Mut zur Einfachheit
Wer sich von der konsumistischen Haltung des „Immer mehr!“ verabschiedet, hat mehr vom Leben.
Sein ganzes Leben lang setzt sich der algerisch-französische Landwirt und Philosoph Pierre Rabhi dafür ein, Menschen zu einem einfachen, genügsamen und autonomen Leben im Einklang mit der Natur zurückzuführen. Es ist keine Rückkehr in die Höhlen der Steinzeit, sondern eine Bewusstseinserweiterung für das Geschenk, das uns gemacht worden ist. Stolpersteine liegen auf dem Weg dorthin.
Ich brauche nicht viel. Ein Dach über dem Kopf, ein bisschen was zu essen, warme Kleidung. Naja, möglichst hübsch sollte sie sein. Und die Austern, wenn der Wagen aus Bouzigues freitags vor der Haustür hält, sind so köstlich, dass ich ungern darauf verzichte. Und mein Haus sollte so groß sein, dass sich keiner bedrängt fühlt. Aber wirklich: Ich brauche nicht viel.
Während ich nicht viel brauche, schreibe ich an einem Artikel über den algerisch-französischen Landwirt, Umweltschützer und Philosophen Pierre Rabhi und sein Konzept der glücklichen Genügsamkeit. So lautet auch der Titel eines seiner auf Deutsch erschienenen Bücher (1). Glückliche Genügsamkeit — für Rabhi bedeutet das, sich aus den Ketten der Versklavung von Technik, Finanzmarkt und Konsum zu befreien, die Verlockungen einer Zivilisation, die aus Beziehung Kommunikation gemacht hat, als Blendwerk zu enttarnen, und das unser aller Lebensraum zerstörende „Immer Mehr“ zu überwinden.
Glückliche Genügsamkeit — das bedeutet konkret ein Abwenden vom Konsum industriell hergestellter Waren, ein Boykott der Supermärkte, Einkaufszentren und virtuellen Läden, in denen man sie kaufen kann, mehr Zeit auf dem Markt, im Garten und in der Küche, eine andere Urlaubs- und Freizeitgestaltung, das Nutzen öffentlicher Transportmittel, auch wenn es unpraktischer ist.
Kurz: ein Verzicht auf alles, was billig und bequem ist und schnell geht.
Brauchen oder nicht brauchen?
In dem Moment, in dem ich über die Machbarkeit sinniere, macht mein Smartphone schlapp. Das brauche ich natürlich. Schon allein wegen der Arbeit. Und um zu Hause Bescheid zu sagen, dass ich fünf Minuten später komme. Eine der vielen Funktionen, die ich nicht verstehe, hat den gesamten Apparat blockiert. Mit aufgeregten Fingern drücke ich auf ihm herum und hoffe, dass sich das Problem zufällig löst. Tut es aber nicht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das Telefon neu zu starten.
Vorher versuche ich, meine Fotos in Sicherheit zu bringen, damit es mir nicht so geht wie beim letzten Mal. Da war alles weg. Die gesamten Erinnerungen von zwei Jahren. Eine Katastrophe. Fast so schlimm, wie wenn plötzlich alle Kontakte weg sind. Das ist mir auch schon passiert. Es war, als würde ich auf einen Schlag Vollwaise und auf eine einsame Insel gespült, als hätte man mir einen Teil meines Lebens entrissen. Seitdem habe ich ein Heft für meine Telefonnummern angelegt, wie früher. Nur, dass ich mich, wenn ich es irgendwann einmal brauche, wahrscheinlich nicht mehr daran erinnere, wo ich es hingelegt habe.
Aber das ist im Moment nicht mein Problem. Ich bin damit beschäftigt, ein paar Zeitfetzen zu retten: meine Eltern in meiner Heimatstadt, ein Picknick mit Freunden am Strand, die Katzen in einer besonders niedlichen Pose. Die brauche ich, zur Erinnerung. So wie ich es brauche, jederzeit auf Informationen zugreifen zu können und mich in jedem Augenblick meines Lebens mit der Welt verbunden zu fühlen. Ich frage mich, wie ich überhaupt überleben konnte, vor 20 Jahren, als ich das alles noch nicht brauchte und der glücklichen Genügsamkeit ein Stück näher war.
Nichts zu verlieren
Ob glücklich oder nicht: In jedem Fall hatte ich weniger zu verlieren. Ich war weniger verletzlich in meiner Privatsphäre und bekam kein Herzrasen bei dem Gedanken, mein Handy irgendwo liegenzulassen oder nicht mehr an meine Mails zu kommen. Vor 20 Jahren war ich nicht nur jünger, sondern auch freier. Ich zog mit einem Koffer und einem fadenscheinigen Opernsänger ohne Handy, ohne Auto, ohne Job und ohne Dach über dem Kopf irgendwo ins Burgund. Ein paar Jahre später war ich wieder zurück in Hamburg, ungeläutert. Ich unterschrieb vor den Augen meines fassungslosen Schulleiters den Vertrag zur Verbeamtung nicht und zog zurück in den Süden, dieses Mal zwar mit Auto und Handy, aber allein, ohne Job, ohne finanzielle Polster, ohne Freunde vor Ort und ohne eine Ahnung, was genau ich mit dem Rest meines Lebens anfangen wollte.
Die Ehe war kaputt, die Freundin weg, eine Illusion zerbrochen, der Weg in die Sicherheit verstellt. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, außer die Unkenrufe der Zurückbleibenden, die mich für verrückt erklärten. Ich war frei (2)! Meine Prekarität hatte ich mir selbst ausgesucht. Niemand hat sie mir aufgezwungen. Dieses Mal war ich nicht ins Ungewisse aufgebrochen, um mir etwas zu beweisen. Ich habe es getan, weil es mir ein tiefes Bedürfnis war und weil ich das Gefühl hatte, dass mein Leben zu Ende ist, wenn ich im Norden bleibe.
Besinnen auf das Wesentliche
Daran erinnere ich mich, nachdem ich verzweifelt auf meinem Apparat herumgetippt habe, ihn mit wutunterdrückter, weinerlicher Stimme dem vorbeikommenden Mann in die Hand drückte, der es auch nicht besser konnte, hoffend, dass mich niemals jemand, der meine Texte liest, so sieht. Mittlerweile habe ich mich beruhigt, meine Welt ist nicht untergegangen und mein Handy funktioniert irgendwie wieder.
Ich fasse eine Entscheidung. Ich verspreche mir, mich auf das zu besinnen, was wesentlich ist und was ich zum Leben brauche: Luft zum Atmen. Sonne, um mich zu wärmen. Licht, um mich zu orientieren. Wasser zum Trinken. Boden unter meinen Füssen, der mich trägt und nährt.
Ich brauche das Gefühl der Verbindung mit der Natur, mit dem Lebendigen, mit anderen Menschen und mit mir selbst. Und wenn ich ehrlich bin, brauche ich dafür kein Smartphone.
Der Geschmack des Erlebten
Ich übe. Statt Emojis schicke ich Gedanken, statt Fotos zu machen versuche ich, mich zu erinnern. Probieren, kosten, was das Leben mir anbietet, es nicht nur dokumentieren, konsumieren, analysieren, sezieren, kritisieren, sondern ganz da zu sein, präsent, mitten drin. Wie fühlt es sich an, was ich gerade erlebe? Welchen Geschmack hat es? Wo spüre ich es pulsieren? Was macht es mit mir?
Und so bekomme ich Zugang zu dem, was mich glücklich macht. Nicht nur zufrieden, abgelenkt, gut drauf. Glücklich.
Das ist für mich Glück: präsent sein. Alles nehmen. Nicht versuchen, nur die Rosinen herauszupicken und enttäuscht sein, wenn mir Spinat vorgesetzt wird. Mit offenen Armen empfangen. Das Leben in mir spüren. Dankbarkeit, mit dabei sein zu dürfen. Jetzt.
Was auch immer gerade ist. Ich bin hier. Wie auch immer es sich anfühlt: Ich nehme es an. Es ist wie Fliegen, wie Schwimmen mit Delphinen, wie in den Armen eines geliebten Menschen zu sein.
Die Idee des Mangels als Treibstoff für ein ausbeuterisches System
Glückliche Genügsamkeit — das ist keine Rückkehr in die Grotten der Steinzeit, kein Verlust, und im Grunde auch kein Verzicht. Es ist das Erleben, etwas hinzugeben und gleichzeitig etwas zu bekommen, was letztlich viel mehr ist als das, was gegeben wurde. Es ist das Bewusstsein, dass alles da ist.
Der Mangel ist eine Erfindung der Unterdrücker und Ausbeuter, um uns abhängig zu machen von ihrem Tand. Sie hetzen uns gegeneinander auf, um von unserem Misstrauen, unserer Sorge, unserer Angst zu profitieren, um uns noch besser beherrschen zu können. Er ist für uns selbstverständlich geworden, an den Mangel zu glauben, als sei er eine natürliche Gegebenheit. Es gibt nicht genug für alle. Also muss darum gekämpft werden.
Auf diesem Glauben fußt unsere Zivilisation. Aus ihm heraus erwächst das Konkurrenzdenken einer rücksichtslosen Ellbogengesellschaft. Auf ihn stützt sich die hierarchische Struktur, die sie trägt. Sie verwaltet und fördert den Glauben daran, dass andere etwas haben, was man selbst brauchen könnte. Um es zu bekommen, sind alle Mittel recht.
Die Wahl der Blickrichtung
Doch was geschieht, wenn wir uns von dem Glauben an den Mangel abwenden? Wenn wir ihn nicht mehr angstvoll fokussieren? Die Energie sammelt sich dort, wo die Aufmerksamkeit hingelenkt wird. Mit unseren Gedanken geben wir den Dingen Form. Anstatt also immerzu an das zu denken, was mir alles fehlen und abhanden kommen könnte, kann ich meine Aufmerksamkeit darauf lenken, was alles da ist. In diesem Augenblick. Was steht mir zur Verfügung? Wo sind meine Fähigkeiten? Wer ist da, um mir zu helfen? Wer hat ähnliche Ziele wie ich? Was können wir zusammen machen?
Ich entscheide, wo ich hinsehe und welche Bedeutung ich dem Mangel gebe. Ich bestimme, ob ich mich an meinen Besitz klammere, oder ob ich meine Hände frei mache und mit ihnen etwas anfange. Gibt dir jemand eine Münze und du schließt die Hand darum, hast du eine Münze bekommen und eine Hand verloren, sagt ein Sprichwort. So schließt uns jede Art von Besitz ein und macht uns unbeweglich.
Je mehr ich habe, desto größer wird meine Sorge, es wieder zu verlieren. Ich denke mir alle möglichen Vorrichtungen aus, um mein Hab und Gut zu schützen, baue Zäune und Mauern, schließe Versicherungen ab und beäuge jeden, der sich mir nähert, mit Misstrauen. Dabei nähre ich die Vorstellung, dass mir das, was ich besitze, zusteht. Ich habe es im Schweiße meines Angesichts verdient. Ich mache dafür einen Job, der mir nicht gefällt, zwänge mich in Lebensumstände, die ich nicht wirklich will und verkaufe vielleicht sogar meine Seele, um am Ende des Monats genug Geld auf dem Konto zu haben, um mir die Frustkäufe leisten zu können, die mir meine Situation erträglich machen.
Die Hände öffnen
Doch es geht auch anders. Anstatt die Maschinerie am Leben zu halten, die für die Zerstörung unser aller Lebensraum verantwortlich ist, kann ich mich daran machen, meinen Garten zu pflegen. Hier sind die Dinge unter meiner Obhut. Doch sie gehören mir nicht. Nichts Lebendiges kann mein Besitz sein. Besitz ist tot. Ich kann das, was lebt, einfangen, besetzen, in eine Richtung verbiegen, die mir dienlich ist. Doch dadurch wird es nicht mein. Denn es entwickelt sich nach Gesetzen, die ich nicht beherrschen kann, auch wenn ich noch so geschickt den Zauberlehrling spiele.
In meinem Garten können die Dinge frei wachsen und sich entfalten. Ich tue nicht mehr, als meine geöffneten Hände schützend darüber zu halten, so gut ich es kann. So wie nur eine geöffnete Hand geben kann, kann auch nur eine geöffnete Hand empfangen. Nur die leere Hand kann etwas bekommen.
Wer gierig rafft und für sich behält, der sammelt im Grunde nichts als tote Materie um sich herum, dunklen Ballast, der ihn immer weiter in die Tiefe zieht. Nur wer gleichzeitig den Mut und die Demut aufbringt, sich mit leeren Händen aufzurichten, kann erfahren, wie glücklich Genügsamkeit macht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Pierre Rabhi: Glückliche Genügsamkeit, Mathes und Seitz Berlin 2015
(2) Mehr dazu gibt es in meiner autobiografischen Erzählung „Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Die Enthüllung eines Krustentieres“. BoD 2018