, als erste Amtshandlung den Krieg im Donbass zu beenden, den der Amtsinhaber Petro Poroschenko weiterführen wollte.
Da die ukrainischen staatlichen Organe in den letzten acht Jahren alles Prorussische unter Strafe gestellt haben, kann man davon ausgehen, dass die Menschen in Cherson und Saporoschije jetzt nicht öffentlich jubeln über die Vereinigung mit Russland. Denn sie wissen ja noch nicht, ob Russland wirklich bleibt, oder Russland erneut gezwungen ist, sich zurückzuziehen.
Terrorakte ukrainischer Spezialeinheiten
Von Kiew gesteuerte Spezialeinheiten tun alles, um mit Anschlägen gegen die Vertreter der Macht in den vier neuen Gebieten Angst zu verbreiten und die Situation zu destabilisieren.
Ein paar Fälle:
- Am 12. Oktober wurde gegen Andrej Koschelew, Beamter im Cherson-Gebiet, ein Bombenanschlag verübt, den er schwer verletzt überlebte.
- Am 25. September wurde Andrej Schurawko, von Geburt an schwerbehindert, von 2006 bis 2012 Abgeordneter im ukrainischen Parlament und später von den ukrainischen Behörden wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ verdächtigt, in seinem Hotel im Zentrum von Cherson durch das Geschoss eines von den USA gelieferten HIMARS-Raketenwerfers getötet .
- Am 16. September explodierte im Amtszimmer des Generalstaatsanwaltes der Volksrepublik Lugansk, Sergej Gorenko, eine Bombe, wodurch Gorenko und seine Stellvertreterin, Jekaterina Steglenko, getötet wurden.
- Am 12. September wurde gegen die Rektorin der Pädagogischen Universität von Cherson, Tatjana Tomilina, vor ihrem Haus ein Bombenanschlag verübt. Ein Splitter musste aus dem Auge der Rektorin entfernt werden.
- Am 11. Juli wurde ein Anschlag auf den Leiter der militär-zivilen Verwaltung Wladimir Saldo verübt . Man hatte in seinem Auto eine Bombe platziert. Die Bombe wurde jedoch rechtzeitig entdeckt. Am 5. August versuchten ukrainische Kräfte Saldo zu vergiften.
- Am 24. Juni wurde in Cherson Dmitri Sawljutschenko, Mitarbeiter der militär-zivilen Verwaltung ermordet. Sein Auto wurde in die Luft gesprengt.
- Am 18. Juni wurde in Cherson die Leiterin der Gefängnisverwaltung Jefgenia Sobolewa durch eine neben ihrem Auto gezündete Bombe schwer verletzt.
Jetzt besteht sogar die Gefahr, dass die Gebietshauptstadt Cherson von ukrainischen Truppen zurückerobert wird. Sergej Surowikin, der neue russische Oberkommandierende für die russischen Truppen in der Ukraine erklärte öffentlich, die Lage im Cherson-Gebiet sei ernst. Die Stadt soll zur Festung ausgebaut und die Bevölkerung evakuiert werden, damit das russische Militär freie Hand hat, erklärte der Militärkorrespondent Aleksandr Sladkow.
Wann kommen die mobilisierten Soldaten?
Dass die neu-mobilisierten russischen Soldaten an der Front ankommen, kann bis zu drei Monaten dauern. Sie müssen zunächst ausgerüstet und trainiert werden. Bis dahin müssen die vorhandenen russischen Kräfte an der langen russischen Südfront ausreichen.
Die Ukraine sendet immer wieder Stoßtruppunternehmen mit Booten zum Atomkraftwerk von Saparoschje, welche aber von russischen Truppen bisher jedes Mal entdeckt und vernichtet wurden.
Kriegsrecht als Reaktion
Offenbar um die angegliederten vier Gebiete maximal gegen ukrainische Rückeroberungsversuche zu wappnen, verhängte der russische Präsident am 19. Oktober in diesen Gebieten das Kriegsrecht.
Vieles von diesem Kriegsrecht ist in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk schon Praxis, zum Beispiel eine nächtliche Ausgangssperre und eine politische Kontrolle der Medien.
Zum Kriegsrecht gehören unter anderem folgende Maßnahmen:
- Verbot oder Beschränkung der Ausreise von Bürgern aus der Region;
- Einführung der Militärzensur für Sendungen und Mitteilungen;
- Überwachung des Telefonverkehrs;
- Einbindung der Massenmedien zu Verteidigungszwecken;
- Bürger und Fahrzeuge können für einen Zeitraum von maximal 30 Tagen festgehalten werden;
- Beteiligung der Bürger an Arbeiten für Verteidigungszwecke, an der Wiederherstellung zerstörter lebenserhaltender Systeme und an der Bekämpfung von Bränden.
Zum Teil sind auch frontnahe Gebiete in Südrussland von den verschärften Sicherheitsmaßnahmen betroffen, nämlich die Krim, die Gebiete Krasnodar, Belgorod, Brjansk, Woronesch, Kursk und Rostow.
Parallel zum Kriegsrecht in den vier neuen russischen Gebieten wurde eine „Erhöhte Alarmstufe“ in Gebieten Süd- und Zentralrusslands verhängt. In dem größten Teil Russlands wird es aber keine Einschränkungen geben. Präsident Putin hat außerdem angewiesen, eine sogenannte „Sonderkoordinierungskommission“ bei der Regierung einzurichten. Aufgabe dieses Gremiums soll sein, alle Aktivitäten des Militärs besser zu koordinieren. Dazu zählen die Organisation des Nachschubs, verbesserte Fähigkeiten bei Reparatur- und Bauarbeiten, aber auch der medizinischen und Sanitätsdienste.
Gibt es Veränderungen bei der Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Krieg?
Nach einer Umfrage des russischen Lewada-Meinungsforschungszentrums unter 1.600 Russen, hat sich der Anteil der russischen Bevölkerung, welche die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine unterstützen von 76 Prozent im August auf 72 Prozent im September leicht verringert. Dazu sollte man wissen, dass das Lewada-Zentrum wegen finanzieller Unterstützung durch westliche Auftraggeber in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet ist.
Nach der Lewada-Umfrage ist die Unterstützung der Spezialoperation vom März 2022 mit 80 Prozent auf 72 Prozent im September zurückgegangen. Der Anteil derjenigen, welche die Operation ablehnen, hat sich dagegen von 17 Prozent im August auf 21 Prozent im September erhöht. Ich möchte hier ergänzen, dass sich die Daten des Lewada-Meinungsforschungsinstituts und des regierungsnahen „Allrussischen Zentrum zur Untersuchung der öffentlichen Meinung“ (WZIOM) nur um wenige Prozentpunkte unterscheiden.
WZIOM teilte Anfang September mit:
„Innerhalb des letzten halben Jahres ist die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Durchführung einer Spezialoperation in der Ukraine stabil hoch und befindet sich im Bereich 70 bis 73 Prozent.
Bei der Umfrage im August unterstützten 70 Prozent der Russen die Entscheidung für die Spezialoperation.
18 Prozent unterstützen die Entscheidung nicht.
39 Prozent sind der Meinung, dass das wichtigste Ziel der Spezialoperation der Schutz Russlands und eine Verhinderung von NATO-Basen in der Ukraine ist.
Für 20 Prozent ist Schutz der Bevölkerung in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk das wichtigste Ziel.
Für 17 Prozent sind die Änderung des politischen Kurses der Ukraine und eine Reinigung von Nazis die wichtigsten Ziele.
Für 7 Prozent sind die wichtigsten Ziele der Spezialoperation die Okkupation der Ukraine und ihre Vereinigung mit Russland.“
Nach meiner Einschätzung hat die in der Lewada-Umfrage ausgewiesene leicht abnehmende Zustimmung zur russischen Spezialoperation nicht mit einer zunehmenden pazifistischen Grundhaltung zu tun, sondern mit der Erfahrung, dass die sogenannte Spezialoperation nicht sehr effektiv läuft, gemessen an dem selbstgesteckten Ziel, „Reinigung der Ukraine von Nazismus und Militarismus“.
Viele Maßnahmen wie der Rückzug der russischen Armee aus den Gebieten Kiew und Charkow wurden von der russischen Armeeführung nicht wirklich begründet. Das führte bei vielen Russen zu Unmut. Daher fordern viele Russen ein härteres Vorgehen gegen die politische Führung in Kiew, so etwa die Bombardierung des Amtssitzes des ukrainischen Präsidenten und eine Zerstörung der Nachschubwege der ukrainischen Armee.
Mitleidsäußerungen angesichts der russischen Bombardierungen gegen ukrainische Elektrizitäts- und Heizkraftwerke hört man von Russen wenig. Stattdessen hört man die Meinung: „Nun erleben die Menschen in der Ukraine das, was die Menschen in den Volksrepubliken seit acht Jahren erleben.“
Sind bei der Zustimmung beziehungsweise der Akzeptanz des Krieges Unterschiede in den Generationen zu beobachten?
Nach der Umfrage des Lewada-Zentrums unterstützen in der Altersgruppe ab 55 Jahren 81 Prozent das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine. 13 Prozent sind gegen die Spezialoperation.
In der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahre wird das Vorgehen der russischen Armee dagegen nur von 55 Prozent der Befragten unterstützt. 35 Prozent sind gegen die Spezialoperation.
Natürlich sollte man gegenüber Umfragen immer skeptisch sein, denn sehr viel hängt davon ab, wie die Fragen gestellt werden.
Welche Gründe gibt es für die unterschiedliche politische Positionierung in den Altersgruppen?
Die russische Jugend ist politisch weit weniger interessiert als die ältere Generation.
Die Jugend verfolgt die Ereignisse in der Ukraine weniger intensiv.
Die jüngere Generation ist mit den nachsowjetischen Werten aufgewachsen, also in einer Zeit, in welcher der Westen von Russland — wenn auch mit Einschränkungen — als Partner bezeichnet wurde.
Für die ältere Generation kommt die Verhärtung gegenüber dem Westen nicht völlig überraschend. Dass dem Westen nicht zu trauen ist, war schon eine zur Sowjetzeit übliche Meinung.
Wie ist die im Westen hochgespielte Flucht vor der Einberufung zu bewerten?
Nach meiner Einschätzung hat es tatsächlich eine Fluchtbewegung gegeben, über deren reale Größe aber keine offiziellen Zahlen, sondern nur Schätzungen vorliegen.
Was ist der Grund für die Fluchtbewegung?
Es ist meines Wissens die erste Mobilisierung seit 1941 und offenbar haben viele Menschen eine Hemmschwelle, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen.
Tatsache ist auch, dass viele Menschen einberufen wurden, die aus verschiedenen Gründen nicht hätten einberufen werden dürfen. Wladimir Putin hat das öffentlich kritisiert und die staatlichen Organe aufgefordert, die Einschränkungen bei der Mobilisierung zu beachten. Und es gibt bereits Gerichtsurteile, in den Einberufungen wieder rückgängig gemacht wurden.
In wie weit ist die russische Rüstungsindustrie in der Lage eine vom Westen auf Jahre ausgelegte militärische Unterstützung der Ukraine durch eigene Produktion zu neutralisieren?
Ich glaube, dass Russland dazu in der Lage ist, weil das Land unbegrenzt Rohstoffe hat und auch die Möglichkeit, sich von anderen Ländern Technologien zu besorgen, die es selbst nicht hat und sie in eigene Waffen einzubauen.
Beim Westen weiß man zudem nicht, wie es mit dem Nachschub aussieht. Wie ich las, treten in westlichen Militärbeständen schon Lücken auf, weil die Ukraine Unmengen an Material verschlingt.
Wie auch immer: Russland hat mit seinen Atomraketen ein starkes Drohpotenzial.
„Welche innerrussischen Entwicklungen in den vergangenen Jahren haben den Angriff des Putinismus auf die Ukraine befördert?“
Hinter dieser Frage steht offenbar die Annahme, Putins Popularität würde sinken, große Teile der herrschenden Klasse wendeten sich von Putin ab, und da bleibe nur ein Krieg, um das russische Volk gegen einen äußeren Feind zusammenzuhalten. Für diese Meinung fehlen die Fakten. Es gibt keinen einzigen Oligarchen in Russland, der sich verdeckt oder öffentlich gegen das militärische Eingreifen in der Ukraine stellt.
Wenn eine ehemalige Pop-Diva, wie Ala Pugatschowa, deren Karriere als Sängerin vor 30 Jahren endete, oder der im westlichen Ausland lebende russische Rock-Musiker Boris Grebenschikow sich heute vehement gegen den Einmarsch in der Ukraine aussprechen, so sind das Außenseiter in der russischen künstlerischen Intelligenz und kein Massenphänomen.
Dass sich viele Russen der Einberufung entziehen wollten, ist zwar richtig, aber es war nicht die Mehrheit der Reservisten. Die Mehrheit hat sich zum Einsatz gemeldet. In mehreren Gebieten, wie in Moskau, wurde die Mobilisierung bereits abgeschlossen.
Welche Auswirkungen hat die Sanktionspolitik auf das normale Leben und die Wirtschaft?
Die Inflation konnte von 19 Prozent im März auf 13 bis15 Prozent im September gesenkt werden. Der Preis für einen Liter Normalbenzin liegt stabil bei 80 Cent. Viele Importwaren haben sich allerdings um 30 Prozent verteuert, da der Rubel gegenüber dem Euro um 30 Prozent an Wert verlor. Der sogenannte „parallele Import“ über Kasachstan, Armenien und andere Länder Asiens hat die Waren ebenfalls verteuert.
In Moskau wird weiter massiv gebaut. Allerdings ist die Nachfrage beim Kauf von Wohnungen zurückgegangen. In vielen Städten Russlands sind die Preise von Immobilien um 20 Prozent gefallen. Das hängt unter anderem mit dem Wegzug gut ausgebildeter und wohlhabender Russen zusammen, die Wohnungen in Russland verkaufen. Ein weiterer Grund könnte sein, dass in die Armee eingezogene Männer ihre Hypotheken-Kredite nicht mehr bedienen können.
Für Russland problematisch ist die Situation mit den Mikroprozessoren, für die es nur geringe Produktionskapazitäten gibt. Das wirkt sich auch auf die Auto-Produktion aus, die jetzt auf moderne Ausstattung verzichten muss.
Dadurch, dass die Energiepreise international gestiegen sind, konnte Russland seine Einnahmen erhöhen. Außerdem konnten Verluste auf dem europäischen Markt über Asien-Exporte ausgeglichen werden.
Der Gasexport nach Europa läuft nur noch über die „Transgas“-Pipeline, die durch die Ukraine führt, und über „Turkish Stream“. Erdogan hat den Vorschlag von Putin angenommen, in der Türkei einen Gas-Hub zu bauen, von dem aus Südosteuropa mit russischem Gas versorgt werden kann. Wenn dieser Hub gebaut wird, gewinnt Russland mehr Spielraum.
Konfliktlösungsmöglichkeiten
Ist die Forderung von Teilen der deutschen Friedensbewegung, zum Beispiel im Aufruf für einen Bundesweiten Aktionstag am 19. November, nach Rückzug der russischen Truppen von allen nach dem 24. Februar 2022 besetzten Gebieten angesichts bekannt gewonnener „Säuberungen“ durch rechtsnationalistische Gruppen eine realistische Option für die Beendigung des Krieges?
Die Forderung nach einem Rückzug der russischen Truppen halte ich für weltfremd. Die Friedensbewegung hatte acht Jahr Zeit, eine Bewegung gegen die Beschießung der Volksrepubliken durch die ukrainische Armee und rechtsradikale Freiwilligenbataillone auf die Beine zu stellen. Das wurde meines Wissens noch nicht mal ernsthaft versucht. Offenbar hatte man Angst als Putin-Unterstützer und Querdenker gebrandmarkt zu werden.
Die deutsche Friedensbewegung müsste sich zunächst einmal mit dem Thema „politische Verfolgung in der Ukraine“ beschäftigen und durchsetzen, dass die Bundesregierung sich für politisch Verfolgte in der Ukraine einsetzt. Wenn die Friedensbewegung sich zu diesem Schritt nicht durchringt, könnte man den Eindruck gewinnen, sie wolle sich bei dem von den USA installierten Regime in Kiew anbiedern.
Solange die Friedensbewegung im Westen nicht politischen Druck gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aufbaut und die ukrainische Opposition, die von Kiew verfolgt wird, unterstützt, sind ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen über einen Kompromiss nicht möglich.
Nach Umfragen ist ein großer Teil der Russen der Meinung, dass russische Truppen viel eher in den Donbass hätten geschickt werden müssen. Es ist nicht nur Putin, der die ukrainische Armee besiegen will, es ist der Großteil der Russen. Sie werden einem Rückzug der russischen Armee niemals zustimmen.
Vorwurf „Imperialismus“
Nicht wenige deutsche Linke werfen Russland imperialistische Politik vor. Dabei stützt man sich auch gerne auf Äußerungen russischer Linker wie dem Leiter der Linksfront, Sergej Udalzow, der einen Text veröffentlichte, in dem er von „imperialen Ambitionen“ der „unersättlichen russischen Oligarchen“ sprach.
Dieser Einschätzung möchte ich widersprechen. Ich sehe weder bei den russischen Oligarchen noch bei der russischen politischen Elite den Wunsch nach Gebietseroberungen der Reichtumsvermehrung wegen. Die Angliederung neuer Gebiete sehe ich ausschließlich als Sicherung gegen die Ausweitung der NATO.
Denn finanziell gesehen ist die Angliederung für Russland erstmal ein Zuschussgeschäft. Fünf bis sechs Millionen neue Bürger müssen in das russische Staatswesen integriert werden. Für die Neubürger müssen Renten und Kindergeld gezahlt werden. Ukrainische Rentenkassen können dafür nicht angezapft werden. Hinzu kommen die Kosten für die Beschaffung von Wohnraum und Ernährung für Flüchtlinge und Umsiedler aus den südostukrainischen Kriegsgebieten sowie die Kosten für die Wiederinstandsetzung zerstörten Wohnraums, Straßen und Infrastruktur in den vier angegliederten Gebieten.
Ich will nicht ausschließen, dass russische Soldaten auch wegen schlechter Organisation, schlechter Taktik und Ausrüstungsmängeln sterben. Aber, dass sie für „imperiale Ambitionen“ geopfert werden, ist aus den Fingern gesogen und unbelegt.
Udalzow sieht die Chance einer Einigung zwischen Russland und dem Westen. Er schreibt:
„Offensichtlich fürchtet der Westen einen direkten Zusammenstoß mit Russland, das über ein mächtiges Atomwaffenarsenal verfügt, und muss sich darüber im Klaren sein, dass der Versuch, in den Donbass einzumarschieren, der bereits Teil der Russischen Föderation oder des Unionsstaates sein wird, genau zu einem solchen Zusammenstoß führen wird. Darüber hinaus werden sich die wirtschaftlichen Probleme in Europa kurz vor dem Winter noch verschärfen, und die Position der Demokraten könnte bei den US-Wahlen ernsthaft geschwächt werden. Aus all diesen Gründen sind die Chancen auf eine für Russland annehmbare Einigung sehr hoch ...“
Ich halte diese Einschätzung von Udalzow für Träumerei. Senden Brüssel, Berlin und London nicht immer schrillere Kriegs-Signale? Wird denn nicht täglich erklärt, dass man die Ukraine solange militärisch unterstützt, bis die territoriale Souveränität wiederhergestellt ist?
Ja, es gibt in liberalen US-Blättern wie der Washington Post und der New York Times und unter ehemaligen US-Geheimdienstleuten Personen, auch der letzte US-Botschafter in der Sowjetunion gehört dazu, welche die bedingungslose militärische Unterstützung der Ukraine kritisieren.
Solche Kritiker mit Renommee gibt es auch in Deutschland. Ich denke dabei an den ehemaligen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und den ehemaligen Bundeswehrgeneral Harald Kujat. Aber letztlich sind all diese Kritiker, die einmal politische oder administrative Funktionen hatten, heute Außenseiter und nicht tonangebend.
Putin: Russland ist Stütze im Kampf gegen den Kolonialismus
Wenn es um den Vorwurf „Imperialismus“ geht, scheint es mir sinnvoll, Putin selbst zu Wort kommen zu lassen. In seiner am 30. September 2022 gehaltenen Rede zur Vereinigung mit vier ukrainischen Gebieten stellt Putin Russland als Land dar, das sich schon zu Sowjetzeiten gegen den westlichen Kolonialismus gestellt hat. Dieser Kolonialismus versuche, ärmere Länder wirtschaftlich auszusaugen und ihnen westliche Werte aufzuzwingen.
Putin nannte in diesem Zusammenhang die westliche Genderpolitik, welche die traditionelle Familie missachte. Russland werde immer für den Erhalt seiner traditionellen Werte eintreten. Man sehe sich in dieser Position mit vielen anderen Ländern einig, die von den USA diskreditiert werden, weil sie westliche Normen und Werte nicht übernehmen.
Man kann über die Rede von Putin unterschiedlicher Meinung sein, aber ich denke, eine Diskussion, zumindest aber eine Kenntnisnahme der Thesen des russischen Präsidenten wären angebracht.