Mut inmitten von Ruinen
In Lugansk, in der Krisenregion Ostukraine, geht das Leben trotz schlimmer Kriegsfolgen weiter. Ein Vor-Ort-Bericht.
Seit fünf Jahren gibt es den Krieg in der Ostukraine. Ob dieser Krieg mit dem Amtsantritt des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski endet, wie von diesem selbst angekündigt, ist unklar. Marco Samm war schon mehrere Male in der von der Ukraine abgespaltenen Volksrepublik Lugansk. In einem Bericht über seine letzte Reise Anfang Mai beschreibt er einen Gang durch die zerbombte Altstadt von Lugansk und erklärt, warum er immer wieder in den Donbass fährt.
Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 9. Mai 2019 war ich wieder Gast in Lugansk. In der Stadt leben trotz des Beschusses durch die ukrainische Armee fast eine halbe Million Menschen. Gefeiert wurde das Ende des Zweiten Weltkrieges und die fünfjährige Unabhängigkeit vom ukrainischen Zentralstaat. Zuletzt hatte ich die Stadt als Wahlbeobachter im November 2018 besucht (siehe Video-Bericht.
Bild 1: Von Bomben zerstörtes Haus in der Altstadt von Lugansk, Foto: Marco Samm 2019.
„Tanja ist intelligent, sehr direkt und wirkt fast militärisch.“
Ich treffe mich mit Tanja im Hotel Druschba (Freundschaft) im Stadtzentrum zum Frühstück. Tanja ist eine hochgestellte Mitarbeiterin in der Regierung der Volksrepublik. Wir kennen uns schon seit längerer Zeit. Diese Frau ist mir in Lugansk am meisten ans Herz gewachsen. Sie ist Mitte 30, intelligent, direkt — fast militärisch wirkend — und dennoch als Frau sehr attraktiv.
Tanja macht mir den Vorschlag, die Altstadt von Lugansk zu besichtigen. Bei meinen Besuchen in der Stadt habe ich diesen Teil der Stadt nie wirklich kennenlernen können. Die Altstadt wurde 2014 von der ukrainischen Armee und nationalistischen Freikorps massiv beschossen. 2014 waren die Kämpfe um die Stadt am schlimmsten. Lugansk war damals mehrere Wochen ohne Strom und Wasser. Die Zerstörungen sind dort in der Altstadt noch sehr gut zu sehen, im Gegensatz zum heute wieder sehr gut aufgeräumten und sauberen Stadtzentrum.
Ich fand die Idee von Tanja gut, und wir vereinbarten, dass mich jemand um 14 Uhr abholt und mit mir diese Tour unternimmt. Kurz nach 14 Uhr kam Alexander. Er ist um die 30 Jahre alt. Ich hatte ihn schon ein paarmal flüchtig kennengelernt. Alexander wirkt auf mich immer sympathisch und unkompliziert. Womit er sich hauptsächlich beschäftigt, ist mir bis heute nicht bekannt. Ich habe ihn auch nie danach gefragt.
Unser Ausflug zur Altstadt begann. Die Sonne kam heraus. Es wurde wärmer, wohl über zwanzig Grad.
„Die Trümmer erinnerten mich an den Jugoslawien-Krieg“
In einem kleinen Laden kauften wir Wasser, und nach einem kurzen Fußmarsch befanden wir uns im alten, historischen Lugansk. Die Häuser und alles Andere wirkten auf mich melancholisch. Menschen waren — im Gegensatz zum quirligen und hektischen Zentrum der Stadt — nur wenige zu sehen.
Viele Häuser wirkten etwas verfallen, in einigen schienen keine Menschen mehr zu leben. Alexander war sehr gut vorbereitet. Er schien sich in der Altstadt sehr gut auszukennen und erklärte mir ausführlich die Geschichte der Stadt Lugansk. Ich erfahre, dass der Beschuss der Altstadt durch das ukrainische Militär 2014 sehr stark war und viele Gebäude zerstört wurden. Militärstrategisch sei die Altstadt jedoch nicht wichtig gewesen. An manchen Stellen standen damals nur noch Teile von Häusern. Zerstört wurden auch Schulen und das Haus des Olympischen Komitees. Das, was ich in der Altstadt sah, erinnerte mich an Bilder aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Abchasien.
Wir besuchten einige recht verlassene Parks, die aber dennoch gepflegt wirkten. Wir kamen dabei auch am Lenin-Denkmal vorbei. Es stand einsam und verlassen in einem parkähnlichen Gelände. Ja, Lenin wirkte verlassen. Am Denkmal gab es keine Blumen und nichts, was darauf hinweist, dass dort in letzter Zeit irgendwelche Aktivitäten stattfanden. Es war der 9. Mai, ein wichtiger Tag im postsowjetischen Raum, aber Lenin wirkte vergessen, auch hier in Lugansk. Es tat mir fast ein wenig leid für ihn.
Bild 2: Der_Bahnhof von Lugansk, Foto: Marco Samm 2019.
Endzeitstimmung im Bahnhofsviertel
Am Ende unserer fast vierstündigen Tour kamen wir am Rande der Altstadt zum Bahnhofsgelände der Stadt. Das ganze Gebiet erinnerte mich an Endzeitvisionen aus Hollywood-Filmen.Der Bahnhof und das ganze Gebiet drum herum mit der dazugehörenden Infrastruktur wirkte sehr modern. Aber man sah keine Menschen. Eine gespenstische Atmosphäre, man stelle sich vor: Der Bahnhof von Mannheim mit seinem kompletten Umfeld fast menschenleer! So sah ich den Bahnhof von Lugansk.
Durch die ukrainische Blockade und das vollständige Kappen der Transportverbindungen zur Ukraine ist die Eisenbahn lahmgelegt. Auch Zugverbindungen nach Russland gibt es nicht, da die Eisenbahntrasse Richtung Moskau über ukrainisch kontrolliertes Gebiet verläuft und somit ebenfalls blockiert ist. Es gibt eine einzige Verbindung, und die führt nach Donezk. Diese Verbindung funktioniert aber nicht durchgängig.
Auf einer Teilstrecke gibt es einen “Schienen-Ersatzverkehr“, für den man in einen Bus umsteigen muss, bevor es dann mit dem Zug weitergeht. Die Gesamtstrecke nach Donezk ist rund 200 km lang. Man ist sieben Stunden unterwegs. Das ist nicht wirklich attraktiv. Der Fahrpreis ist dafür sehr günstig. So wird diese Verbindung nur von Menschen genutzt, für die Zeit keine große Rolle spielt, die aber preiswert reisen wollen.
Beim Anblick des Bahnhofs kamen Alexander die Tränen. Er kennt den Bahnhof noch aus der Zeit vor dem Krieg. Damals — so erzählte er — war der Bahnhof der quirligste und lebendigste Ort der Stadt. Jeden Tag waren dort Tausende von Menschen unterwegs. Alexander erzählte mir, dass er sich 2014 — als die ukrainische Luftwaffe die Stadt mit Raketen und Bomben beschoss — darum kümmerte, hunderte Kinder in Kellerräumen in Sicherheit zu bringen.
Ich verspreche wiederzukommen
Mit einem Marschrutka — einem Sammeltaxi — fuhren wir zurück zu meinem Hotel. Alexander verabschiedete sich sehr herzlich von mir. Er sagte, ich sollte unbedingt im Sommer wiederkommen, wenn die Aprikosen reif sind. Ich versprach es ihm.
Mein Hotelzimmer sah aus, als wäre ich in meine Teenager-Zeit zurückversetzt worden. Ich musste dringend aufräumen. Am Abend verabschiedete ich mich von Tanja. Ich sagte zu ihr, dass ich wiederkomme, wenn die Aprikosen reif sind. Sie lachte herzlich. Dann stieg ich emotional berührt ins Auto. Im bin immer gerührt, wenn ich diese Stadt verlassen muss.
Bild 3: Leben zwischen Truemmern in der Altstadt von Lugansk, Foto: Marco Samm 2019.
Warum ich nach Lugansk fuhr
Viele Menschen in Deutschland fragen mich, was mich motiviert, nach Lugansk zu fahren. Es kommen Worte wie: „Das ist doch gefährlich. Mach doch mal richtig Urlaub. Was machst du da? Ich verstehe gar nichts. Bist du in Russland, der Ukraine oder wo ist das eigentlich?“
Wie ich nach Lugansk kam, möchte der Leser wahrscheinlich wissen. Das kam so: Vor einem Jahr rief Andreas an. Er ist Politiker und Mitglied der Partei Die Linke. Ich kannte ihn durch die Medien und sozialen Netzwerke und wusste, dass er sich intensiv mit dem Thema Ukraine beschäftigt. Andreas bot mir an, ihn nach Lugansk und Donezk zu begleiten und mich als Beobachter der Wahlen in den beiden Volksrepubliken zur Verfügung zu stellen. Ich sagte zu. So begann meine Geschichte in Lugansk.
Die Menschen empfingen mich dort sehr herzlich. Außerdem lernte ich unzählige Menschen aus der Gegend und aus den verschiedensten Ländern der Welt kennen, die sich wie ich für die Volksrepublik Lugansk einsetzen. Wenn ich nach Lugansk komme, habe ich das Gefühl, ich komme zu Freunden, deshalb ist diese Stadt für mich so wichtig geworden. Wir geben den Menschen dort eine Stimme im Westen, denn die dort lebenden Menschen werden im Westen sonst nicht gehört. Außer Unterkunft und Verpflegung bekommen wir nichts. Wir opfern unsere Freizeit und unseren Urlaub. Unsere Flüge bezahlen wir selbst.
Ich wohne in Freiburg im Breisgau und habe den Eindruck, dass die Unkenntnis der Menschen in Deutschland über die Volksrepublik Lugansk sehr groß ist. Natürlich wissen viele, dass es dort irgendwie ein „Problem“ gibt. Einige meinen, dass Putin den Osten der Ukraine okkupiert hat, und dass „böse“ Menschen dort mit Maschinenpistolen die Einwohner unterdrücken. Wenn ich den Menschen in Deutschland erzähle, dass es während des seit 2014 andauernden Krieges schon 13.000 Tote gab, können das viele nicht glauben.
Bild 4: Der Bahhof von Lugansk, Foto: Marco Samm 2019.
„Wir wollen okkupiert werden!“
In Lugansk werde ich immer wieder gefragt: „Was denken die Menschen in Deutschland über uns?“ Ich erzähle dann etwas zynisch: „Die denken, Russland und Putin haben Euch okkupiert.“ Als Antwort höre ich dann oft: „Sage den Menschen in Deutschland, dass Russland uns doch endlich „okkupieren“ soll! Vielleicht kann Frau Merkel mit Putin darüber reden, denn dann hätten wir hier viel weniger Probleme und dazu noch Frieden.“
Dass ich mich so für die Länder Osteuropas interessiere, hat auch einen biographischen Grund. Ich bin in Dresden — in der ehemaligen DDR — aufgewachsen. Und ich habe mich immer politisch engagiert, auch schon zu Zeiten der DDR. Denn ich war damals sehr kritisch gegenüber dem System unter Honecker eingestellt und wollte Veränderungen.
Meine Familie mütterlicherseits siedelte 1939 aus Riga — der Hauptstadt Lettlands — nach Deutschland über. Mein Großvater war Baltendeutscher, meine Großmutter Russin. Als Kind war ich viel in der Sowjetunion, da wir dort viele Verwandte hatten. Ich habe russische, lettische, estnische und deutsche Verwandte. Wir haben gemeinsam Feste gefeiert, und es gab damals noch keine Verdrehung der Geschichte und auch keinen fehlgeleiteten Nationalismus, wie er sich später in den baltischen Staaten und jetzt in der Ukraine entwickelt hat.
„Meine Verwandten wurden in den Wäldern von Riga verscharrt“
Mehrere Mitglieder meiner Familie sind im Zweiten Weltkrieg in Lettland von der deutschen Besatzungsmacht und von lettischen Nazis ermordet worden. Sie wurden in Gräben erschossen und in den Wäldern um Riga verscharrt. Der Konflikt in der Ukraine beschäftigt mich auch deshalb so stark, weil mich die falschen Deutungsmuster unserer Mainstream-Medien zum Verzweifeln bringen.